Foto: N. Koutcher @ Olga Kachura
Nadine Koutcher über ihre Karriere, Krisen und den Weg zurück auf die große Bühne
Nadine Koutchers bemerkenswerter dramatischer Koloratursopran zeichnet sich durch eine mühelose Höhe, vollen Klang und eine warme Mittellage aus. Sie erlangte ihren internationalen Durchbruch mit dem Sieg beim „Singer of the World“-Wettbewerb in Cardiff. Nach Studien in Belarus und St. Petersburg wurde sie 2012 von Teodor Currentzis für das Opernhaus in Perm engagiert. Koutcher trat an renommierten Häusern wie dem Bolshoi und der Pariser Oper auf, mit Rollen wie Lucia di Lammermoor und Violetta. 2023 erlitt sie einen gesundheitlichen Rückschlag, kehrte aber triumphierend am 23. März 2024 in Aarhus zurück, wo sie Richard Strauss‘ „Vier letzte Lieder“ sang.
Im Vorfeld zu ihrem Auftritt im Gasteig in München am 17. November 2024 hat Oxana Arkaeva für klassik-begeistert ein Interview mit Nadine Koutcher geführt.
klassik-begeistert: Sie haben sowohl in Osteuropa als auch im Westen studiert und gearbeitet. Wie haben diese unterschiedlichen musikalischen Traditionen Ihren Gesangsstil und Ihre Interpretationen geprägt?
Nadine Koutcher: Die Aufführungstraditionen europäischer Musik unterscheiden sich in Osteuropa kaum von denen im Westen oder Amerika. Während meines Studiums orientierte ich mich an großen Meistern wie Caballé, Sutherland und Pavarotti, was meinen Geschmack und meine Vision über die Kunst des Gesanges formte. In der Anfangsphase meiner Karriere arbeitete ich mit renommierten Regisseuren und Dirigenten wie Andrejs Žagars und Teodor Currentzis zusammen, die meine künstlerische Entwicklung entscheidend geprägt haben.
klassik-begeistert: Ihr Sieg beim BBC-Cardiff Singer of the World-Wettbewerb 2015 war ein Meilenstein. Wie hat dieser Erfolg Ihre künstlerische Entwicklung beeinflusst?
Nadine Koutcher: Der Sieg in Cardiff war wie ein unerreichbarer Traum und völlig unerwartet, bestätigte jedoch meinen Weg als Sängerin auf internationaler Ebene. Obwohl ich bis dahin bereits wichtige Debüts gegeben hatte, wie Elvira in „I Puritani“ in Chile und Verdis Requiem mit dem London Philharmonic Orchestra, öffnete mir der Wettbewerb die Türen zu führenden Opernhäusern. Ich debütierte als Violetta an der Berliner Staatsoper unter Barenboim und als Olympia in „Hoffmanns Erzählungen“ an der Pariser Opéra Bastille. Plötzlich zählten Stéphanie d’Oustrac, Ermonela Jaho und Ramón Vargas zu meinen Bühnenpartnern.
klassik-begeistert: Ihr Engagement am Opernhaus Perm wurde zu einem Karrieren-Sprungbrett. Wie hat die Zusammenarbeit mit Theodor Currentzis Ihre künstlerische Entwicklung beeinflusst?
Nadine Koutcher: Teodor Currentzis erkannte all meine Stärken und half mir, sie weiter zu entfalten. Wir fanden auf Anhieb eine gemeinsame Sprache und arbeiteten über viele Jahre äußerst fruchtbar zusammen. Er bot mir die Gelegenheit, an allen seinen bedeutenden Projekten sowohl in Russland als auch im Ausland mitzuwirken. Unter seinem Einfluss konnte ich mich schließlich vollständig als eigenständige Künstlerpersönlichkeit auf der Opernbühne entwickeln. Dafür bin ich ihm unendlich dankbar.
klassik-begeistert: Ihre Darstellung der Medea in Pascal Dusapins „Medea Material“ brachte Ihnen die Goldene Maske ein. Was reizt Sie besonders an zeitgenössischen Opernrollen?
Nadine Koutcher: Currentzis meinte, ich könnte mit meinem absoluten Gehör, solider theoretischer Ausbildung und hervorragenden Klavierfähigkeiten in der zeitgenössischen Oper „Geld scheffeln“. Zudem lerne ich schnell und lese problemlos vom Blatt. Meine Stimme ist jedoch viel klangvoller und emotionaler – Eigenschaften, die in moderner Musik nicht vollständig zum Ausdruck kommen. Daher entschied ich mich für Belcanto- und romantische Opern.
klassik-begeistert: Als dramatischer Koloratursopran bewältigen Sie technisch anspruchsvolle Partien. Wie bereiten Sie sich mental und physisch auf solche Herausforderungen vor?
Nadine Koutcher: Ich liebe vokale Herausforderungen und genieße es, sie zu meistern. Ich selbst unterrichte seit über 20 Jahren Gesang, was mir hilft, meine eigenen technischen Probleme zu bewältigen. Dadurch habe ich für mich meine eigene Gesangsschule entwickelt, indem ich alle nützlichen Informationen von Lehrern, Dirigenten und Gesangscoaches gesammelt habe und diese seitdem erfolgreich auf mich selbst anwende. Im Grunde bin ich das fertige “Produkt” meiner Vision und meines Hörverständnisses der Sängerstimme.
klassik-begeistert: Welche der von Ihnen bisher gesungenen Rollen sollen dauerhaft in Ihrem Repertoire bleiben?
Nadine Koutcher: Es ist zweifellos die Rolle der Marfa in “Die Zarenbraut”, und die Violetta in La Traviata.
klassik-begeistert: Viele Künstler sprechen von transformativen Momenten in ihrer Karriere. Gab es für Sie ein Schlüsselerlebnis, das Ihre Herangehensweise an die Musik grundlegend verändert hat?
