Chen Reiss: „Als ich zum ersten Mal Mahlers Zweite mit Lahav Shani gesungen habe, war ich selbst zutiefst gerührt!“ – Teil 2

Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss – Teil 2  klassik-begeistert.de, 16. Dezember 2023

Chen Reiss © Paul March Mitchell

Über CD-Aufnahmen, Gustav Mahler, Opern, finnische Dirigenten, seltenes Repertoire, Lahav Shani, Meisterkurse, das Leben auf Reisen und das Konzertpublikum im Allgemeinen und im Besonderen: Ein Interview in zwei Teilen mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss. 

Brian Cooper im Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss – Teil 2

klassik-begeistert: Liebe Chen, wir sprachen im ersten Teil ausführlich über das Concertgebouworkest. Bei der „kleinen Schwester“ der Amsterdamer, wie ich sie manchmal scherzhaft, nur für mich und absolut zu Unrecht nenne, hast Du eine Residency. Wie ist die Zusammenarbeit mit Lahav Shani, dem Chef des Rotterdams Philharmonisch Orkest? Ich studiere eifrig Saisonbroschüren und stelle fest, dass Du unglaublich viel mit ihm musizierst. Ihr habt mal mit dem Gürzenich-Orchester Mahlers Vierte gemacht, das ist mir noch in sehr guter Erinnerung.
Ist er für Dich so etwas wie ein „brother in music“, um Yannick Nézet-Séguin zu paraphrasieren, der Lisa Batiashvili als seine „sister in music“ bezeichnet? Du hast mit den Rotterdamern im vergangenen Mai in einer sensationellen Auferstehungssinfonie in Dortmund mitgewirkt, die mir sehr lange in Erinnerung bleiben wird. Meine Lebensgefährtin war zutiefst angerührt, und um uns herum sah man lauter ergriffene Gesichter.

Chen Reiss: Ich habe Mahlers Zweite viele Male mit etlichen Orchestern und Dirigenten gesungen, und ich muss zugeben, als ich das zum ersten Mal mit Lahav Shani gesungen habe, war ich selbst zutiefst gerührt! Er hat ein erstaunliches Verständnis der Partitur und eine erstaunliche Verbindung zur Musik von Gustav Mahler. Was ich besonders an ihm mag, ist, dass er mich immer wieder überrascht und mich neue Aspekte in Stücken hören lässt, die ich schon sehr gut kenne. Er fordert mich auch heraus, Risiken einzugehen und Dinge anders zu machen. Er liebt es, die Grenzen so weit zu erweitern, dass es sich bei jedem Konzert so anfühlt, als würde ich den Weg zum ersten Mal gehen. Pure Magie.

Wir kennen uns schon seit vielen Jahren und haben eine Menge Repertoire zusammen gelernt, so dass ich tatsächlich das Gefühl habe, dass Lahav mein „jüngerer, genialer Bruder in der Musik“ ist. Ich freue mich besonders auf die Residency in Rotterdam, weil ich mit diesem wunderbaren Orchester und dem wunderbaren Publikum in Rotterdam eine breite Palette von Stilen und Genres teilen kann, die meine Stärken und Spezialitäten darstellen.

klassik-begeistert: Im Rotterdamer Doelen ist es auch wirklich schön. Apropos Lahav Shani: Er ist ja nicht nur ein großartiger Dirigent, sondern ein unglaublich guter Pianist. Du gibst im Februar 2024 einen Liederabend in Dortmund mit ihm am Klavier. Was macht Ihr für ein Programm, und hast Du eine besondere Beziehung zum Konzerthaus? Du hast mir ja mal geschrieben, dass Du die Akustik dort fantastisch findest.

Chen Reiss: Wir machen ein romantisches Programm, sehr passend zum Valentinstag, wenn auch in Dortmund eine knappe Woche danach, für Sopran, Klarinette und Klavier, mit bekannten und unbekannten Liedern von Schumann, Schubert, Spohr und Mahler. Und ja, die Akustik in Dortmund ist spitze. Obwohl es ein großer Saal ist, klingt er doch irgendwie intim.

