Tobias Kratzer © Robert Haas
Die Hamburgische Staatsoper vergleicht sich künftig in Qualität und Anspruch am erfolgreichsten Opernhaus des Landes, der Oper Frankfurt – und darüber hinaus.
klassik-begeistert im Interview mit Tobias Kratzer, dem künftigen Intendanten der Hamburgischen Staatsoper, Teil I
Tobias Kratzer übernimmt ab der Saison 2025/26 die Intendanz der Hamburgischen Staatsoper. Bereits während der Probenarbeiten zu dem Saisoneröffnungsstück „Das Paradies und die Peri“ von Robert Schumann, das im September die neue Saison eröffnen wird, hatten der Herausgeber von klassik-begeistert Andreas Schmidt und die Autoren Jörn Schmidt und Patrik Klein die Gelegenheit, Fragen an Herrn Kratzer zu stellen.
klassik-begeistert: Lieber Herr Kratzer, wie geht es Ihnen in der neuen Stadt Ihres Wirkens?
Wo haben Sie sich Ihr Domizil ausgesucht und wo fühlen Sie sich besonders wohl in der Hansestadt Hamburg?
Tobias Kratzer: Sehr, sehr gut. Ich wohne jetzt ja seit ein paar Monaten hier und freue mich, dass ich dadurch auch einmal ein paar freie Minuten habe, um die Stadt auch jenseits der Oper ein wenig aufnehmen zu können. Momentan wohne ich noch zum Übergang in der Hamburger Neustadt, bin von dort aus aber auf der Suche nach meinem endgültigen Domizil.
klassik-begeistert: Wir drei Autoren von klassik-begeistert hatten die Gelegenheit Ihren famosen Auftritt in der Pressekonferenz zur Verkündung der neuen Spielzeit in den Werkstätten der Hamburgischen Staatsoper zu erleben. Dort nahmen wir jede Menge zusätzlicher Anreize wahr: Click in, Frame the repertoire, Aktionen in der Opera Stabile, Meet the Artist, „Raus zu den Kunden“ usw. sind Schwerpunkte mit denen Sie Publikumsinteresse wecken möchten.
Nach der Analyse des umfänglichen Programmbuches mit einem gemeinsamen Auftritt der 3 Sparten liest man:
– 10 Premieren an verschiedenen Standorten – das ist in etwa wie in den Spielzeiten in der Vergangenheit
ABER: Statt rund 30 Repertoireproduktionen in den letzten Dekaden sind es künftig nur noch 19 Produktionen mit meist einer etwas höheren Vorstellungsrate – und mit z.T. weniger bekannten Künstlern
Was möchten Sie mit dieser Veränderung erreichen?

Tobias Kratzer: Zunächst einmal muss man sagen, dass wir auf der großen Bühne sogar eine weitere Premiere haben im Vergleich zu den Vorjahren. Statt den üblichen fünf gibt es dort in der kommenden Saison sechs Neuproduktionen. Aber es stimmt, dass wir die Anzahl der Repertoireproduktionen etwas reduziert (Anmerkung der Redaktion: Die Anzahl der Repertoireproduktionen sinkt kommende Saison um rund ein Drittel) und dafür die Aufführungsanzahl innerhalb der Serien leicht erhöht haben, um auf die etwa gleich Anzahl an Abenden zu kommen.
Ab einer gewissen Anzahl der Wiederaufnahmen leidet ganz einfach die Qualität erheblich. Die Prozesse am Haus und die Probenmöglichkeiten stoßen dabei an ihre Grenzen. Ich finde die Anzahl von 19 Repertoireproduktionen immer noch einen hohen Wert. Es leidet auch, unter uns gesprochen, der Eigencharakter der einzelnen Spielzeiten, in dem Moment, wo Sie sozusagen fast jede Saison eigentlich dasselbe Repertoire spielen.
Es gibt keinen Anreiz, jetzt unbedingt in den Hoffmann zu gehen oder in den Figaro, wenn man weiß, dass das in der kommenden Saison ohnehin schon wieder kommt. Da ist es also gesünder, sowohl für den Abonnementbetrieb, als auch für den Hausbetrieb, als auch für eine gewisse Erwartungshaltung, die Anzahl leicht herunterzufahren. Das ist in ihrer Konsequenz eine bewusste Strategie, die der Qualitätssicherung dient.
klassik-begeistert: Ich (Patrik Klein) habe diese Erklärung in etwa erwartet, da ich von vielen Mitarbeitern des Hauses weiß, dass wenn z.B. die „Italienischen Wochen“ anstehen, viele auf dem „Zahnfleisch gehen“ wegen der vielen Belastungen und dass die Qualität der Aufführungen häufig darunter leidet. Man sollte daher eher nicht in die erste Vorstellung einer Serie gehen, da sich die fehlende Probenzeit negativ auf die Qualität auswirkte.