Nadine Koutcher: Dieser Moment ereignete sich im dritten Studienjahr an der Fachschule, als ich Musiktheorie studierte. Ich bereitete mich darauf vor, Musikwissenschaftlerin zu werden. Aber irgendetwas lief anders und ich “klickte um” auf die Oper. Als die Frage nach der Wahl einer höheren Musikausbildungseinrichtung gestellt wurde, entschied ich meine Ausbildung als Opernsängerin fortzusetzen. Und wie man sieht, war es die richtige Entscheidung.
klassik-begeistert: In Ihren Auftritten verbinden Sie technische Brillanz mit emotionaler Tiefe. Wie gelingt es Ihnen, diese Balance zu finden und aufrechtzuerhalten?
Nadine Koutcher: Ein vollständiger Ausdruck von Emotionen auf der Bühne erfordert hundertprozentiges Wissen und Beherrschung der eigenen Stimme. Eine solide Gesangsausbildung ermöglicht es, sich auf der Bühne vollständig auf die Musik und die Figur zu konzentrieren, ohne über stimmliche Probleme nachzudenken. Wenn dies gelingt, ist es ein Hochgefühl – das vollständige Eintauchen in die Rolle, und ich liebe es.
klassik-begeistert: Wenn Sie auf Ihre bisherige Karriere zurückblicken: Welche Rolle oder Aufführung hat Sie persönlich am meisten berührt oder verändert, und warum?
Nadine Koutcher: Wahrscheinlich war es die Rolle der Medea in Medeamaterial am Opernhaus in Perm im Jahr 2013. Für mich war es ein Schritt über die Grenzen meiner bisheriger Gesangskunst hinaus. Wie man heute gerne sagt, ein “Verlassen der Komfortzone”. Ich musste mich dem Publikum in der abstoßendsten Form präsentieren, ich musste zwei Kinder “töten”. Und besonders Letzteres hatte einen starken emotionalen Einfluss auf mich.
klassik-begeistert: Wo und in welchem Fach sehen Sie sich in den nächsten 5 Jahren? Wo kann man Sie bald auf der Bühne erleben?
Nadine Koutcher: Ich stehe am Anfang meiner Rückkehr auf die Bühne und habe es fest vor, trotz aller Schwierigkeiten, die mir im letzten Jahr widerfahren sind. Ohne die Bühne wäre mein Leben unvollständig, weil mein künstlerisches Potenzial bisher nicht ausreichend verwirklicht wurde.
Am 17. November singe ich mit meiner Kollegin der Mezzosopranistin Polina Di Grande in einem Märchen und Wiegenlieder aus aller Welt Konzert im Münchener Gasteig unterschiedliche und seltene Wiegenlieder von Saint-Saëns, Gershwin, Rimski-Korsakow, Tschaikowsky, Scott, Manuel de Falla, de Meglio, Schubert und Strauß. Am 15. Und 16. November gebe ich ein Meisterklasse über Gesangstechnik beim Münchener Musikseminar. Alle, die sich dafür interessieren sind herzlich willkommen.
klassik-begeistert: Vielen Dank Frau Koutcher und wir wünschen Ihnen viel Erfolg und ein gutes Gelingen für all Ihre Vorhaben.
Oxana Arkaeva , 2. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Kurze Biografie von Nadine Koutcher:
Geboren in Belarus studierte Koutcher am Staatlichen Minsker Musikkolleg und setzte ihre Ausbildung am Sankt Petersburger Konservatorium fort. 2012 wurde sie von Teodor Currentzis für das Ensemble des des Opernhauses in Perm, Russland verpflichtet, wo sie unter anderem die Hauptrolle in der russischen Erstaufführung von Dusapins Medeamaterial sang und dafür ausgezeichnet wurde. Mit Currentzis veröffentlichte sie 2014 bei Sony Classical eine Sounf oft the Light CD mit Musik von Rameau und von Stravinskij´s Die Hochzeit. Sie erlangte Bekanntheit durch ihren Sieg bei einem der bedeutendsten internationalen Gesangswettbewerbe, Singer o the World in Carfiff, England. Sie überzeugte die Jury durch eine Kombination aus stimmlicher Qualität, technischer Exzellenz, musikalischer Präsentation und künstlerischer Persönlichkeit. Als Gast trat sie an renommierten Häusern auf, darunter im Bolshoj in Moskau, in der Warschauer Oper, im Teatro Real in Madrid, in der Staatsoper Unter den Linden, Berlin, im Théâtre du Capitole in Toulouse, im Teatro Municipal in São Paulo und die Pariser Oper. Koutcher’s Repertoire umfasst Rollen wie Donizettis Lucia di Lammermoor, Violetta in „La Traviata“, Gilda in „Rigoletto“ und Olympia in „Les Contes d’Hoffmann“. Sie trat auch mit bedeutenden Orchestern wie dem London Symphony Orchestra und dem Concertgebouworchester auf. Ein heftiger gesundheitlicher Schicksalsschlag brachte den raketenartigen Aufstieg der Sängerin im Jahr 2023 zum Halt. Dank erfolgreicher Behandlung, eiserner Disziplin, enormen Durchhaltevermögen und Willen besiegte die Sopranistin ihre Krankheit. Ihre Rückkehr auf die Bühne war am 23. März 2024 im Musikhuset in Aarhus, Dänemark, wo sie die „Vier letzten Lieder“ von Richard Strauss unter der Leitung von Dmitry Matvienko sang – dem neuen Chefdirigenten des Aarhus Symfoniorkester.