Die Oper „La Clemenza di Tito“ war ein politischer Sprengstoff

Interview mit Professor Karl Böhmer, Musikhochschule Mainz  klassik-begeistert.de, 25. Februar 2024

Titelseite des Librettos von „La Clemenza di Tito“ Mozarts, Wikipedia

Bei den diesjährigen Gluck-Festspielen von 9. bis 12. Mai in Bayreuth wird die Oper „La Clemenza di Tito“ in den Fassungen von Christoph Willibald Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart zu sehen sein. Zuvor wird es am 28. April 2024 eine Neuinszenierung der Mozart-Fassung in der Staatsoper Hamburg geben. Das Thema des Werks ist zeitgemäß, weil es sich mit dem in der aktuellen Politik unbeliebten Thema der Vergebung befasst, während heutzutage nach wie vor die Vergeltung üblich ist. Die Geschichte kennt jedoch Fälle von großzügigen Herrschern wie den römischen Kaiser Titus, der seinen Feinden vergibt.

Jolanta Łada-Zielke führte dieses Interview mit Professor Karl Böhmer von der Musikhochschule Mainz über den historischen Hintergrund der Aufführung von Mozarts „La Clemenza di Tito“ 1791 im „Gräflich Nostizschen Nationaltheater“, dem heutigen Ständetheater Prag und über Glucks Fassung der Oper.

klassik-begeistert: Warum hat Mozart den Opernstoff aufgegriffen, den schon jemand anders – Christoph Willibald Gluck – verwendet hat?

Prof. Karl Böhmer: Gluck und Mozart waren bei weitem nicht die einzigen, die Musik zu „La Clemenza di Tito“ geschrieben haben. Das Libretto des großen Wiener Hofpoeten Pietro Metastasio behandelt ein politisches Thema, deshalb wurden immer wieder neue Vertonungen in Auftrag gegeben, besonders für Anlässe wie Huldigungen, Krönungen und königliche Hochzeiten. Es gibt viele bedeutende Bearbeitungen davon, zum Beispiel von Antonio Caldara, Johann Adolph Hasse, Johann Gottlieb Naumann und von dem böhmischen Komponisten Josef Mysliveček.

klassik-begeistert: Mozart komponierte diese Oper anlässlich der Krönung Kaiser Leopolds II. zum König von Böhmen am 6. September 1791 in Prag.

Prof. Karl Böhmer: Zunächst wurde Leopold II. 1790 in Frankfurt zum Kaiser gewählt und gekrönt. Gleichzeitig war er bereits Erzherzog von Österreich und König von Ungarn. In Prag fand seine böhmische Königskrönung statt, was eine Besonderheit war. Sein Bruder Joseph II. hat sich nämlich in Prag nicht zum König krönen lassen. Als Joseph 1790 plötzlich starb, musste Leopold die Toskana verlassen, wo er als „Gran Duca Pietro Leopoldo“ 25 Jahre lang über einen Musterstaat der Aufklärung geherrscht hatte. Er war mit einer Neapolitanerin verheiratet, und alle ihre Kinder sind in Italien aufgewachsen. Doch nach dem Tod seines kinderlosen Bruders musste er als der Zweitälteste die Regierung in Österreich, Ungarn, Böhmen und im Deutschen Reich antreten.

klassik-begeistert: Sie nennen „La Clemenza…“ einen „politischen Sprengstoff“. Worin äußert sich das?

Prof. Karl Böhmer: Zu dieser Zeit gab es viele Krisen im Habsburgerreich. Es brach ein Aufstand in den sogenannten Österreichischen Niederlanden, dem heutigen Belgien, aus, die Ungarn murrten, und Österreich-Ungarn führte einen Türkenkrieg, den Joseph II. 1788 unseligerweise zusammen mit der russischen Zarin Katharina begonnen hatte. Dieser Krieg war eine politische und militärische Katastrophe. Leopold II. beseitigte all diese Krisen im ersten Jahr seiner Herrschaft 1790-91. Er schloss Frieden mit den Türken, verzieh den Aufständischen in den Niederlanden und beruhigte die Ungarn.