Tobias Kratzer: Ich hoffe, dass sich diese strategische Entscheidung, keine Legebatterie an Produktionen zu schaffen, sondern einen eigenständigen künstlerisch hochwertigen Probenprozess zu generieren als richtig erweist. Das habe ich in meinem Vorwort zu unserem neuen Jahresbuch ja auch so ausgedrückt: „Jeder Abend soll bei uns Premiere sein“.
klassik-begeistert: In meinem persönlichen Umfeld kenne ich viele Leute, Musiktheaterfreunde, die in ganz Europa unterwegs sind und häufig wegen der prominenten Casts auf der Bühne und im Orchestergraben in ganz bestimmte Städte reisen. Deren Aussage Hamburg betreffend war eher zurückhaltend, so nach dem Motto: „Nach Hamburg werden wir wohl nicht mehr kommen, denn wir kennen ja kaum einen von den Künstlern“.
Wie werten Sie eine solche Aussage und wo wollen Sie hin diesbezüglich mit dem Haus am Dammtor?
Tobias Kratzer: Zunächst muss ich doch widersprechen, denn ich halte alle Besetzungen, die wir haben für schlüssig, spannend und mehr als fachgerecht. Es ist natürlich eine Frage der Definition eines „Stars“. Ist es ein Name, den man überall – auch außerhalb der Opernbubble – kennt? Ich glaube, das ist inzwischen geschrumpft auf zwei Namen, von denen der eine kaum noch szenisch auftritt und die andere aus politischen Gründen nur noch selten zu erleben ist.
Aber wir eröffnen mit Vera-Lotte Boecker, der mehrmaligen „Sängerin des Jahres“, spielen Verdi mit Eleonora Buratto, Rossini mit Johannes Martin Kränzle, Strauss mit Asmik Grigorian, haben Erwin Schrott, Gregory Kunde und und und… Und in meiner Inszenierung von Frauenliebe und -leben können Sie abwechselnd und nacheinander Kate Lindsey, Elsa Dreisig, Annette Dasch und Marlis Petersen erleben.
Man muss aber auch Neugier auch auf junge, noch unbekanntere Sänger:innen haben und gleichzeitig den Abend als ein Gesamtereignis begreifen. Insofern würde ich Ihren beiden Prämissen, es gäbe hier „gar keine Staraufführungen“ und es wären „nur Staraufführungen, die die Zuschauer in ein Haus locken“ massiv widersprechen.
Schauen Sie sich doch das derzeit am häufigsten ausgezeichnete Opernhaus in Frankfurt an. Da haben Sie im Verlauf einer Saison gezielt gesetzte Positionen, wenn Marlis Petersen z.B. eine Traumrolle macht wie „Die lustige Witwe“ oder Christian Gerhaher eine „Don Giovanni“-Premiere.
Ansonsten ist das ein Haus, dessen Besetzungen sich in noch höherem Maße als Hamburg aus Ensemblesänger:innen rekrutieren und das äußerst erfolgreich ist damit.
Das Haus in Hamburg hat diesbezüglich einen doppelten Anspruch, eine lange Tradition und einen Anspruch auf Entdeckung neuer Talente. Diese Tradition muss in Hamburg genauso weiter bedient werden wie das Engagement hochkarätiger Gastsänger:innen. Aber es sollte klar sein, wir sind kein touristisches Durchreisetheater.
Unser Anspruch geht deutlich darüber hinaus. Und das ist man der Geschichte und dem Status des Hauses auch schuldig.
klassik-begeistert: Die erfolgreiche Liederabendserie „The Art of…“ mit Top Stars aus der Opernwelt wird es künftig nicht mehr geben. Dafür finden künftig in der Opera Stabile Vorstellungsabende mit Ensemblemitgliedern statt. Das ist sicher charmant, aber ist das auch nachhaltig?
Tobias Kratzer: Das ist insofern nachhaltiger, als wir eben damit unsere eigenen Künstler:innen aus dem Ensemble vorstellen und entwickeln.
Es ist aber auch nicht ausgeschlossen, dass wir zukünftig mal wieder einen Liederabend auf der großen Bühne machen werden. Programmatisch war es für mich erst einmal wichtig, den Scheinwerfer stärker auf das Ensemble zu richten. Zudem waren die „The Art of…“ Abende zuletzt oft nicht besonders gut besucht und auch für das Haus finanziell keine lukrativen Veranstaltungen.
Diese Vorgehensweise, was die Programmatik des Hauses betrifft, haben wir in meinem Team, bestehend aus dem GMD Omer Meir Wellber, der Operndirektorin und stellvertretenden Intendantin Beate Giese und mir gemeinsam abgestimmt.

