Interview: „Moniuszkos berühmteste Oper hat ein großes Potenzial“

Interview Dr. Rüdiger Ritter, Historiker und Musikwissenschaftler, Autor der ersten deutschsprachigen Biographie über Stanisław Moniuszko  klassik-begeistert.de, 6. April 2024

Dr. Rüdiger Ritter © Sebastian Loskant

 „Das Gespensterschloss“ (Straszny Dwór) – die populärste Oper des polnischen Komponisten Stanisław Moniuszko – wird in einer konzertanten Aufführung in der Berliner Philharmonie am Montag, den 22. April 2024, zu sehen sein.

Auf der dortigen Bühne treten Solisten, Chor und Orchester der Posener Oper unter der Leitung von Maestro Marco Guidarini auf. Dies ist bereits die dritte derartige Präsentation einer Oper Moniuszkos in Berlin. Die vorherigen Darbietungen von „Halka“ (2019) und „Paria“ (2023) hatten einen großen Erfolg.

Moniuszko verbrachte drei Jahre an der Singakademie zu Berlin (1837-1840), wo er seine kompositorische Meisterschaft entwickelte. Was brachte dieses Studium dem Gründer der Polnischen Nationaloper und welchen Einfluss hatte die Musik von Richard Wagner – dem Schöpfer der Deutschen Nationaloper – auf sein Schaffen?

Jolanta Łada-Zielke im Interview mit Dr. Rüdiger Ritter, Historiker und Musikwissenschaftler, Autor der ersten deutschsprachigen Biographie über Stanisław Moniuszko.

 klassik-begeistert: Moniuszko studierte Komposition an der Akademie der Künste bei Carl Friedrich Rungenhagen, Direktor der Sing-Akademie zu Berlin. Was hat dieses Studium dem polnischen Komponisten gebracht?

Dr. Rüdiger Ritter: Die Sing-Akademie zu Berlin war die älteste bürgerliche Musikvereinigung zur Pflege des bürgerlichen Musiklebens einerseits und der Komposition andererseits. Carl Friedrich Rungenhagen leitete sie nach Carl Friedrich Christian Fasch (1791-1800) und Carl Friedrich Zelter. Dort führte man vor allem Vokalmusikwerke, Oratorien und Kantaten, und zwar sowohl geistliche als auch weltliche, auf. Moniuszko lernte dort großformatige und kleinere Werke vokaler Musik von der kompositorischen und der Aufführungsseite kennen. Als Korrepetitor und Chorleiter war er für die Vorbereitung der Konzerte und die täglichen Aufführungspraxis zuständig.

klassik-begeistert: In Berlin führte er seine „Drei Lieder“ zu Worten des polnischen Dichters Adam Mickiewicz erfolgreich auf. Einige seiner Lieder veröffentlichte der Verlag Bote & Bock. Zwar stand damals ein Teil Polens unter preußischer Herrschaft, es war aber noch nicht die Zeit von Bismarcks Kulturkampf.

Dr. Rüdiger Ritter: Das deutsch-polnische Verhältnis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war ganz anders, als wir das von der zweiten Hälfte kennen. Erst nach 1871 bekam man das Gefühl, dass unsere Länder seit Jahrtausenden verfeindet waren.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es jedoch sowohl in Warschau als auch in Berlin eine sehr intensive Beschäftigung mit der Kultur der anderen Seite. Ein großer Teil der Einwohner Warschaus und anderer polnischer Städte sprach Deutsch und war deutsch geprägt. Zelter und Rungenhagen schrieben in Berlin Stücke über polnische Themen. Von Rungenhagen stammt die Oper „Ratibor und Wanda“, die man komplett aufführte. Unter den aufgeklärten Bürgern Deutschlands herrschte Begeisterung für Polen. Deshalb waren die Werke Moniuszkos, die man herausgab, ein Teil dieser damals noch relativ selbstverständlichen Beschäftigung mit dem Nachbarn.

Moniuszko war ein junger Kompositionsstudent aus Vilnius, und Mickiewicz war noch nicht der polnische Nationalbarde, sondern ein Dichter aus derselben Region, also vertonte Moniuszko seine Gedichte. Ebenso selbstverständlich ist, dass Rungenhagen seinem Studenten die Möglichkeit vermittelte, seine ersten Liedversuche im Druck zu veröffentlichen. Dahinter steckten keine politischen Implikationen.

klassik-begeistert: Wie war das Schicksal dieser Veröffentlichung?

