Richard Wagner kehrt in die Zoppoter Waldoper zurück

I Baltic Opera Festival in Gdańsk und Sopot von 14. bis 17. Juli 2023  klassik-begeistert.de, 19. Juli 2023

„Der fliegende Holländer“ in der Waldoper in Sopot am 15. Juli 2023, der Anfang des ersten Aktes © Baltic Opera Festival, Krzysztof Mystkowski KFP


I Baltic Opera Festival in Gdańsk und Sopot von 14. bis 17. Juli 2023

Operette von Karol Szymanowski „Lotterie für Ehemänner oder Verlobte Nr. 69″

Richard Wagner  „Der fliegende Holländer“  

von Jolanta Łada-Zielke

Wagners Comeback nach Sopot ist zwar nicht voll Pomp und Prunk, aber im musikalischen Sinne erfolgreich gewesen. Das erste Baltic Opera Festival in Danzig und Sopot hat zwei sehr unterschiedliche musikalische Produktionen präsentiert: die Operette von Karol Szymanowski „Lotterie für Ehemänner oder Verlobte Nr. 69″ und „Der fliegende Holländer“ von Richard Wagner. Vielleicht ist es die Vielfalt und Zusammenstellung der Gegensätze, die dieses Event auszeichnen werden? Ich gebe zu, dass es in der Tat ein großer Schritt ist, die Werke Richard Wagners nach 83 Jahren wieder auf die Bühne der Zoppoter Waldoper zu bringen. Dies ist aber nur der erste Schritt.

Die Organisatoren haben für die Werbung der Veranstaltung an der Ostseeküste gut gesorgt. Einige Stunden vor der Eröffnung des Festivals verteilten junge Leute Flugblätter in den Straßen von Danzig. Die lokalen Radiosender kündigten das Festival mit einem Mitschnitt aus der Ouvertüre von „Der fliegende Holländer“ an. Zu Beginn hat jedoch eine leichtere Muse die Zuschauer verwöhnt.

Szymanowskis Operette war wie eine musikalische Pralinenschachtel

„Lotterie für Ehemänner, oder der Verlobte Nr. 69“ von Karol Szymanowski zur Eröffnung von Baltic Opera Festival am 14. Juli 2023 © Baltic Opera Festival, Krzysztof Mystkowski KFP

Die Inszenierung von Karol Szymanowskis „Lotterie für Ehemänner…“ von dem Ensemble der Krakauer Oper, in der Regie von Marcin Sławiński und unter der musikalischen Leitung von Piotr Sułkowski, hat sich zur Eröffnung des Festivals als gute Wahl erwiesen. Ich hatte befürchtet, dass das Werk, obwohl nach dem Wiener Vorbild komponiert, zu stark in der polnischen Kultur verwurzelt und damit für ausländische Gäste unverständlich sei. Ich war angenehm überrascht. Die Handlung spielt in den Vereinigten Staaten, und das Thema – die Suche nach einem richtigen Lebenspartner – ist nach wie vor aktuell. Wojciech Tomczyk hat das hundert Jahre alte Libretto von Julian Krzewiński-Maszyński mit zeitgenössischen Dialogen angereichert. Dies machte die Vorstellung nicht nur für Operettenliebhaber spannend, sondern auch für Verehrer von Sherlock Holmes, Hercule Poirot und Forrest Gump. Die Charaktere zitieren dessen Spruch: „Das Leben ist wie eine Pralinenschachtel“.

Die gesamte Botschaft des Stücks ist feministisch. Die Mutter und die Tante der Protagonistin Sara Troodwood wollen unbedingt, dass sie heiratet, weil sie bereits 22 ist. Beide Damen versuchen, ihr in einer Lotterie einen Ehemann zu verschaffen. Es stellt sich als raffinierte Masche heraus. Doch Sara beschließt, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und nicht nur den ersehnten Lebenspartner zu finden, sondern auch mit fünf Freundinnen das Geld für die Mitgift durch einen Bankdiebstahl zu beschaffen. Obwohl das Ende der Geschichte leicht vorhersehbar ist, gibt es mittlerweile ein paar überraschende und humorvolle Wendungen, so dass die Zuschauer sich nicht langweilen. Den Text hat man in polnischer und englischer Sprache zum Mitlesen projiziert.