Tobias Kratzer: „In Hamburg schalte ich neue Gehirnareale hinzu“
klassik-begeistert: Kent Nagano hat sich mit einem fulminanten Tristan verabschiedet. Die Saison 25/26 startet weniger prestigeträchtig mit einem eher unbekannten Oratorium [Anmerkung Jörn Schmidt: Robert Schumann, Das Paradies und die Peri, Premiere am 27. September 2025]. Was ist die Botschaft hinter dieser Entscheidung?
Tobias Kratzer: Wir beginnen die neue Spielzeit mit wunderbarer Musik, die jeder lieben wird und mit einem zentralen Werk des 19. Jahrhunderts, das zugleich programmatisch ist für die politische Relevanz von Kunst.
klassik-begeistert: Die Message ist aber auch: Keine Neuproduktionen von Wagner oder Strauss in Ihrer ersten Amtszeit. Das ist doch schade?
Tobias Kratzer: Sie können sich mit erstklassigem Repertoire trösten, konkret Tristan und Isolde, Holländer und Lohengrin. Und mit Ariadne auf Naxos, Elektra und Salome. Mittelfristig aber… da braucht Hamburg einen neuen Ring-Zyklus. Ganz klar!
klassik-begeistert: Also in Ihren zweiten 5 Jahren als Intendant?
Tobias Kratzer: Dazu müsste ich ja erst einmal verlängern wollen oder verlängert werden. Aber jetzt fange ich erstmal mit den ersten fünf Jahren an. Wann und ob mittelfristig ein Ring sinnvoll wäre, hängt sicher auch davon ab, wann das Neue Haus eröffnet wird. Es kann, je nachdem wann das sein wird, ja beides Sinn machen: entweder erst im neuen Haus damit rauszukommen, oder es im alten noch einmal richtig knallen zu lassen. [Anmerkung Jörn Schmidt: Auf Initiative des Kunstmäzens Klaus-Michael Kühne soll in der Hamburger Hafen City ein architektonisch herausragendes Gebäude entstehen als neue Heimat der Hamburgischen Staatsoper]
klassik-begeistert: Interessant, Sie sehen sich bereits als Intendant des neuen Opernhauses?
Tobias Kratzer: Nein, aber ich wäre ein schlechter Intendant, wenn ich den Neubau außer Acht ließe.
klassik-begeistert: So ein schnöder Intendanten-Alltag, das ist nichts für einen kreativen Menschen wie Sie. Hätte ich gedacht…
Tobias Kratzer: Falsch gedacht… Eine der vielen Freuden meiner neuen Tätigkeit als Intendant ist, dass ich dank neuer Aufgaben künftig weitere Gehirnareale hinzuschalten darf. Das ist fabelhaft. Ich komme ja aus einer Mathematikerfamilie. Aber seine Prägekraft entfaltet ein künstlerischer Intendant ja nicht kraft Amtes. Die muss man sich schon auch mit künstlerischer Kreativität erarbeiten. Die werde ich ja nicht abschalten.
klassik-begeistert: Haben Sie schon einen Vorgeschmack bekommen, was es heißt, künftig rund 700 Mitarbeiter jeden Morgen aufs Neue zu begeistern?
Tobias Kratzer: Ja, und zwar einen jahrzehntelangen Vorgeschmack. Als Regisseur muss ich Tag für Tag die unterschiedlichsten Charaktere begeistern. Der Schlüssel dafür ist, Begeisterung und die Werte, für die man steht, vorzuleben.
klassik-begeistert: Ich [Jörn Schmidt] hatte Ihnen in meiner Kolumne eine Wette des Inhalts angeboten, dass mit dem Programm Ihrer ersten Spielzeit die Auslastung nicht steigen wird. Gehen Sie mit?
Tobias Kratzer: [lachend] Ich wette nicht so gerne wie Sie…
klassik-begeistert: Haben Sie einen Plan B, wenn die Auslastung nicht steigt?
Tobias Kratzer: Warten Sie’s doch erstmal ab. Ich habe ja noch nicht mal richtig angefangen. Zum Notar geht’s erst in ein paar Wochen, momentan bin ich designierter Intendant.
klassik-begeistert: Klingt tiefenentspannt…
Tobias Kratzer: Ich würde sagen, realistisch. Natürlich wünsche ich mir ein volles Haus. Aber man sollte Opernhäuser nicht isoliert an der Auslastung messen, sondern auch an dem künstlerischen Anspruch des Hauses. Und wie es mir gelingen wird, die Hamburgische Staatsoper als attraktiven Teil der Stadt zu positionieren. Das werde ich genau beobachten und nachjustieren, wenn erforderlich.
klassik-begeistert: Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Im zweiten Teil des Interviews sprechen wir über den Werkbegriff in Orchester und Oper – zu lesen am Freitag, 4. Juli 2025, auf
klassik-begeistert.de, klassik-begeistert.at und klassik-begeistert.ch
Die Hamburgische Staatsoper: Aufbruch zu neuen Ufern, Spielzeit 2025/26 Hamburg, 5. März 2025