Als er sich 1791 zum letzten Mal in Italien aufhielt, kam es zu einer völlig neuen Krise, nämlich zur Flucht der französischen Königsfamilie, die von den Revolutionären in Varennes abgefangen wurde. Dieses Ereignis war hochdramatisch und ganz neu, weil sich bis dahin keine politische Kraft in Europa getraut hatte, eine ganze Königsfamilie in Arrest zu nehmen. Die Könige waren unantastbar, auch in Frankreich, und Königin Marie Antoinette war die Schwester des Kaisers. Über die Flucht kursierten zunächst widersprüchliche Gerüchte: zwischenzeitlich hieß es, die Königsfamilie sei in Sicherheit. Dann aber kam die Nachricht, dass man sie nach Paris abgeführt und in Arrest genommen habe. Dies war die berühmte „Flucht nach Varennes“, die an jenem Ort endete, weil jemand aus der Bevölkerung die Königsfamilie erkannt hatte.

Professor Karl Böhmer, Foto: Werner Kmetitisch

klassik-begeistert: Wann hat der Kaiser diese Nachrichten erhalten?

Prof. Karl Böhmer: Leopold erlebte das alles in Padua mit, wo er eine Woche lang regelrechte „Opernferien“ machte. Auf dem Rückweg von Florenz nach Wien hielt er sich vom 30. Juni bis 7. Juli 1791 in Padua auf und besuchte jeden Abend die Oper „Didone abbandonata“, um die größte Primadonna des späten 18. Jahrhunderts als tragische Königin zu sehen: Luísa Todi. An ihrer Seite sang der Kastrat Domenico Bedini, den Leopold aus vielen Auftritten in Florenz kannte. Tagsüber ging der Kaiser in Padua spazieren und in die Cafés, die Abende verbrachte er in der Oper. Währenddessen kamen ständig Depeschen mit Nachrichten aus Frankreich über die Königsfamilie. Zunächst brach Jubel aus, weil ihre Flucht scheinbar gelungen war, doch dann kam die Hiobsbotschaft über ihre Festnahme. Sofort brach eine europäische Krise aus, weil die europäischen Mächte auf dieses Verhalten Frankreichs reagieren mussten. Leopold II. wollte keinen Krieg, aber der König von Preußen und die anderen haben ihn gedrängt, darauf scharf zu reagieren. Noch während der Uraufführung von „La Clemenza di Tito“ und in den Wochen danach war die Lage in Europa „hochexplosiv“.

klassik-begeistert: Hat Leopold II. die Rebellierenden so gnädig wie Titus behandelt?

Prof. Karl Böhmer: Ja, der Kaiser vergab den Aufständischen in den Österreichischen Niederlanden genauso, wie Titus im ersten Akt der Oper den Rebellierenden vergibt. Nach dem Friedensschluss mit den Türken musste er sich mit dem Problem „Verrat am französischen König“ auseinandersetzen. Das zentrale Thema von „La Clemenza di Tito“ ist die Verschwörung gegen den Kaiser. Deshalb lag ihm dieser Stoff sehr, sehr nahe und er wählte ihn persönlich für Prag aus. Das war nicht die Entscheidung der böhmischen Stände, die den Opernauftrag erteilten. Leopold II. hat diese Oper benutzt, um eine politische Aussage den Zeitgenossen zu vermitteln: „Ich bin der milde Kaiser, der seinen Feinden vergibt“.

klassik-begeistert: Was sind die künstlerischen Hintergründe der Entstehung der Prager Version der Oper?

Prof. Karl Böhmer: Ursprünglich sollte nicht Mozart, sondern Salieri diese Oper schreiben, doch er war gerade mit vielen administrativen Aufgaben beschäftigt. Deshalb trat er den Auftrag an Mozart ab, der innerhalb von achtzehn Tagen die ganze Partitur fertig schreiben musste. So ein kurzfristiger Auftrag war für eine Opera seria gar nicht so ungewöhnlich.

Domenico Cimarosa hat seine berühmteste Seria, die „Olimpiade“ für Vicenza, 1784 in zwölf Tagen komponiert. Dabei hat er – wie später auch Mozart – das Komponieren der Secco-Rezitative einem anderen überlassen. Auch das war ein ganz übliches Verfahren. Allerdings musste Mozart in Wien noch auf zwei Starsänger aus Italien warten. Dazu gehörte der berühmte Soprankastrat Domenico Bedini, den der Kaiser in Padua gehört und wahrscheinlich persönlich für Mozarts Oper verpflichtet hatte. Dies erklärt, warum Sesto keine Tenor-, sondern eine Kastratenpartie geworden ist. Der Kaiser verlangte, dass ein Kastrat die Rolle des Verräters singen sollte, der zugleich der engste Freund des Kaisers Titus ist. Der 44-jährige Bedini war dieser hoch emotionalen Rolle sowohl sängerisch als auch schauspielerisch voll gewachsen. An seiner Seite trat die gefeierte Primadonna Maria Marchetti Fantozzi auf, die der Kaiser ebenfalls aus Florenz kannte und die schon häufig Bedinis Bühnenpartnerin gewesen war. Der Rest der Besetzung kam aus Prag, beziehungsweise aus Polen.

klassik-begeistert: Wie war das Publikum in Prag? Die Hauptstadt von Tschechien befand sich damals auch unter der habsburgischen Herrschaft.