Auch musikalisch zeigten sich die Künstler aus Krakau in der Opera Bałtycka von der Schokoladenseite. Neben erfahrenen Sängern wie Magdalena Barylak und Tomasz Kuk traten ebenfalls junge Adepten und Absolventen der Opernakademie von Teatr Wielki in Warschau auf. Sie sind wie „musikalische Pralinen“ mit unterschiedlichen Füllungen, aber alle gleich genussvoll. Es gibt leider nicht genug Platz, über jeden einzelnen zu schreiben. Nun möchte ich aber den Countertenor Jakub Foltak auszeichnen, der seine stimmliche Brillanz und sängerische Präzision in einer einzigen, aber sehr beeindruckenden Arie zeigte. Zukünftig würde ich ihn gerne in der Besetzung des Bayreuth Baroque Festivals sehen.

Hercules Poirot (Jakub Foltak) und Sherlock Holmes (Piotr Maciejowski) entlarven den Betrug, den die Lotterie für Ehemänner darstellt. © Baltic Opera Festival, Krzysztof Mystkowski KFP

All dies geschah unter dem Dirigat des künstlerischen Leiters der Krakauer Oper, Piotr Sułkowski, der den humorvollen Fragmenten Energie und Kraft und den lyrischen Teilen Zärtlichkeit und Wärme verlieh. Diese Inszenierung könnte man in dieser Besetzung weltweit aufführen. Ich würde nur empfehlen, den Text des Librettos ins Deutsche zu übersetzen, da dies die Muttersprache der Operette ist.


Weißer Holländer aus dem dunklen Wald findet keine Erlösung durch die Liebe

Andrzej Dobber als der Holländer © Baltic Opera Festival, Krzysztof Mystkowski KFP

5. Juli 2023, 21.10 Uhr. Die Aufführung beginnt mit leichter Verspätung, da die Gäste immer noch eintreffen. Hinter dem Pult steht Maestro Marek Janowski. Älteren deutschen Musikliebhabern gefällt es, dass während der Ouvertüre nichts passiert, so dass sie in Ruhe zuhören und sich einstimmen können. Der Vorhang ist ein gespanntes weißes Segel mit dem Festival-Logo, das die Matrosen zu Beginn der ersten Szene aufrollen. Dahinter sieht man das Bühnenbild von Boris Kudlička: das Innere eines Schiffswracks. Die Matrosen machen es am Ufer fest und dann drängen sie sich mit Daland in ein rundes Becken. Eine dunkle Wand des echten Waldes im Hintergrund, sowie das wohlüberlegte Lichtspiel versetzt den Zuschauer in eine unheimliche Stimmung.

Der Holländer taucht mit einer Gruppe von Tänzern aus dem Wald auf. Sein weißer, eleganter Frack kontrastiert mit der ärmlichen Kleidung der Matrosen und Spinnerinnen. Ein mysteriöser und düsterer, aber reicher Ankömmling taucht also unter den Menschen auf, die offensichtlich kaum über die Runden kommen und ihre Hoffnung verloren haben. Die Matrosen faulenzen, die Spinnerinnen simulieren nur die Arbeit in Marys Anwesenheit. Senta wirkt dank ihrer Entschlossenheit als die authentischste von ihnen. Das Bild des Holländers ist hier eine lebensgroße, weiße Stoffpuppe.

Szene aus dem dritten Akt© Baltic Opera Festival, Krzysztof Mystkowski KFP

Am Ende schneidet sich Senta mit einem Messer die Kehle durch und erstarrt wie eine Statue, gestützt von drei Tänzern aus dem Gefolge des Holländers. Auf diese Weise nehmen sie sie in ihre Gesellschaft auf, aber für mich hätte ein solches Finale besser zu „Lohengrin“ gepasst. Ich vermisse, dass die Regisseure die Erlösung des Holländers durch Sentas Liebe nicht betonen. Manche Zuschauer, die das Libretto der Oper im Programmheft gelesen haben, sind der gleichen Meinung. „Hat sie ihn eigentlich befreit, oder ist er für immer verdammt?“, überlegen sie.