Dr. Rüdiger Ritter: Bote & Bock war ein renommierter Verlag gewesen, man kann also davon ausgehen, dass man noch heute diese Lieder in Nationalarchiven und in der Staatsbibliothek Berlin finden kann. Leider gibt es nicht genügend Informationen darüber, ob „Töchter aus guten Häusern“ diese Stücke auf ihren Klavieren stehen hatten. Ich kann es mir durchaus vorstellen, dass man diese Lieder im Familienkreis sang. Auch in Berlin konnte man sie spielen, weil sie kompositorisch denjenigen ähneln, die damals in deutschen Haushalten populär waren.

Zum Beispiel haben Karl Loewes Balladen stilistisch eine große Verwandtschaft mit Moniuszkos „Trzech Budrysów“. Aus rein musikalischer Sicht waren Moniuszkos Lieder ein Material, das man in Deutschland für Hauskonzerte gerne verwendete. Die Noten der Stücke konnte man kaufen und in kleinen Kreisen aufführen. Ich würde daran zweifeln, ob man den polnischen Text gesungen hat, aber die Musik hat man schon rezipiert.

klassik-begeistert: Ein Jahr bevor Moniuszko zum Studium nach Berlin kam, komponierte der junge Richard Wagner die „Polonia“- Ouvertüre (1836). Später sind die beiden Väter der Nationaloper geworden, jeder in seinem Land.

Dr. Rüdiger Ritter: Zu Wagner und Moniuszko muss man mehrere Dinge sagen. Wie ein großer Teil von deutschen Intellektuellen, sah Wagner die Polen als Vorkämpfer für Freiheitlichkeit. Das damalige Deutschland war in kleine Staaten geteilt, von denen einige eine Verfassung hatten, aber zu wenig Freiheit wie sich das liberale Bürgertum erhoffte. Die fortschrittlichen Deutschen glaubten, dass die Polen nicht nur für ihre Nation, sondern auch für diese Freiheiten kämpften. Deshalb interessierten sich für diesen Kampf auch diejenigen, die keine Verbindung zu Polen hatten.

Richard Wagner sympathisierte mit den polnischen Emigranten, die nach der Niederlage des Novemberaufstandes nach Deutschland kamen. Aber musikalisch gingen Wagner und Moniuszko in ganz unterschiedliche Richtungen, weil jeder von ihnen ein anderes Kunstverständnis hatte.

Wagner ist in Europa zu einer so stark prägenden Künstlerpersönlichkeit geworden, dass man bis heute kaum an ihm vorbeikommt. Wenn man über die Musik des 19. Jahrhunderts spricht, muss man sich immer auf Wagner beziehen, egal ob man ihn liebt oder hasst. Wir müssen seine Weltanschauung, besonders seinen Antisemitismus, kritisieren, aber es ist unmöglich, die musikalischen Entwicklungen der europäischen Oper des 19. Jahrhunderts ohne eine Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Werk Wagners zu begreifen. Viele Eigenarten der europäischen Oper gehen auf Personen wie Wagner oder Verdi zurück. Sie prägten wesentliche Muster.

Marco Guidarini, Fot. Ośko Bogunia

 klassik-begeistert: Karol Musioł behauptet, Moniuszko lasse sich von Wagner inspirieren. Er hat zum Beispiel in „Das Gespensterschloss“ die Spinnstubenszene nach der ähnlichen Szene vom „Fliegenden Holländer“ gestaltet.

Dr. Rüdiger Ritter: Leider können wir in Moniuszkos Kopf nicht hineingucken, umso weniger posthum, um festzustellen, welche Vorbilder er vorgenommen hat. Ich bin mir sicher, dass sich Moniuszko, als reifer Komponist, mit dem ganzen vorhandenen musikalischen Material sehr intensiv beschäftigte. Zwar konnte er nicht jeden Sonntag in ein anderes Opernhaus gehen und immer etwas anderes hören, er konnte aber die Partituren studieren. Er hat sich immer die neuesten Sachen zukommen lassen und wusste, was die bedeutendsten Komponisten geschrieben haben.

Deswegen bin ich davon überzeugt, dass er die entsprechenden Werke Wagners, möglicherweise sogar vor ihrer Erstaufführung, relativ schnell kennenlernte. Ich kann mir vorstellen, dass er diese Szene aus dem „Fliegenden Holländer“ kannte. Man muss die Denkweise der Opernkomponisten verstehen, die schreiben nicht immer etwas vollkommen Neues, sondern orientieren sich an Vorbildern. Ihre Librettisten (wie Jan Chęciński bei Moniuszko) könnten ebenfalls eine Idee haben, den aktuellen Inhalt um einen „fremden“ Stoff zu verbreiten. Also konnte Moniuszko diese Szene als Muster nehmen und entsprechend umarbeiten.

