Camilla Nylund © Daniel Dittus
HERZENSLIEDER AUS AMERIKA UND AFRIKA
Camilla Nylund „Great American Songbook“
Angélique Kidjo „African Symphony“
Hamburger Camerata
Dirigent: Christian Reif
Elbphilharmonie, 21. März 2024
von Harald Nicolas Stazol
Was ist nur in den so eleganten Herrn mit den schneeweißen Manschetten einen Platz weiter rechts von mir gefahren? Der Rhythmus ist offenbar direkt in sein Blut! Und auch der andere graumelierte Herr vor mir bricht in Tanzbewegungen aus, so sehr es der knappe Raum seines Platzes in der Elphi erlaubt… und ja, die junge Frau mit dem Elphi-Ausweis um den Hals neben mir, „nun wird es lebensfroh“ sagt sie noch vor der Pause – auch sie swingt plötzlich mit. Zu schweigen vom Mann ganz unten im Parkett ganz rechts, der in den afrikanischen Klängen tatsächlich immer wieder die Arme hochreißt… und der kleine, blonde Steppke hinter mir schnippt schon seit fünf Minuten ekstatisch mit den Fingern – und plötzlich erwische ich mich bei einem zarten Head-Banging, natürlich würdevoll und elphigerecht!
Denn ja, der Saal brodelt. Nein, er kocht fast über. Sowas habe ich wirklich vor Ort noch nie erlebt: Auf den Rängen tanzen die Menschen. Tanzen? Warum?
Weil Angélique Kidjo, die völlig zu Recht berühmteste Stimme des schwarzen Kontinents, gerade „Pata-pata“ gibt, und vorher schon singen wir alle mit, bei „Mama Africa“ der „Afrikanischen Symphonie“, ihr direkt auf den Leib geschrieben, der Schwarzen im seiden-flammend-orangen Kleid und dem azurblauen Turban und doch einigem Schmuck, ich erspähe eine Tansanit Kette samt passenden Ohrringen, da ruft sie, die stimmliche Wucht aus Benin, den Saal auffordernd zum Mitsingen, „das könnt ihr doch besser? Auch als Deutsche?“ – und dann legen wir alle los, und klatschen mit, und singen „Mama Africa“ noch lauter, wer kann der Kidjo und ihrem Anfeuern schon widerstehen – die Elbphilharmonie am Siedepunkt!
„Die African Symphony ist eine Sammlung zeitloser Lieder, die in Afrika und weltweit Eindruck hinterlassen haben – Musik von Legenden wie Miriam Makeba, Fela Kuti und Youssou N’Dour, aber auch von angesagten jungen Künstlern wie Rema und Burna Boy.“ steht im Büchlein, und so kann man wohl von einer „Schwarzen Klassik“ sprechen? Wenn das die political correctnesses erlaubt?
Dass André Heller ein Händchen für tolle Frauen hat, weiß ich, habe ich doch Erika Pluhar, für den „stern“ vor roundabout 20 Jahren auf ihrer Tournee begleitet – aber was er hier und heute Abend auf die Bühne gebracht hat, es spottet jeglicher Beschreibung – aber ich mühe mich nach Kräften!
„Heute ist ein Heute-Heute-Tag“, spricht Heller, das Allround-Genie, gerade zur Einführung im roten Samtsakko, „ein wenig in die Jahre gekommen“ heißt es unten auf dem „Platz der Deutschen Einheit 1“ bei der Raucherpause, „wie wir alle“, aber die paar Sätze, die der Mann mit dem Geschmack für außergewöhnliche Frauen gerade gibt, sind nun wirklich einstimmend-ergreifend, „wir hörten, die ganze Familie, im Radio Salzburg mit Hilde Güden, die Familie saß vor dem Gerät auf dem nie benutzten Ehebett (das sagt er wirklich!), „mir wurde sogar ein kleiner Smoking geschneidert“, und diese Übertragungen waren für Familie samt Zugehfrau eben ein „Heute-Heute Tag“ – und heute Abend kann man den so berühmten Österreicher, der für eine Woche die Philharmonie bespielt, beim Wort nehmen!
Ein „Abend-Abend“-Abend, an einem Donnerstag, der einen aus dem Staunen nicht mehr herauslässt, ich jedenfalls bin total von meinen roten Socken.
Duftend-duftige, aquarellfarbene Rosenblätter auf der Bühne, so beginnt es, in einem Kreis gestreut, ein Mann am Piano, und dann tritt sie auf: Camilla Nylund. So stelle ich mir die Erscheinung der Venus von Milo vor, und in der Berühmt-gerühmten Präsenz im Spotlight scheinen im ausverkauften Haus alle zusammenzuschmelzen in ihre Richtung, ganz ins Zentrum, und, Wunder über Wunder, währen die Grande Dame uns Dispens erteilt, „Sie dürfen gerne nach jedem Song klatschen“ – da kommt man aus dem Klatschen also gar nicht mehr heraus.
Wer ihre „Fünf Lieder“ von Sibelius kennt, oder ihre Wagner-Einspielungen, der erwartet Höchstes – aber gerade übertrifft sich die Sopranistin selbst.
Manchmal beginnen große Lieben mit einer Kleinigkeit. Aber wie man diese Finnin, ganz in Schwarz, brillantbestickt, funkelnd, wie ihre so einzigartige Stimme, nicht in Liebe verfallen kann, beim „Great American Songbook“, es ist schlicht unmöglich. Liebe auf den ersten Ton, könnte man sagen, da schwingt sie sich schon empor bei Gershwin, bei „The man I love“, sie hält eine Hand auf dem Steinway (wo ist bloß mein Notizheft? Vor Begeisterung im Apartment verschwunden?) – und ja, man denkt Act after Act, „Das ist mein Lieblingslied, nein das ist mein favourite song, nein der, nein jener…“
Und wie sich Camilla Nylund, „Hellers Lieblingssängerin“, entfaltet, sich nach oben, ganz oben rankend, wie eine Rosenknospe, um ganz oben, schwerelos, beim dreigestrichenen C, aufzublühen, das ist schon ein Naturereignis. Es ist, als sänge eine Fee. 2000 Menschen sind auf einen Schlag verzaubert!
Das Ganze untermalt, höchst erstaunlich, von der „Hamburger Camerata“, einem Orchester, das heute zwischen zwei Kontinenten ja fast ein Kontrastprogramm bietet, von den Swingin’ States zu einem Afrika, mit dem Angélique Kidio auch das „Diverse“ feiern will: „Stellt euch vor, wir sähen alle gleich aus: Schrecklich!“ Doch keine Sorge – zum ersten Male (wann wieder?) ertönt nicht nur absolut überwältigender Applaus, nein, eine Frauenstimme erhebt sich zu dem „ULULULULU“, das zur Folklore gehört, und das nachzusingen ich jedem empfehlen kann, als Ausdruck des Glückes – nur die Warnung vorweg: Einfach ist es nicht!
Zwei Kontinente, zwei Epochen, zwei Sängerinnen, wie sie unterschiedlicher und gegensätzlicher nicht sein könnten.
Und das in Hamburg!
Jenseits von Afrika.
Fehlt nur noch „The man I love“…
Harald Nicolas Stazol, 22. März 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
HAMBURGER CAMERATA, Joanna Kamenarska, Delyana Lazarova Elbphilharmonie, 2. März 2024