Der Vetter aus Dingsda
Stream aus dem Staatstheater am Gärtnerplatz, München
Premiere am 17. Dezember 2020
Fotos: © Christian POGO Zach
von Herman Haller und Rideamus
Nach einem Lustspiel von Max Kempner-Hochstädt
Musik von Eduard Künneke
In reduzierter Orchesterfassung von Andreas Kowalewitz
Online verfügbar bis Sonntag, 20.12.2020, 23 Uhr unter gaertnerplatztheater.de
Das hat gut getan. Weit weg von Corona und Lockdown sich auf dem heimischen Sofa den bonbonbunten Liebeswirrungen aus dem „Vetter von Dingsda“ hinzugeben und einfach viel Spaß dabei zu haben. Das Münchner Gärtnerplatztheater verpflanzt die Revueoperette aus den wilden 1920ern in die ebenso wilden 1960er-Jahre. Inklusive Käseigeln, Miniröcken, auftoupierten Frisuren und Neonfarben. Barbarella, spitzbrüstig im hautengen silbern-glitzernden Catsuit taucht auf für ihre Weltraum-Friedensmission, und die Sänger geben sich gemeinschaftlich einer psychodelischen Pilz- und Kifferparty hin. Das schrille Bühnenbild bietet viel fürs Auge, ein 60er-Bungalow mit geschwungenem Pool und aufblasbarer Palme, Gartenzwerg, ein amerikanischer Schlitten, der durch die Hecke bricht, eine Zauberfee und sogar ein Ufo schweben über die Szene.
Die Story dreht sich um die verwaiste Julia, die gerade mündig wird und damit ihren Vormunden, Onkel und Tante Kuhbrot, entwächst. Sie wartet seit sieben Jahren auf die Rückkehr ihrer Sandkastenliebe Roderich. Roderich ist in die Fremde, nach Dingsda ausgewandert, hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Die beiden haben aber verabredet, jeden Abend in den Mond zu blicken und aneinander zu denken. Was Julia auch tut. Da tauchen zwei Fremde auf. Der erste Fremde entpuppt sich schließlich als August, der Neffe der Kuhbrots. Der zweite ist der ersehnte Roderich. Er hat Julia aber schon lange vergessen und ihre Sandkastenschwärmerei nie ernst genommen. Zum Schluss bekommen sich zwei Paare: Julia – August und Julias Busenfreundin Hannchen – Roderich.
Einige Figuren sind als Karikaturen angelegt: Onkel und Tante Kuhbrot etwa, die beide kugelrund in Fatsuites über die Bühne wuseln, absolvieren in diesen Kostümen sogar ein Fitnesstraining. Sie sorgen sich ausschließlich um ihr eigenes Wohlergehen. Egon von Wildenhagen ist ein schrulliger, verkrampfter Trottel mit Mireille Mathieu-Frisur, der es nicht schafft, sein Blumenbouquet an die Frau zu bringen. Die vier Hauptfiguren dagegen zeigen Ecken und Kanten. Der erste Fremde, also August, ist ein Gigolo, der lügt und betrügt, aber Julia liebt. Maximilian Mayers strahlender Heldentenor ist dafür fast ein bisschen zu perfekt. Aber wunderschön anzuhören. Er bleibt fantastisch in der Schwebe zwischen Halodri und ernstem Charakter, der fordert „Ich will geliebt werden, wie ich bin.“ Julia, die naiv an ihrer Sehnsucht nach ewiger, reiner Liebe festhält, wird von Judith Spießer als reiches Mädchen aus dem goldenen Käfig gespielt. Das berühmte „Strahlender Mond“ legt sie wundervoll sehnsuchtsvoll schmachtend hin. Ihr makelloser Sopran ist allerdings sehr fraulich, ihr fehlt ein wenig das Naive, Spießers Stimme kann man sich wunderbar als tobende Königin der Nacht vorstellen.
Julia Sturzlbaum spielt das Hannchen mit überbordendem humoristischem Talent. Sie hüpft über die Bühne wie die junge Wencke Myrhe. Als ausgebildete Musical-Darstellerin fällt es ihr offensichtlich leicht, die Rolle nicht so ernst zu nehmen sondern mit vergnügter Leichtigkeit zu singen.
Operette ist die gefürchtete Königsdisziplin am Theater: Von den Künstlern wird Spitzenleistung in Sang, Tanz und Sprechtheater erwartet. Da werden Schwächen schnell sichtbar. Das Team vom „Vetter“ meistert das souverän. Die Sänger legen die flippige Choreografie von Adam Cooper mit großer Tanzfreude hin, besonders sehenswert der flott inszenierte Batavia-Fox. Und es gelingt ihnen, die Gassenhauer wie „Onkel und Tante, das sind Verwandte“ oder „Ich bin nur ein armer Wandergesell“ uns so in die Ohren zu pflanzen, dass wir diese Ohrwürmer noch heute vor uns hinsummen.
Das Frauenbild im „Vetter aus Dingsda“ ist sexistisch. Eine Liedzeile wie „Kindchen, du musst nicht so schrecklich viel denken.“, ließe sich so heute sicher nicht mehr ohne berechtigten Widerspruch formulieren. Das trifft in der Inszenierung des jungen Regisseurs Lukas Wachernig auf das ebenso sexistische Frauenbild der 60er-Jahre. Als quasi ausgleichende Gerechtigkeit kommen die Männer etwas trottelig rüber. Wachering zeigt ein großes Herz für die emotionale Tiefe, die trotz allem Klamauks sichtbar ist: es geht ihm um die Sehnsucht nach ewiger Liebe, nach Verbundenheit. Und das tröstet uns bis wir endlich wieder wirklich ins Theater dürfen und den „Vetter aus Dingsda“ hoffentlich ab Ende Februar wieder auf der Bühne live sehen dürfen.
Barbara Hauter, 19. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Dirigat: Andreas Kowalewitz
Regie: Lukas Wachernig
Choreografie: Adam Cooper
Bühne: Judith Leikauf, Karl Fehringer
Kostüme: Dagmar Morell
Licht: Michael Heidinger
Dramaturgie: Michael Alexander Rinz
Julia de Weert: Judith Spießer
Hannchen: Julia Sturzlbaum
Josef Kuhbrot: Erwin Windegger
Wilhelmine Kuhbrot: Dagmar Hellberg
Egon von Wildenhagen: Daniel Gutmann
Erster Fremder: Maximilian Mayer
Zweiter Fremder: Stefan Bischoff
Karl: Peter Neustifter
Hans: Holger Ohlmann
Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz
Interview: Josef E. Köpplinger, Staatsintendant des Staatstheaters am Gärtnerplatz, München
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Ich war begeistert – diese Operette lebt vom Klamauk, der hier sehr geschmackvoll in Szene gesetzt wurde. Judith Spießer, eine sehr vielseitige lyrische Sopranistin mit Koloratur, fand ich fantastisch, sie bildete den richtigen Kontrast zur (ebenfalls exzellent gestalteten) Soubrettenpartie des Hannchens. Auch sonst war jede Rolle punktgenau richtig besetzt!
Lorenz Kerscher