Portraitphoto Judith Lebiez: © Jan Philip Welchering
Zumindest klang dieser bemerkenswerte Abend in seliger Sanftheit aus, der Applaus hingegen war begeistert und langanhaltend. Man mag sehr hoffen, dass Judith Lebiez weitere solcher Abende gestalten wird. In Ensemble und Opernstudio des Hauses muss man nicht lange nach geeigneten Talenten suchen.
„Ins stille Land“
Laila Salome Fischer, Mezzosopran
Inessa Tsepkova, Klavier
Judith Lebiez, Konzept und szenische Einrichtung
„Musiktheaterwerkstatt“, Theater Lübeck, 1. Dezember 2022
von Dr. Andreas Ströbl
Was für eine Kraft! Was für ein Ausdruck! Was für ein Facettenreichtum! Es war zwar nur eine Stunde, in der die Mezzosopranistin Laila Salome Fischer das ausbreitete, was eine empfindsame Sängerin aus Arien und Liedern von Monteverdi bis Mahler herausholen kann, aber diese leidenschaftlichen 60 Minuten erreichten die tiefen Gründe der Seele.
„Musiktheaterwerkstatt“ heißt das neue Format des Theater Lübeck, dessen erste Veranstaltung mit dem Titel „Ins stille Land“ sich dem Themenkomplex Trennung, Verlust und Abschied widmete, aber dieser Abend hatte mehr als „nur“ Werkstattcharakter. Das Studio des Hauses vermittelt von seinen bescheidenen Dimensionen her eine behagliche Intimität und dem entsprach die spärliche Beleuchtung von Hans Christian Blail mit nur wenigen sanften Lampen.
Bereits der erste Ton der Aria der Ottavia, „Addio Roma“, aus Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“, ein klagend-durchdringendes, mehrfach wiederholtes „A“, das sich aus dem Halbdunkel in den Raum erhob, vermittelte eine Tiefe der Empfindung in einer schmerzhaften Abschiedsszene, mit der die Sängerin sofort ihr Publikum einfing – und es nicht mehr losließ.
Um Schmerz und Tränen ging es auch im „Lamento“ aus Barbara Strozzis „Lagrime mie“ und es war ein genialer Einfall, an der Kurbel einer Kaffeemühle auf dem kärglich gedeckten Tisch mit zwei Tassen in der Mitte der Bühne zu drehen, um möglicherweise aufkommendes Pathos zu brechen. Für die bescheidene aber wirkungsvolle Ausstattung hatte Carlotta Oetter gesorgt und Laila Salome Fischer spielte mit den Requisiten, dabei einem Stuhl, einem Koffer, einer Figurine und verschiedenen Kleidungsstücken wie im Dialog mit abwesenden Menschen, die zu fern sind, um ihre Klage, ihre Wut, ihre Trauer wirklich hören zu können. Die meisten der vorgetragenen Werke begleitete die Pianistin Inessa Tsepkova und fand stets den passend sensiblen, eher zurückhaltenden Ton.
Gerade die Barockstücke mit ihren Koloraturen und den artifiziell eingesetzten Tremoli eignen sich für den Ausdruck seelischen Schmerzes; hier steht weniger die Virtuosität als die Unmittelbarkeit des inneren Zustands im Zentrum. Wie die Sängerin souverän mit der Dynamik spielte, war beeindruckend; trotz des opernhaften Volumens der Stücke schaffte sie immer wieder eine Reduktion auf das mitleidheischende Kleine, einsam in sich Gekehrte. Die Arie „Augellin“ an einen kleinen Vogel von Stefano Landi begleitete sie mit einer Ukulele und machte so eine Canzone daraus, die bei aller Traurigkeit noch über eine gewisse Leichtigkeit verfügte.
Aus drei Arien aus den Händel-Opern „Alcina“, „Ariodante“ und „Hercules“ entwand sich eine Unbedingtheit und Dringlichkeit der Notwendigkeit, die seelische Verletzung zu äußern, bis hin zur Wut. Die Figurine geriet zum Adressaten dieser Seelennot, wie ein abwesender Geliebter, der sich seiner Verantwortung und jeglicher Kommunikation entzogen hat. Es war phantastisch, in welchen gewundenen und gekrümmten Körperhaltungen die Mezzosopranistin jeden Ton klar und kraftvoll in das Halbdunkel dringen ließ.
Eine Suizidsituation am Ende solcher Einsamkeit wurde nur angedeutet, indem die Sängerin eine Handvoll Tabletten mit einem Schluck Wein herunterspülte. Ein riesiger Teddy, aus dem Koffer gezogen, vermochte nur bedingt Trost zu spenden. Regression, hier eine Suche nach der Geborgenheit in der Erinnerung an die Kindheit, dient letztlich nur der Verdrängung, nicht der Bewältigung von solchen emotionalen Grenzsituationen.
Die Dramaturgin Judith Lebiez hat diese inhaltlich und von der Darstellung her hochsensiblen Momente mit großer Einfühlsamkeit inszeniert. So entstand kongenial in Gesang, Spiel und Arrangement eine atmosphärische Dichte, die gerade in den Beispielen aus der deutschen Literatur feinnervigsten Ausdruck fand. Sprach aus Mendelssohns Arie „Sei stille dem Herrn“ aus seinem „Elias“ noch eine Hoffnung auf Trost in religiös begründeter Zuversicht in Psalmen-Diktion, so klagte aus Schumanns Lied „In der Fremde“ aus dem „Liederkreis“ tiefste Verlorenheit und Todessehnsucht.
Zum Weinen anrührend gestaltete Laila Salome Fischer „Ins stille Land“, ein Schubert-Lied, das bereits den Blick ins Jenseits eröffnet, ergeben in das unentrinnbare, aber hier nicht dunkel-dräuende Endgültige.
Den Abschluss bildeten zwei Lieder aus Mahlers „Liedern eines fahrenden Gesellen“, die zum Persönlichsten und Eindringlichsten gehören, was der Komponist geschaffen hat. „Ich hab ein glühend Messer“ formuliert im „Wunderhorn“-Ton nur oberflächlich volksliedhaft den entsetzlichen Schmerz eines Menschen, dessen aufrichtige Liebe mit Ablehnung, ja Lachen beantwortet wurde, und der keinen Sinn mehr im Weiterleben sieht. Das Zerkratzen der Tischoberfläche mit dem Stiel eines Löffels ließ ahnen, wie sich die seelischen Wunden anfühlen, wenn die Verachtung ins Herz schneidet und sich dann die daraus wachsende Verzweiflung gegen den eigenen Leib und die Psyche richtet. Einmal mehr bewies die Sängerin, was für eine hervorragende Schauspielerin sie zudem ist. Ob in „Die zwei blauen Augen“ ein Suizid thematisiert wird oder ob sich hier doch in „Lieb und Leid und Welt und Traum“ ein tröstender Ausblick gleichsam im Schlaf im Innersten sich selbst wiederfindend eröffnet, ist Interpretationssache.
Zumindest klang dieser bemerkenswerte Abend in seliger Sanftheit aus, der Applaus hingegen war begeistert und langanhaltend. Man mag sehr hoffen, dass Judith Lebiez weitere solcher Abende gestalten wird. In Ensemble und Opernstudio des Hauses muss man nicht lange nach geeigneten Talenten suchen.
Die nächste Vorstellung dieser vorbehaltlos empfehlenswerten Produktion ist am 17. Dezember 2022.
Dr. Andreas Ströbl, 2. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begistert.at
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Sing mich um den Verstand! Operetten- und Musical-Revue Theater Lübeck, 29. Oktober 2022
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