Prof. Karl Böhmer: Die Böhmischen Stände, die den Opernauftrag gaben, bestanden aus adeligen böhmischen Familien. Dies waren teilweise Tschechen, teilweise Deutsch-Böhmen. Diese Adelsfamilien, die auch ihre repräsentativen Wiener Paläste besaßen, haben die Logen im so genannten „Ständetheater“ besetzt. Es gab aber auch viele bürgerliche Böhmen, die diese Oper sahen. Die Uraufführung von „La Clemenza…“ fand am 6. September 1791, also am Krönungstag statt, was für alle Beteiligten ziemlich stressig war. Die Kaiserfamilie traf relativ spät im Opernhaus ein, und alle mussten auf sie stundenlang warten. Die Kaiserin war todmüde und schlief während der Vorstellung ein. Der Kaiser war aber sehr aufmerksam, besonders bei den Auftritten der Primadonna Marchetti Fantozzi. Danach spielte man die Oper noch elf Mal, wobei die nächsten Aufführungen deutlich entspannter waren. Nicht mehr der Wiener Hof und der Prager Hochadel gingen in die Aufführungen, sondern die Prager Musikliebhaber und das „normale“ Publikum.

Mozart schilderte in einem Brief an seine Frau, dass die allerletzte Aufführung am 30. September 1791 ein Riesenerfolg war. Die Zuschauer waren begeistert von dem Werk. Es stimmt also nicht, wenn man behauptet, dass Mozarts „Clemenza di Tito“ ein Misserfolg gewesen sei. Die erste Aufführung war problematisch durch die Begleitungsumstände, aber das Theater wurde danach immer voller, und das Publikum genoss dieses Stück immer mehr.

klassik-begeistert: Sind irgendwelche damalige Rezensionen zu dieser Oper erhalten geblieben?

Prof. Karl Böhmer: Es gab wenig „Kritiken“ im heutigen Sinne. Die Uraufführung war eine Staatsaktion und kein Mensch hätte sich getraut, eine negative Kritik über eine Krönungsoper zu schreiben. Es gibt aber Berichte von Zeitgenossen, die die Aufführung miterlebt haben. Ein Musikliebhaber namens Kleist war von der Oper und von der Musik Mozarts ganz begeistert. Jahre später gab es einen authentischen Bericht in Italien, dass Domenico Bedini die Prager zu Tränen gerührt habe. Ein Wiener Höfling berichtet, wie großartig Kaiser Leopold die Marchetti Fantozzi fand. Der Tenor Siboni, der später in Prag den Titus sang, hat in seinen Erinnerungen berichtet, dass Mozart die großen Arien in „La Clemenza di Tito“ auf die Fähigkeiten der beiden Hauptsänger aus Italien zugeschnitten habe und dass diese Arien großen Eindruck machten. Es gibt also schon eine Art „Anekdotenschatz“ zu Mozarts „La Clemenza di Tito“.

klassik-begeistert: Es gibt noch eine Liebesgeschichte von zwei Sängern der ursprünglichen Besetzung. Die polnische Sopranistin Antonina Miklasiewicz, die Servilia gesungen hatte, heiratete den Bass Gaetano Campi, der den Publio darstellte. Die beiden lernten sich noch in der Operntruppe von Domenico Guardasoni kennen, mit der sie in Warschau und Leipzig zusammen auftraten.

Prof. Karl Böhmer: Ja, sie heirateten im Februar 1792. Gaetano war eigentlich ein Buffo-Sänger, ein klassischer Primo Buffo caricato aus Italien. Seine zukünftige Frau, die berühmte Antonina oder Antonia Campi, war damals erst siebzehn, als sie Servilia sang. Danach ging sie nach Italien, wo sie als Prima Buffa auftrat. Später in Wien aber verkörperte sie 1801 die großen Seria-Rollen, vor allem in Mozart Opern: die Königin der Nacht, Konstanze und Donna Anna. Sie sang auch in den berühmtesten Seria-Opern von Cimarosa und Sarti.

klassik-begeistert: Was sagen Sie dazu, dass bei den kommenden Gluck Festspielen in Bayreuth diese zwei Fassungen von „Clemenza di Tito“ – von Gluck und von Mozart – nacheinander aufgeführt werden?

