Foto: (RW), Xue Lin (Odette), Félix Paquet (Der Mann im Schatten), Christopher Evans (Der König), Charlotte Larzelere (Prinzessin Natalia, seine Verlobte)
Christopher Evans sieht sein aggressives Verhalten, wie die Verletzung, die er seiner Mutter antat, begreift aber nicht mehr, dass er es war, der damit den finalen Eklat auslöste. Evans zieht sich in seine Depressionsblase zurück und erlebt den Mann im Schatten nicht mehr als Feind, sondern als tröstenden Freund. Am Ende gibt er sich ihm ganz hin: Christopher Evans und Félix Paquet als Mann im Schatten verschmelzen in einem grandios getanzten Todes-Pas de deux.
Illusionen – wie Schwanensee
Ballett von John Neumeier
Musik von Peter I. Tschaikowsky
Hamburg Ballett, die zweite Besetzung
Staatsoper Hamburg, 16. Februar 2023
von Dr. Ralf Wegner
Jede Aufführung ist anders, und das liegt nicht nur an tänzerisch-technisch unterschiedlichen Fähigkeiten der alternierenden Besetzungen. Vielmehr lassen Neumeiers Choreographien darstellerische Variationen zu, die von den Tänzerinnen und Tänzern auch mit innerer Hingabe auszufüllen sind. Das liegt nicht jedem und jeder, wird aber bei Neumeiers Balletterziehung stärker berücksichtigt als offenbar anderswo. Wenn diese Begabung, das Innere nach außen zu kehren und tänzerisch zu übersetzen nicht so stark betont wird, fehlt manchen Aufführungen des Hamburger Ballettmeisters bei anderen Ballettensembles zwar nicht die technisch-tänzerische Brillanz, aber die psychologische Durchdringung der jeweiligen Rollen.
Wahrscheinlich ist das auch einer der Gründe, warum sich auswärtige Spitzentänzerinnen und -tänzer bei Gastspielen im Hamburger Ensemble oft so schwer tun. Insoweit sind Neumeiers Ballette etwas Besonderes; nicht nur wegen seiner choreographischen Sprache, sondern auch angesichts der darstellerischen Anforderungen an jedes einzelne Ensemblemitglied.
Das macht die wiederholte Sicht auf Neumeiers Stücke auch so interessant, es gibt immer etwas Neues zu entdecken, vieles spielt sich im Hintergrund oder an der Seite ab, während die Protagonisten die Vorderbühne betanzen. Diese, man kann es auch so sagen, Spielfreude, fängt schon bei den Kleinsten an, die im ersten Akt, dem Richtfest des Schlosses Neuschwanstein, aufs fürsorglichste von Niurka Moredo und Konstantin Tselikov geleitet wurden.
Christopher Evans tanzte gestern den Part des Königs. Er legte die Rolle ganz anders an als Alexandr Trusch fünf Tage zuvor. Von Anfang an zeigte sich Evans schwermütig, fast somnambul, wie in einer Depressionsblase gefangen. Er variiert die Hauptrolle als depressiver, der Welt schon abhanden gekommener König Ludwig II. von Bayern. Nur Erinnerungen, Neumeier nennt seine Choreographie ja auch Illusionen wie Schwanensee, sind ihm noch zugänglich. Evans sieht sein aggressives Verhalten, wie die Verletzung, die er seiner Mutter (Yun-Su Park) antat, begreift aber kaum noch, das er es war, der den finalen Eklat auslöste. Evans zieht sich in seine Blase zurück und erlebt den Mann im Schatten (Félix Paquet) nicht mehr als Feind, sondern als tröstenden Freund. Am Ende gibt er sich ihm ganz hin, Evans und Paquet verschmelzen in einem grandios getanzten Todes-Pas de deux.
Gespannt war man auf den Auftritt des Ensemblemitglieds Charlotte Larzelere als Prinzessin Natalia. Sie schlug sich bravourös. Anfangs erinnerte sie eher an eine ihrer Pflicht nachkommenden Adelstochter, die sich dem König eher schüchtern annähert. Erst später ließ sie ein wenig Hoffnung durchblicken, blieb sich aber immer bewusst, dass ihr Werben wenig Aussicht auf Erfolg hat. Im Grand Pas de deux zeigte sie unter Jubel des Publikums die geforderten, gepeitscht gedrehten Fouettés. Alessandro Frola und Ana Torrequebrada waren als Graf Alexander und Prinzessin Claire ein liebreizendes und tadellos tanzendes Paar. Zum Gelingen der Aufführung trugen auch Xue Lin als Odette, Yun-Su Park (die auch die Königinmutter tanzte) und Ida Stempelmann als die Großen Schwäne sowie Louis Musin als Sprecher der Handwerker und Karen Azatyan als Prinz Leopold bei. In der Quadrille im ersten Akt beeindruckten Yaiza Coll, Emilie Mazon und Priscilla Tselikova, als quirliger Schmetterling nahm im dritten Akt Olivia Betteridge für sich ein.
Während der Zwischenbeifall, abgesehen von den Fouettés, eher gemäßigt blieb, entlud sich großer Jubel erst nach Fallen des Vorhangs; das galt wohl auch noch dem tiefen Eindruck, den Christopher Evans und Félix Paquet mit dem letzten Pas de deux bei den Zuschauerinnen und Zuschauern hinterlassen hatte. Zahlreiche Blumensträuße flogen auf die Bühne, so für Charlotte Larzelere und Christopher Evans und Alessandro Frola sowie Ana Torrequebrada.
Dr. Ralf Wegner, 17. Februar 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Illusionen wie Schwanensee, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 11. Februar 2023