Louis Lohraseb © Louis Erica
Im dritten Teil unseres großen Interviews erklärt Louis Lohraseb, dass Klangschönheit keine Schande ist.
Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 3
klassik-begeistert: Wie sind Sie zum Dirigieren gekommen?
Louis Lohraseb: In den ersten vierzehn Jahren meines Lebens wollte ich Tenor wie Pavarotti werden. Zu Halloween verkleidete ich mich als meine Lieblingsfiguren und verbrachte die meisten Sommerferientage im Haus meiner Großeltern, wo ich meine Lieblingsopern mitsang. Als jedoch meine Kenntnisse des Symphonie-, Kammer- und Solorepertoires zunahmen, wurde mir klar, dass meine Liebe zur Musik allumfassender war. Diese integrative Sichtweise, gepaart mit der Notwendigkeit, etwas über diese Musik zu sagen, führte schließlich dazu, dass ich dirigierte. Ich hatte das große Glück, 2013 als Conducting Fellow an der Yale School of Music ausgewählt zu werden, und seitdem habe ich meine Entscheidung nie bereut.
klassik-begeistert: Haben Sie Vorbilder, am Flügel oder auf dem Dirigentenpult?
Louis Lohraseb: Meine ersten Vorbilder waren meine Familienmitglieder: Meine Eltern, mein Bruder, meine Großeltern und meine Tante. Aufzuwachsen in einer so fürsorglichen, liebevollen Familie war der Ursprung der Menschlichkeit, die Sie in meinem Dirigat wahrgenommen haben. Auch wenn ich schon in jungen Jahren ein vielversprechendes Interesse an Musik zeigte, achteten meine Eltern sehr darauf, mich nicht zu überfordern. Meine Mutter war es überaus wichtig, dass ein Auftritt, ein Interview eine ausschließlich positive Erfahrung sein würde, dass ich keine bzw. nur dann eine Vergütung erhalten würde, wenn ich es gerne mache.
Dieses Gefühl der Zuneigung und Freude an meiner Kunst hat mir in meiner beruflichen Laufbahn gute Dienste geleistet und ist nur eines der unzähligen Geschenke, die meine Familie mir gemacht hat.
Wie bereits erwähnt, war Luciano Pavarotti mein erstes musikalisches Vorbild. Dafür bin ich sehr dankbar, nicht nur, weil ich ohne Absicht mein Ohr darauf trainierte, mich an die Töne der schönsten Männerstimme zu gewöhnen, sondern auch, weil er ein wahrhaftiger Künstler war. Es wurde oft berichtet, dass Pavarotti die Musik nicht gut lesen konnte und seine Rollen anhand der Tradition anderer Tenöre und, unterstützt durch Coaches, durch schlichtes Auswendiglernen erarbeitete. Diejenigen, die sich darüber lustig machen, verraten nicht nur eine unerwünschte und unnötige Anmaßung, sie erkennen auch nicht den immensen Nutzen dieses Ansatzes:
Nichts ist ohne Weiteres pedantisch oder spießig. Es ist wie es ist: Alles kann nur aus dem Drang entstehen, mit dem Publikum kommunizieren zu wollen, was einer der Hauptgründe dafür war, dass Pavarotti in der Öffentlichkeit so unglaublich beliebt war. Dass dies mein erste Beeinflussung war, erwies sich als ein riesiger Glücksfall.
Mein erster ernstzunehmender Klavierlehrer, Findlay Cockrell, war in vielerlei Hinsicht ein unglaublich wichtiger Teil meines Erfolgs. Musikalisch war sein Ansatz zur Musik stets darauf ausgerichtet, die Intentionen der Komponisten zum Ausdruck zu bringen. Wenn das bedeutete, hier oder da eine Note zu ändern oder spezielle Fingersätze oder Pedale zu finden, geschah dies alles in der Verfolgung einer edlen Suche, die bestmögliche Version des Stücks zu schaffen. Diese Furchtlosigkeit inspiriert mich weiterhin. Er war es, der mich sowohl mit Robert Levin als auch mit William Carragan bekannt machte, und Musikwissenschaft wie auch Musiktheorie in mir aufblühen ließ.