Die Hauptdarstellerinnen in „Das Gespensterschloss“ in Berlin: Ruslana Koval (Hanna), Fot. Ośko Bogunia und Gosha Kowalinska (Jadwiga), Fot. Karpati & Zarewicz

klassik-begeistert: Musioł meinte auch, dass der größte Einfluss Wagners in Moniuszkos Oper „Paria“ zu erkennen sei.

Dr. Rüdiger Ritter: Die Geschichte in „Paria“ ist kompliziert. Moniuszko beschäftigte sich mit diesem Stoff schon sehr früh, als er die Bücher aus der Bibliothek seines Onkels las, und darunter das Trauerspiel „La Paria“ von Casimir Delavigne entdeckte. Es entstand in ihm der Gedanke, auf dieser Grundlage eine Oper zu komponieren, er war aber kompositorisch noch nicht dazu fähig. Diese Gedanken haben ihn während seines ganzen Schaffens nie losgelassen, jedoch nicht deswegen, weil der Stoff so krass sozialkritisch ist. Er hat es als ein Wagnis gesehen, diese Oper zu schreiben.

Nach dem „Gespensterschloss“ merkte Moniuszko, dass er zwar anerkannt ist und als etabliert gilt. Er brauchte jedoch neue Inhalte und Inspirationen. Bei „Paria“ versuchte er kompromisslos, seine sozialkritischen Ideen auf die Bühne zu bringen. Der Handlungsort ist Indien, man erkennt aber sofort, dass sich der Plot auf polnische Verhältnisse bezieht. Ich kann Musioł recht geben, weil es eine ganze Menge Anklänge an Wagners Kompositionsstil in der Oper gibt. Aber im Gegensatz zu Wagners durchkomponierten Opern mit ihren „unendlichen Melodien“ ist „Paria“ noch eine „Nummernoper“, mit Rezitativen und Arien.

Bei Wagner haben wir fließende Übergänge, gar kein Unterscheidbarkeit von einzelnen Nummern und deswegen auch die Auflösung der musikalischen Gattung zugunsten des Inhalts. Dies ist der wesentliche Unterschied zu Moniuszko, der zur Zeit seines Lebens immer den vorhandenen Text an die Musik anpasste. Wagner schrieb ein Gesamtkunstwerk, wobei alle Künste – die Dichtung, Musik, Schauspiel, Bühnenbild, Tanz – gleichberechtigt sind. „Paria“ geht tatsächlich auch in diese Richtung. Das deutlichste Zeichen dafür ist die Abweichung der Arie vom reinen Strophenlied.

Rungenhagen war derjenige, der Strophenlieder favorisierte und keine durchkomponierten Lieder mochte. Davon kehrt sich Moniuszko bei „Paria“ ein bisschen ab. In „Das Gespensterschloss“ haben wir noch sehr stark strophenorientierte Arien. Moniuszko versucht die Ideen, die Wagner in die Oper gebracht hat, für sich umzusetzen. In seinem späteren Schaffen gibt es neben der Wagner’schen Richtung auch eine komödiantische, wie sie Offenbach repräsentiert.

klassik-begeistert: „Das Gespensterschloss“ hatte bereits Erfolg während des 11. Internationalen Wettbewerb der Interpreten European Opera, sowie des Internationalen Opernfestival in Wiesbaden 2022.  Man fragt sich, warum so spät? Vielleicht darum, dass es als „die polnischste von allen Moniuszkos Opern“ gilt, und wenn man es traditionell inszeniert, könnte das westeuropäische Publikum es schwer verstehen?

Dr. Rüdiger Ritter: Über dieses Thema kann man stundenlang sprechen. Hält man „Das Gespensterschloss“ wirklich für „die polnischste Oper“ Moniuszkos? Ich sehe eine ganze Menge Sachen darin, die mit Polen nicht viel zu tun haben. Erstens, ist die Oper in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angesiedelt, als die polnisch-litauische Rzeczpospolita noch existierte. Bis 1795 war sie zu ihren besten Zeiten nicht nur von dem Polnischen, sondern auch vom Litauischen und – wenn man es will – auch Belarussischen geprägt worden.

Dies sieht man in „Das Gespensterschloss“ deutlich. In der Romantik war kulturelle Vielfalt etwas sehr Positives. Wenn also jemand versucht, diese Oper im Sinne des ganz modernen polnischen, monolithischen Nationalismus zu interpretieren, funktioniert das meiner Meinung nach nicht. Und es war auch nicht in Moniuszkos Interesse. Dieser nationale Akzent wurde jedoch nach der Niederschlagung des Januaraufstandes (1863) betont, insbesondere als die russische Zensur 1865 nach der dritten Aufführung dieser Oper die weiteren Vorstellungen verbot. Die Folgezeit hob die patriotische Bedeutung dieses Werks stark hervor, aber das ist eigentlich nicht die Intention der Oper.