Chen Reiss © Paul March Mitchell

klassik-begeistert: Sopran und Klarinette, da klingelt’s bei mir: Du singst einige Stücke, die auf Deiner zweiten CD zu hören sind, etwa Schuberts Der Hirt auf dem Felsen und Lieder von Spohr. Ich freue mich darauf. Hast Du einen Lieblingssaal, in dem Du besonders gern singst? Die Wigmore Hall vielleicht?

Chen Reiss: „Wien, Wien, nur du allein“! Es gibt so viele wunderbare Säle in der Welt, aber mein Lieblingssaal ist wahrscheinlich der Musikverein in Wien, der Goldene Saal, weil ich die Stadt so liebe und die Wände des Saals die Geschichte der Musik erzählen wie sonst nirgendwo. Das Théâtre des Champs-Élysées in Paris ist auch so eine Perle, muss ich sagen.

klassik-begeistert: O ja! Und ein Saal, dessen Wände ebenfalls etliche Geschichten – von waschechten Skandalen zum Beispiel – erzählen könnten. In Wien hast Du ja auch eine ganze Weile gelebt. Wie erlebst Du eigentlich Dein Publikum weltweit? Gibt es Unterschiede?

Ich erinnere mich an einen Interviewband mit Dietrich Fischer-Dieskau, der sehr angetan war vom japanischen Publikum, er sprach von der „Lautlosigkeit des Publikums. Da fallen keine Programme zu Boden, da klatscht niemand zwischen Symphoniesätzen, man hört keine Huster“. Gibt es Unterschiede in puncto Verhalten im Konzertsaal?

Chen Reiss: Japan ist tatsächlich eine andere Welt, was Respekt, Höflichkeit und das Verhältnis des Publikums zur Musik betrifft. Ich würde eigentlich gerne dort leben, aber mein Mann und die Kinder sind von der Idee nicht begeistert. Ich liebe die Kultur und die Menschen dort. Es ist übrigens genau das Gegenteil von Israel. Dort ist ganz normal, dass Handys mitten im Konzert klingeln und Leute herumlaufen.

klassik-begeistert: Es gibt offenbar inzwischen nichts, was es nicht gibt… Ich bin viel in Europa unterwegs. In den Konzerthäusern wird zunehmend hemmungslos gefilmt, gehustet und herumgelaufen. Ganz schrecklich ist es in der Philharmonie de Paris, wo ich auch schon eine Flasche Rotwein und eine Zeitung mitten im Konzert gesehen habe. Neulich in Dortmund – es waren die Amsterdamer unter Klaus Mäkelä – filmten drei Damen vor mir unentwegt in Reihe 13 im Parkett. Was bekommst Du davon auf der Bühne mit? Bist Du mal so richtig durch Fehlverhalten im Publikum irritiert worden? Ich spreche natürlich dezidiert nicht von medizinischen Notfällen, sondern von Vermeidbarem, von Rücksichtslosigkeit gegenüber den Ausführenden und den anderen Menschen im Saal.

Chen Reiss: Es irritiert mich wahnsinnig, wenn ich auf der Bühne singe und die Leute einfach unverschämt filmen. So völlig ungeniert, weißt Du. Ich finde, die Verantwortlichen in den Konzertsälen sollen strenger damit umgehen. Das Schlimmste habe ich mal in der Berliner Philharmonie erlebt. Ich saß im Publikum und sah einen jungen Mann mit seinem Handy hinter dem Orchester. Er hat mit einem roten Smartphone gefilmt – und nicht nur das, er hat zugleich mitdirigiert! Mit einem sehr berühmten Dirigenten vor ihm. Eine ziemliche Frechheit, finde ich. Ich konnte alles gut mitbekommen, da ich in Reihe 12 saß, mit gutem Blick auf die Bühne und die Plätze dahinter.

klassik-begeistert: Liebe Chen, an welchen weiteren Konzertprogrammen arbeitest Du gerade? Falls das nicht noch geheim ist…

Chen Reiss: Ich bin dabei, die Musik von Erich Wolfgang Korngold zu entdecken. Ein weiterer unterschätzter Komponist, dessen Karriere durch die Machtergreifung der Nazis beeinflusst wurde, da er gezwungen war, Europa zu verlassen und sich in Hollywood niederzulassen.

klassik-begeistert: Ich mag Korngolds Musik sehr. Die Filmmusik, natürlich das Violinkonzert, das ich im Februar endlich wieder live höre, und Die tote Stadt, bei der er erwiesenermaßen nicht Brügge im Kopf hatte, sondern Bonn. Das war natürlich ein Scherz.