William Carragan war der erste Mensch, der die 9. Symphonie von Bruckner vollendete, und Herausgeber der kritischen Ausgabe der 2. Symphonie. Was für ein riesiges Glück für mich, er lebte nur 40 Minuten von meinem Elternhaus entfernt. Es war äußerst lehrreich und hat mich stark geprägt, bei einem so klugen Geist, einem Universalgelehrten, der auch Physik anhand eigener Fachbücher lehrte, studieren zu können. Er hat mir beigebracht, wie man Werke analysiert, wofür ich ihm immer danken werde. Seine kontinuierlichen Recherchen zu den Werken Bruckners und anderer zeugen bis heute von seinem unbeschreiblichen Geist, der weiterhin versucht, die Geheimnisse auf dem Weg zwischen Tinte und Papier zu entschlüsseln. Das ist zutiefst inspirierend.
Als Teenager hatte ich ferner das immense Glück, bei dem großen Mozart-Gelehrten Robert Levin zu studieren. Während sich unser Unterricht technisch auf Komposition konzentrierte, war sein besonderes Genie in allen Fächern immer zugegen. Er ist Gelehrter und Künstler zugleich, und er hat mir klar gemacht, dass sich beide Rollen auf verblüffend spannende Weise miteinander vereinen können. Seine Fähigkeit, Fantasien, Kadenzen und Ornamente im Stil Mozarts zu improvisieren, ist ein lebendiger Beweis dafür, wie eine solche Gelehrsamkeit im Konzertsaal elektrisierende Erlebnisse schaffen kann.
Im Jahr 2014 wurde mir vorgeschlagen, dass ich Kevin Murphy treffen sollte, einen der führenden Gesangslehrer und Pianisten Amerikas, wenn ich eine Karriere in der Oper anstrebte. Jemand wies mich eines Tages darauf hin, dass er sich auf der anderen Seite eines Proberaums befand, doch bevor ich Hallo sagen konnte, war er spurlos verschwunden.
Glücklicherweise, wenn auch ein Jahr später, konnte ich ihn doch noch kennenlernen und seitdem ist er nicht nur mein Mentor, sondern auch mein bester Freund. Er ist es, der meine Begeisterung für dieses oder jenes Detail dämpft und mich ständig daran erinnert, dass all meine vielen Ideen, so wunderbar sie auch sein mögen, im luftleeren Raum keine Bedeutung haben. Sie müssen so umgesetzt werden, dass sie den Menschen und dem jeweiligen Moment dienen, damit die große Bandbreite des Stücks zum Vorschein kommt und jede Aufführung den Eindruck vermittelt, dass das Stück nur so klingen kann.
Ich hatte das große Glück, ein Schüler von James Conlon und Lorin Maazel zu sein, wobei letzterer derjenige war, dessen Aufführung von Aida an der Scala in den 80er Jahren eine der ersten Opern war, die ich jemals auf VHS besaß. Mit Conlon verbindet uns mittlerweile eine mehr als zehnjährige Verbundenheit. Als er mich zum ersten Mal traf, war ich Conducting Fellow an der Yale School of Music. Seitdem hat er mich großzügig unter seine Fittiche genommen und mir viele unschätzbare Erfahrungen beschert, darunter auch meinen allerersten professionellen Job als sein Assistent. Seine Meisterschaft in so vielen verschiedenen Genres ist inspirierend und ich habe viel von ihm gelernt. Andere Dirigenten, bei denen ich studiert habe oder bei denen ich viel Wissen mitgenommen habe, sind Arthur Fagen, Victor DeRenzi, David Effron, James Walker und Shinik Hahm.
Meine ständige Suche nach der Schönheit des Klangs entspringt meiner großen Verehrung für Herbert von Karajan, der in dieser Kategorie (und in vielen anderen) natürlich das Nonplusultra war. Und natürlich sind Arturo Toscanini und Carlos Kleiber weitere Stimmen aus der Vergangenheit, die mich immer noch inspirieren und als überragende Persönlichkeiten in Erstaunen versetzen. Nehmen wir nur La Bohème als Beispiel: Jeder dieser drei Dirigenten hat zu einer bahnbrechenden Interpretationen gefunden, und doch sind sie alle so völlig unterschiedlich. Aber die immense Kraft ihrer Überzeugungen überstrahlt alles und verschafft so dem Publikum zutiefst bewegende Erlebnisse.
klassik-begeistert: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Jörn Schmidt, 31. Mai 2024, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Den vierten und letzten Teil unseres großen Louis Lohraseb Interviews lesen Sie Sonntag, 2. Juni 2024, hier auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at.
Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 1 klassik-begeistert.de, 30. Mai 2024
Interview: Jörn Schmidt im Gespräch mit Louis Lohraseb – Teil 2 klassik-begeistert.de, 31. Mai 2024
Johannes Karl Fischer im Interview mit Ádám Fischer – Teil 2 klassik-begeistert.de, 27. April 2024