Das Orchester der Opera Bałtycka unter dem Dirigentenstock von Marek Janowski bringt alle dynamischen Nuancen zur Geltung, indem es die Geräusche des Sturms mit zündender Kraft und die lyrischen Fragmente mit viel Wärme umreißt. Was die gesangliche Seite betrifft, gibt es bessere und schlechtere Momente. Der beste ist Dominik Sutowicz als Steuermann. Er verbindet die Schönheit seiner Tenorstimme mit der Präzision der Aufführung. Jede Phrase ist bei ihm gut durchdacht, jedes dynamische Ausdrucksmittel gekonnt eingesetzt – vom zarten Piano bis zum dramatischen Forte. Mit seiner Interpretation der Arie „Mit Gewitter und Sturm aus fernem Meer“ hat er sich alle Herzen erobert.

Andrzej Dobber, der die Titelrolle singt, ist kurz vor dem Festival erkrankt, und Tomasz Konieczny hat ihn bei der Generalprobe vertreten. Dobber tritt jedoch bei der Premiere am 15. Juli auf, und sein frühes Unwohlsein ist nicht bemerkbar. Nur im ersten Akt „verschwindet“ er an einer Stelle auf den tiefen Tönen, aber dann verzaubert er das Publikum mit seiner tiefen und voluminösen Bassstimme, die er wohlüberlegt dosiert. Seine szenische Partnerin Ricarda Merbeth ist bereits mehrfach als Senta aufgetreten. In der Waldoper Sopot zeigt sie ihre ganze gesangliche Kunst, obwohl sie in der Brustlage manchmal zu scharf klingt. Ihre hohen Töne sind voll der starken dramatischen Ausdruckskraft.

Senta (Ricarda Merbeth) und Mary (Małgorzata Walewska) © Baltic Opera Festival, Krzysztof Mystkowski KFP

Die Mezzosopranistin Małgorzata Walewska beeindruckt als Mary mit ihrer schönen, dunklen Stimmfarbe und sicheren Höhe, sowie mit der scharf akzentuierenden Aussprache. Der Wagner-Veteran Franz Hawlata singt mit überlegter Sparsamkeit und verleiht seinem Charakter etwas Humor. Sein Daland erscheint als kränklicher alter Mann im Rollstuhl, dem die Vision des Reichtums von seinem zukünftigen Schwiegersohns Holländer Kraft und Vitalität zurückgibt. Dieses Vermögen symbolisiert ein riesiger Goldbarren, den die gesamte Besatzung von Dalands Schiff nicht heben kann.

Stefan Vinke (Eric) singt mit zu viel Druck, seine Stimme klingt hart und rau. Anderseits entspricht das dem Charakter seiner Figur: ein armer Jäger, dessen Liebe zu Senta einfach, roh und konkret ist. Vinke verteilt die Kräfte in der Cavatine im dritten Akt ungleichmäßig und wird nach einem glanzvollen Höhepunkt deutlich schwächer. Während Eric von schönen, vergangenen Momenten mit Senta erzählt, zieht er seine Kleidung bis zur Hose aus, unter der weiße Boxershorts zum Vorschein kommen. Das Publikum lacht: ein tragischer Held verwandelt sich in einen gutherzigen Narren.