Chen Reiss (lacht): Korngolds Ruf als ernstzunehmender klassischer Komponist wurde nie vollständig wiederhergestellt. Zweifellos veränderte der Zweite Weltkrieg auch die Entwicklung der klassischen Musik in Europa und den USA, da so viele prominente Musiker vor dem grausamen Regime fliehen mussten.

klassik-begeistert: Auf welche CD-Veröffentlichung dürfen wir uns demnächst freuen?

Chen Reiss: Besonders freue ich mich auf die Veröffentlichung von Mendelssohns Lobgesang auf CD mit der Tonhalle Zürich unter Paavo Järvi. Wir haben das Werk im Januar 2023 in Zürich aufgenommen, und die CD soll im Frühjahr 2024 in einer Gesamtaufnahme aller Sinfonien von Felix Mendelssohn erscheinen.

Chen Reiss © Gustave Bonnard

klassik-begeistert: Ach, Paavo Järvi hörte ich erst vor wenigen Tagen mit der großartigen Deutschen Kammerphilharmonie in Köln. In Bremen hast Du auch Konzerte, nicht wahr? Mit Tarmo Peltokoski ist da ein weiterer junger Finne am Start, sehr talentiert, Panula-Schüler.

Chen Reiss: Ja, Finnland ist offenbar für Dirigenten so etwas wie Israel für Start-ups. So viele wunderbare Dirigenten kommen aus diesem (gemessen an der Bevölkerungszahl) relativ kleinen Land. In dieser Saison trete ich mit vier finnischen Dirigenten auf (Mikko Franck, Hannu Lintu, Tarmo Peltokoski und Klaus Mäkelä). Ich habe mehrere spannende Programme mit Tarmo in Toulouse, Monte Carlo und Bremen, mit Werken von Strauss, Mahler, Berg und Schumann. Trotz seines sehr jungen Alters hat Tarmo viel Erfahrung mit Vokalmusik und ein unglaubliches Talent und Gespür für deren theatralischen Aspekt. Er liebt und versteht die Oper wirklich.
Unsere ersten beiden Kollaborationen waren mit Opern- und Operettenarien; das hat so viel Spaß gemacht!

Er ist sehr frei, selbstbewusst, sensibel und enthusiastisch. Ich freue mich besonders darauf, mit ihm an deutschem Repertoire zu arbeiten, da ich um sein Wissen über und seine Faszination für die Musik von Richard Wagner weiß. Es ist sehr beeindruckend, heute einen jungen Mann zu treffen, der eine sehr klare Vorstellung davon hat, was er tun will und wie er es tun soll, und der dazu auch noch ungeheuer talentiert ist.

klassik-begeistert: Es hat mich sehr gefreut, mit Dir zu sprechen, liebe Chen. Alles Gute für Dich und Deine Familie, vielen Dank für Deine Zeit, und ich freue mich darauf, Dich noch ganz oft – wo und in welcher Rolle auch immer – auf der Bühne zu erleben.

Chen Reiss: Vielen Dank für Deine Fragen, lieber Brian! Ich habe unser Gespräch sehr genossen und freue mich darauf, Dich in Köln wiederzusehen.

Interview mit der israelischen Sopranistin Chen Reiss – Teil 1 klassik-begeistsert.de, 14. Dezember 2023

Lahav Shani & Martha Argerich, Ravel »La valse« und Prokofiew »Symphonie class ique« an zwei Flügeln Konzerthaus Dortmund, 23. April 2023

Yuja Wang, Koninklijk Concertgebouworkest, Klaus Mäkelä, Dirigent Konzerthaus Dortmund, 26. September 2023

Paavo Järvi, Dirigent, Alena Baeva, Violine, Deutsche Kammerphilharmonie Bremen Elbphilharmonie, 29. Juni 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert