Foto: © Mat Hennek / Deutsche Grammophon
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 5. Juni 2019
Hélène Grimaud, Klavier
von Jürgen Pathy
Es gäbe diese gelungenen Konzerte, erzählt die französische Pianistin Hélène Grimaud, 49, an denen sie neben sich trete, sich selbst sehen und beim Spielen zuhören würde. Das geschähe lediglich bei dreißig bis fünfzig Prozent der Konzerte. Mittwochabend im Großen Saal des Wiener Konzerthauses dürften diese Momente rar gewesen sein.
Woran dies gescheitert ist, lässt Mutmaßungen zu. Letztendlich sei es unerklärlich, ähnle „Schwarzer Magie“, führt die Exklusivkünstlerin der Deutschen Grammophon in einem Interview mit einem großen deutschen Nachrichtenmagazin fort.
Sind es die läutenden Handys, welche die Pianistin mit einem süffisanten Lächeln quittiert, oder ist es der gesundheitliche Zustand der zierlichen Dame, den sie beim Betreten und Verlassen der Bühne bewusst – so scheint es zumindest – in offensichtlicher Manier hustend zur Schau trägt.
Die Bagatelle des russischen Komponisten Valentin Silvestrov, mit der sie den Klavierabend eröffnet, klingt noch hell und voller leuchtender Farben, die Hélène Grimaud als Synästhetikerin übrigens selbst beim Hören von Tönen wahrnimmt.
Auch die traumverlorene Gnosienne von Erik Satie vermag noch das französische Lebensgefühl des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts zu vermitteln. Man fühlt sich versetzt in eine längst vergangene Welt, wandelt verträumt entlang der Pariser Seineufer und kann beinahe wahrhaftig die Nostalgie und Melancholie des Fin de Siècle inhalieren.
Hier entführt Grimaud in eine nicht mehr enden wollende Traumwelt, in der Raum und Zeit für einige Momente stillzustehen scheinen.
Selbst die Chopin’schen Stücke, mögen sie noch so akademisch klingen, mit zu wenig Noblesse vorgetragen sein; selbst diese hochromantischen Wunderwerke versprühen in ihrer eigenartigen, freien, beinahe jazzigen Interpretation noch einen gewissen Pariser Charme.
An der zerrissenen Seelenwelt des Robert Schumann scheitert Grimaud jedoch. Hier ereilt sie dasselbe Schicksal, mit dem bereits einige ihrer Kollegen zu hadern hatten – die fehlende emotionale Tiefe!
Sei es der große Maurizio Pollini, der beinahe auf den Tag genau vor vier Jahren ebenfalls an der Innigkeit dieser bewegenden Liebesgeschichte scheiterte, oder der talentierte junge österreichische Pianist Aaron Pilsan, der überhaupt an allen Fronten einen vergeblichen Kampf focht.
Die Inangriffnahme der Kreisleriana, die als Spiegel Robert Schumanns privater Situation im Jahre 1838 gesehen werden kann, birgt im Konzertsaal eben ein enormes Risiko.
„Zwar ist dieses Stück sehr pianistisch im klassischen Sinne, gut spielbar und leicht zu erlernen“, schildert der deutsche Pianist Herbert Schuch, „allerdings ist es eine große Herausforderung, dieses unbestimmte Sehnsuchtsgefühl, das Schumann aufgrund seiner harmonischen Ideen geschaffen hat, im Konzert wirklich zu durchleben – dazu muss man in der richtigen Stimmung sein!“
Es reicht nicht aus, wie Hélène Grimaud den extremen Satzüberschriften wie „Äußerst bewegt“, „Sehr langsam“ oder „Sehr rasch“ penibel die Treue zu leisten. Es erfordert auch unheimlich viel innere Kraft, diese konträren Stimmungen am Klavier wahrhaftig zu durchleben. Zieht dabei gar die Gesundheit einen Strich durch die Rechnung, ist dieses Vorhaben im Vorhinein zum Scheitern verurteilt.
Dieser schmerzhaften Erkenntnis kann sich auch die erfolgsverwöhnte französische Starpianistin nicht entziehen. Doch frei nach dem Motto „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“, schüttelt die furchtlose Dame, die sich in ihrer Freizeit der Aufzucht und Obsorge gefährdeter Wölfe widmet, drei teils technisch sehr anspruchsvolle Stücke des russischen Komponisten Sergei Rachmaninoff aus dem Ärmel, und erweist somit der tobenden Menge die gebührende Ehre.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 6. Juni 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Valentin Silvestrov
Bagatelle op. 1/1 (2005)
Claude Debussy
Arabesque Nr. 1 E-Dur (1890 ca.)
Valentin Silvestrov
Bagatelle op. 1/2 (2005)
Erik Satie
Quatrième Gnossienne (1890)
Frédéric Chopin
Nocturne e-moll op. 72/1 (1827)
Erik Satie
Première Gnossienne (1890)
En y regardant à deux foi. Danse de travers Nr. 1 (Pièce froides) (1897)
Claude Debussy
La plus que lente. Valse (1910)
Frédéric Chopin
Mazurka a-moll op. 17/4 (1832–1833)
Grande Valse brillante a-moll op. 34/2 (1831)
Claude Debussy
Clair de lune (Suite bergamasque) (1890/1905)
Rêverie (1890)
Erik Satie
Passer. Danse de travers Nr. 2 (Pièce froides) (1897)
Robert Schumann
Kreisleriana. Acht Fantasiestücke für Klavier op. 16 (1838)