Die Diktion sowohl der deutschen als auch der polnischen Solisten ist zufriedenstellend, was man vom Chor leider nicht sagen kann. Die Damen zu Beginn des zweiten Aktes sind allerdings besser zu verstehen als die Herren im dritten. Der Text vom Matrosenchor „Steuermann! Lass die Wacht“ ist ein Zungenbrecher, aber in der Aufführung vom Chor der Opera Bałtycka hört man deutlich Lücken, als ob die Sänger die Worte vergessen hätten. Außerdem fallen sie aus dem Rhythmus. Zumindest ist es bei der ersten Aufführung am 15. Juli so gelaufen, ich hoffe, dass man es bei der zweiten am 17. Juli verbessert hat. Der Chor sollte aber an der deutschen Aussprache arbeiten. Zwar ist das dem polnischen Publikum egal, weil sie den Text in ihrer Sprache und in Englisch auf zwei Bildschirmen bekommen. Den deutschen Zuschauern ist der sprachliche Unterschied bewusst und sie trösten mich, dass italienische und französische Sänger damit gleiche Probleme haben. Die polnische und die deutsche Sprache verfügen jedoch über eine vergleichbare Ressource an Konsonanten, also kann der Festivalchor es besser machen. Ich denke, dass es die Zeit und die Mühe wert ist, wenn die Waldoper wieder Wagnerianer aus der ganzen Welt anziehen soll.

Und noch etwas Wichtiges: man soll das polnische Publikum auf die Rezeption solcher Stücke besser vorbereiten. Idealerweise sollte jemand vor der Aufführung einen kurzen Vortrag halten. Richard Wagner kritisierte die Prunkhaftigkeit der italienischen Arien, die seiner Meinung nach nur die Stimme und die Gesangstechnik des Sängers zeigten, aber keine Botschaft vermittelten. Deshalb schrieb er seine Werke durchgängig, um dem Publikum keine Möglichkeit zu geben, einzelne Sätze zu beklatschen. Die Besucher der Waldoper applaudierten sehr herzlich erst der Ouvertüre und dann dem Duett von Senta und dem Holländer im zweiten Akt. Dies ist bestimmt nett, entspricht aber nicht der Intention des Bayreuther Meisters.

Zugegeben, „Der fliegende Holländer“ ist sein Frühwerk, in dem erst die Keime des musikalischen Dramas und der „unendlichen Melodie“ erscheinen. Außerdem, wie Tomasz Konieczny in seiner Eröffnungsrede bemerkt hat, spielt man Wagner in Polen zu selten. Wenn aber das Baltic Opera Festival seine weiteren Werke aufführen soll, wäre es sinnvoll, das Publikum mit den Absichten des Komponisten vertraut zu machen. Andererseits zeigt solche Reaktion der Zuschauer, dass die Polen Wagners Schaffen nicht verteufeln und es trotz der historischen Belastung gut annehmen können. Der große Verdienst dafür gebührt Konieczny.

Für den Anfang war es also nicht schlecht, obwohl es in manchem Detail besser sein könnte. Das Baltic Opera Festival hat jedoch eine große Zukunft vor sich, und ich glaube, dass sein Programmangebot von Jahr zu Jahr bunter, interessanter und anspruchsvoller sein wird.

Jolanta Łada-Zielke, 19. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anläßlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.

Die Mitwirkenden von „Der fliegender Holländer“ im Baltic Opera Festival:

Musikalische Leitung: Marek Janowski
Inszenierungskonzept und künstlerische Betreuung: Tomasz Konieczny
Regie: Łukasz Witt-Michałowski, Barbara Wiśniewska
Bühnenbildkonzept: Boris Kudlička / Ausführung: Natalia Kitamikado
Kostüme: Dorothée Roqueplo
Choreographie: Jacek Przybyłowicz
Licht: Bogumił Palewicz

Daland: Franz Havlata
Senta: Richarda Merbeth
Eric: Stefan Vinke
Mary: Małgorzata Walewska
Steuermann: Dominik Sutowicz
Holländer: Andrzej Dobber

Ladas Klassikwelt 108: Das „Bayreuth des Nordens“ lebt als „Baltic Opera Festival“ wieder auf klassik-begeistert.de, 6. Mai 2023

Pathys Stehplatz (31) – Baltic Opera Festival: Wagners „Holländer“ wirft den Anker 14. bis 17. Juli 2023

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