Madoka Sugai (Prinzessin Natalia) und Alexandr Trusch (Der König) nehmen den Jubel des Publikums entgegen (Foto: RW)
Neumeiers Schwanensee- Choreographie greift auf klassisches Vokabular, hier von Lew Iwanow und Marius Petipa, zurück, ebenso wie in seinen anderen klassisch orientieren Balletten Giselle, Dornröschen oder Nussknacker. Nur letzteres Ballett wurde von dem neuen Intendanten Demis Volpi in seine erste Hamburger Saison übernommen. Das ist schade. Denn brauchen die Tänzerinnen und Tänzer nicht die ständige Auseinandersetzung mit den klassischen Stücken, um auch langfristig das hohe tänzerische Niveau zu halten?
Illusionen – wie Schwanensee
Ballett von John Neumeier
mit Choreographien nach Lew Iwanow und Marius Petipa
Bühnenbild und Kostüme: Jürgen Rose
Musik: Peter Tschaikowsky
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Musikalische Leitung: Nathan Brock, Solovioline: Daniel Cho
182. Vorstellung seit der Premiere am 2. Mai 1976
Staatsoper Hamburg, Hamburg Ballett, letzte Vorstellung, 7. Juni 2024
von Dr. Ralf Wegner
Vorerst war dies der letzte Schwanensee, und es war eine Freude zu sehen, wie gut getanzt wurde. Der weiße Schwanenakt geriet perfekt, mit einer überzeugenden Anna Laudere als Odette. Grazie und Anmut zeichneten ihren Tanz aus, mit ihrer Aura betörte sie nicht nur das Publikum, sondern auch den König (Alexandr Trusch), den sie erst erstaunt, später mit zunehmendem Interesse an sich zu binden suchte.
Nicht nur die 16 Gruppen-Schwäne tanzten ohne Fehl und Tadel, ebenso die vier Kleinen Schwäne (Olivia Betteridge, Lormaigne Bockmühl, Greta Jörgens, Ana Torrequebrada) sowie Charlotte Larzelere und Yun-Su Park als Große Schwäne.
Schon der erste Akt, das Richtfest von Schloss Neuschwanstein, überzeugte. Der 21-jährige Gruppentänzer Joāo Santana hatte zwar nicht unbedingt die Statur eines Sprechers der Zimmerleute, machte das aber mit Spielfreude und hohen Drehsprüngen wett. Mit den Kindern, nicht tanzenden Lakaien und Staatsbeamten befanden sich fast 60 Personen auf der Bühne. Manches sah man, vieles auch nicht. Das macht jedes Wiedersehen dieses Balletts interessant, ständig entdeckt man Neues, selbst nach der 22. Aufführung dieses Stücks. Und immer wieder fasziniert das Ende. Wenn sich das blaue Tuch auf den König und den Mann im Schatten (Jacopo Bellussi) senkt.
Bellussi überzeugte diesmal nicht nur darstellerisch, sondern auch technisch-tänzerisch mit lange nicht gesehener Sprungkraft. Alexandr Trusch gab sich ihm hin, nicht mit Gleichmut, sondern fast wie Don Giovanni den Tod suchend und akzeptierend. Trusch’ Interpretation des Königs hatte noch viel von seinem berserkerhaft angelegten Odysseus in Neumeiers Odyssee-Ballett. Schon beim Richtfest ließ er seinen Aggressionen freien Lauf, ging einem der Staatsbeamten sogar an die Gurgel. Es hätte nicht gewundert, wenn man ihn schon wegen des Verhaltens auf dem Richtfest eingesperrt hätte. Eine subtile oder ambivalente Interpretation, zu der Trusch auch fähig ist, war nicht sein Ding. Er wirkte wie jemand, bei dem sich ein Hirntumor entwickelt, verbunden mit zeitweiligen unbeherrschbaren Wutausbrüchen. Der Mann im Schatten wäre dann als Tod zu deuten, dem sich der König nach aussichtslosem Kampf (großartiger Schluss-Pas de deux beider Tänzer) entgegenwirft.
Madoka Sugai war Natalie. Auch sie ist keine Schüchterne, sondern berechnet ihre Chancen, den König an sich zu binden, mit Verstand, aber auch Einfühlungsvermögen. Tänzerisch ist sie großartig, ihre Fouettés im Grand Pas de deux exzellent gepeitscht und immer wieder auf der Spitze mehrfach gedreht. Trusch und Sugai sind ein schön anzusehendes Paar, und zudem tänzerisch bei den Pas deux am Ende des ersten und bei ihrem Besuch in der Zelle des Königs im dritten Akt perfekt aufeinander abgestimmt.
Es gibt noch ein zweites Paar: Graf Alexander (Matias Oberlin), der Freund des Königs, und Prinzessin Claire, dessen Braut (Xue Lin). Wie immer tanzte Xue Lin ausgezeichnet, diesmal huschte sogar ab und an ein freundliches Lächeln über ihr Gesicht. Beide waren Teil der Quadrille. Zusammen mit der stets strahlenden Emilie Mazon, ihrem Partner Lizhong Wang, Ana Torrequebrada und Francesco Cortese sowie Priscilla Tselikova und Emiliano Torres bildeten sie ein famos auftanzendes Oktett. Vier weitere Tänzerinnen und Tänzer wären zu nennen: Hayley Page als würdevolle Königinmutter, Pepijn Geldermann als ihr Handreicher Prinz Leopold sowie Florian Pohl als nur immer andeutungsweise tänzerisch zum Zuge kommender Prinz Siegfried, außerdem Olivia Betteridge als fröhlicher, dem Jäger (Jacopo Bellussi) stets durch die Finger schlüpfender Schmetterling.
Ob es nur gestern angesichts des Endes der Neumeier-Ära war und bei vorhergehenden Vorstellungen von mir die Qualität des Dargebotenen als selbstverständlich hingenommen wurde, will ich nicht weiter differenzieren. Auf jeden Fall zeigte die gestrige Vorstellung, zu welch hohem darstellerischen und technisch-tänzerischem Niveau das Hamburger Ballett in der Breite und in der Höhe fähig ist.
Das Ballett Schwanensee hat vielerlei tänzerische Schwierigkeiten, so beim auf Lew Iwanow zurückzuführenden Schwanenakt und dem Grand Pas de deux (Petipa, Iwanow). Neumeiers Schwanensee-Choreographie greift auf dieses klassische Vokabular zurück. Ebenso wie in seinen anderen klassisch orientieren Balletten Giselle (Coralli, Perrot, Petipa), Dornröschen (Petipa) und Nussknacker. Nur letzteres Ballett wurde von dem neuen Intendanten Demis Volpi in seine erste Hamburger Saison übernommen. Das ist schade. Denn brauchen die Tänzerinnen und Tänzer nicht die ständige Auseinandersetzung mit den klassischen Stücken, um auch langfristig das hohe tänzerische Niveau zu halten?
Das ausverkaufte Haus zollte dem Ensemble am Ende den der Leistung angemessenen Jubel. Zahlreiche Blumensträuße flogen auf die Bühne.
Dr. Ralf Wegner, 7. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Illusionen – wie Schwanensee, Ballett von John Neumeier Staatsoper Hamburg, 2. Februar 2024
Programm des Hamburger Balletts in der Saison 2024/25 Staatsoper Hamburg, 18. März 2024