Prof. Karl Böhmer: Es ist eine einmalige Gelegenheit, zwei Genies der Wiener Musik unmittelbar miteinander zu vergleichen, allerdings in zwei völlig unterschiedlichen Stilphasen. Gluck schrieb 1752 für Neapel eine klassische Opera seria mit langen Rezitativen und zahlreichen Da Capo-Arien im galanten Stil. Dabei orientierte er sich noch sehr genau am originalen Text von Metastasio. Seine „Clemenza di Tito“ folgt allen Verwicklungen und Nebenhandlungen des originalen Librettos.

Mozarts Version entstand fast vierzig Jahre später, in einer Zeit, in der man gewohnt war, die Dramen von Metastasio stark zu kürzen. Mozart und sein Textbearbeiter Mazzolà strichen eine komplette Hauptintrige der Handlung und etliche Szenen. Viele Arien und Rezitative wandelten sie in Ensembles um, so dass die Oper kürzer, stringenter und moderner klang. Auch Mozarts Musik ist viel weiter fortgeschritten als Gluck. Sie spiegelt die neuesten Trends der Opera seria in Italien um 1790 wider: in den großen Rondò-Arien von Sesto und Vitellia, in den acht Ensembles und im aufgewühlten Finale des ersten Aktes. Dies alles gibt es bei Gluck noch nicht, der eine reine Arienoper geschrieben hat. Dadurch, dass die zwei Stücke direkt hintereinander aufgeführt werden, kann man sozusagen eine Zeitreise machen vom Neapel des Rokokos ins Prag der Klassik. Man sieht zuerst das Barockstück in seiner ganzen Ausdehnung und begreift dadurch viel besser, was Mozart und Mazzolà daraus gemacht haben. Die Menschen assoziieren „La Clemenza di Tito“ stets mit Mozart, aber das Libretto von Metastasio ist viel umfangreicher und komplizierter als die von Mozart bearbeitete Version.

klassik-begeistert: Was zeichnet die Gluck-Fassung aus?

Prof. Karl Böhmer: Glucks Oper ist seinerzeit in Neapel durch eine einzige Arie des Sesto sehr berühmt geworden: „Se mai senti spirarti sul volto“. Da hat Gluck Dissonanzen geschrieben, die nach damaligen strengen Regeln nicht erlaubt waren. Die Neapolitaner regten sich auf und liefen zu Durante, dem Orakel der Musiktheorie. Dieser sagte, es sei zwar gegen die Regel, aber da der Effekt so überwältigend sei, habe Gluck recht, es so zu schreiben.

Allein diese Arie ist so schön und anrührend, dass sich die Oper schon lohnt. Hinzu kommt die Gestalt der Vitellia, die Gluck ganz tragisch und zerrissen aufgefasst hat, viel weniger kokett und kantabel als Mozart. Rein musikalisch hat Gluck den Stoff mit viel Dramatik aufgeladen. Es wird also in Bayreuth zu einem sehr intensiven Vergleich zwischen zwei sehr unterschiedlichen Fassungen von „La Clemenza di Tito“ kommen.

klassik-begeistert: Wir danken Ihnen sehr herzlich für das Gespräch.

Jolanta Łada-Zielke, 25. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Professor Karl Böhmer, geb. 1963 in Mainz, studierte Musikwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er promovierte mit einer Dissertation über Mozarts „Idomeneo“. Seit 1992 arbeitet er bei der Landesstiftung Villa Musica Rheinland-Pfalz als Dramaturg und Verwaltungsleiter. Für die Stiftung hat er Texte über mehr als 4000 Kammermusikwerke geschrieben, die als Online-Kammermusikführer zugänglich gemacht wurden (www.kammermusikfuehrer.de). Als Honorarprofessor an der Musikhochschule Mainz lehrt er Stilkunde des 18. Jahrhunderts. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des 18. Jahrhunderts: Opera seria der Mozartzeit, Sängerforschung zu den großen Mozartsängern, unten anderen Bach und Alessandro Scarlatti.

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