Anderseits, gibt es in „Das Gespensterschloss“ ebenso kompositorische Einflüsse, die aus Westeuropa kommen, zum Beispiel die Szenen mit beiden Haupthelden Zbigniew und Stefan. Dieses Werk steht nicht für sich selbst, sondern im Zusammenhang mit den damaligen europäischen Trends.

Es hatte schwere Rezeptionsprobleme, nicht deswegen, weil es ganz wenige Aufführungen davon gab. Die Oper konnte im österreichischen Bereich gespielt werden, hatte aber keinen Sprung nach Westeuropa, auf die entscheidenden Bühnen geschafft. Der Bekanntheitsgrad des Polen von damals (Rzeczpospolita), sowie der polnisch-russischen Problematik ist im Westeuropa relativ gering gewesen. Dies führte dazu, dass die Oper erstmal nicht so attraktiv erschien. Moniuszko war auch nicht der Mensch, der auf dem europäischen Parkett, neben solchen Salonlöwen wie Liszt bestehen und seine Kompositionen gut verkaufen konnte. Deshalb sind seine Werke so lange im Schatten geblieben.

Die Hauptdarsteller in „Das Gespensterschloss“ in Berlin. Von links: Piotr Kalina (Stefan), Fot. Ośko Bogunia; Rafał Korpik (Zbigniew), Fot. Ośko Bogunia und Stanislav Kuflyuk (Miecznik), Fot. Karpati & Zarewicz

klassik-begeistert: Der Widersacher zweier anständiger polnischer Adliger (Zbigniew und Stefan) in dieser Oper ist der Lackaffe Damazy, der der französischen Mode erliegt.

Dr. Rüdiger Ritter: Dies war der Topos der widerlichen, moralisch niedriger stehenden Franzosen, die man für Weichlinge gehalten hat. Interessant, dass man zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch einen soliden Deutschen einem solchen „weichen“ Franzosen gegenüberstellte. Nach 1863 und zur Zeit Bismarcks war das nicht mehr möglich. Man kann jedoch merken, dass Moniuszko in „Das Gespensterschloss“ die Topoi zitiert, die in den beiden Kulturen hervorragend wirkten. Heute kann man diese Oper als ein spannendes Konglomerat unterschiedlicher Einflüsse betrachten und sehen, wie diese Einflüsse in dem östlichen Teil Europas funktionieren, die man hier im Westen nicht so gut kennt.

klassik-begeistert: Hat „Das Gespensterschloss“ eine Chance auf erfolgreiche szenische Darstellungen in Deutschland?

Dr. Rüdiger Ritter: Diese Oper hat immer noch ein großes Potential. Es hängt nur davon ab, wie man sie inszeniert und wie die Bereitschaft zur Rezeption ist. Bis 1989 war man sich im Westen – ich übertreibe etwas – nicht bewusst, welche Länder zwischen Deutschland und dem heutigen Russland liegen, weil sie damals zum sowjetischen Machtbereich gehörten.

Man hat erst nach der Annexion der Krim durch Russland und dem Ausbruch des Krieges begonnen, über die Ukraine zu sprechen. Wenn also eine Oper aus dieser Gegend kommt, weiß man zunächst nicht, was das ist.

Wir brauchen also eine Präsentation der Oper, die die europäischen Gemeinsamkeiten hervorhebt und den Traum vieler Intellektuellen des 19. Jahrhunderts nach nationaler Selbstbestimmung darstellt. Dies war die Bedeutung von Verdis Opern in Italien. Es muss ebenfalls eine Aufgeschlossenheit im Westen sein, die Kulturen der Nationen zwischen Deutschland und Russland genauer wahrzunehmen und als Teil von einem gemeinsamen Europa zu betrachten. Dann ist es möglich, die Bedeutung des Werks von Stanisław Moniuszko zu erkennen und zu schätzen.

klassik-begeistert: Vielen Dank für das Gespräch.

Jolanta Łada-Zielke, 6. April 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Eine Ankündigung der Aufführung von „Das Gespensterschloss“ in der Berliner Philharmonie am 22. April 2024 ist unter diesem Link zu sehen:

STRASZNY DWÓR Stanisław Moniuszko – wykonanie koncertowe (opera.poznan.pl)

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