Der gebürtige Wiener Stefan Vladar ist seit der Spielzeit 2019/20 Generalmusikdirektor, mit der Spielzeit 2020/21 zudem Operndirektor am Theater Lübeck. Eigentlich ist Vladar Pianist; die Liste der Dirigenten, mit denen er zusammengearbeitet hat, liest sich wie ein Who’s who der großen Orchesterleiter der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Dass er in den großen Häusern weltweit gewirkt hat, machte ihn nicht zu einem abgehobenen Maestro mit Starallüren. Vladar ist ein charmanter, feinsinniger und engagierter Künstler und ausgesprochen angenehmer Gesprächspartner. Im Interview (1. Teil – morgen erscheint der 2. Teil) spricht er sehr offen über die Corona-Kulturpolitik, seine Arbeit mit dem Lübecker Orchester und die Opernprojekte. Er nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Qualität von Kunst geht. Vladar verrät auch, was er mit dem durch die Krise veränderten Spielplan vorhat.
Interview: Dr. Andreas Ströbl
AS: Lieber Herr Vladar, kaum hatte sich das Lübecker Publikum in Sie verliebt, schlug die Pandemie zu und – unter vielem anderem – das ganze schöne Beethoven-Jahr ging in die Grütze. Vielleicht muss dieses Interview nicht völlig Corona-dominiert werden, aber wir kommen zwangsläufig nicht drumherum. Am Samstag, dem 12. Dezember haben Kulturschaffende in Lübeck demonstriert und auf ihre mitunter verzweifelte Situation aufmerksam gemacht. Corona-leugnende Querdenker und Neofaschisten waren offenbar nicht dabei. Sind Sie dabeigewesen und was hätte auf Ihrem Transparent gestanden?
SV: Ich war dabei, aber ich war nur zur Abschlusskundgebung da. Also, man muss das alles sehr differenziert sehen. Nicht zuletzt bin ich ja auch 35 Jahre lang freier Künstler gewesen und habe natürlich sehr großes Verständnis dafür, habe selbst auch ganz viel verloren. Ich habe seit Februar keine Engagements gehabt und der Kalender wäre nicht ganz leer gewesen. Aber ich bin weich gebettet durch meine Anstellung und mir kann jetzt nichts passieren.
Was ich aber sagen muss: wir haben als Haus – und dafür habe ich mich persönlich eingesetzt – alle unsere Gäste, alle unsere Freiberuflichen, denen aus Corona-Gründen Engagements weggefallen sind, zum Teil oder zur Gänze bezahlt und wir haben den meisten Folgeverträge angeboten, was auch beileibe nicht alle Veranstalter und Häuser tun. Ich habe bei den Konzerten, die ich verloren habe, nicht einen einzigen Folgevertrag bekommen. Von einem Veranstalter habe ich 30 % Entschädigung bekommen, ansonsten ist alles einfach weg.
Die Branche leidet natürlich massiv darunter und das sind ja nicht nur die Künstler und die Musiker, da hängt ja ganz viel dran. Da hoffe ich doch sehr, dass der Staat die Schulden, die er gemacht hat, auch zum Teil in diese Kanäle weiterleitet, wobei ich das Gefühl habe und was ich so höre, dass das ganz gut funktioniert. Aber man muss einfach klarsehen: Das ist wahrscheinlich die größte Krise seit dem 2. Weltkrieg und die wird derzeit, da kann man nichts sagen, gut gemanagt. Jeder, der unter den Einschränkungen, die sich daraus ergeben, leidet, der leidet. Aber natürlich fördere ich als Leiter dieser Sparte diese Gruppe von Menschen, die jetzt wirklich arm dran sind.
AS: Das Lübecker Theater hatte ein, meiner Meinung nach, hervorragendes Hygienekonzept. Ist es angesichts der aktuellen Zahlen dennoch richtig, erstmal alles zuzumachen, um Schlimmeres zu vermeiden?
SV: Da antworte ich mit einem ganz klaren „Ja“! Also, allein aufgrund der Tatsache, dass, als die ersten Theater geschlossen wurde, man festgestellt, hat, dass man 75 % der Infektionsketten nicht zurückverfolgen kann, ist es nicht klar auszuschließen, dass die auch zu uns ins Haus kommen. Und daher ist der logische Schritt, dass man überall dort, wo – wie auch immer kontrolliert – eine große Menge an Menschen zusammenkommt, „Stop“ sagt. Das Problem ist ja auch, dass man bei so einem Theaterabend nicht die ganze Zeit brav nebeneinandersitzt und in eine Richtung schaut, sondern da geht man in der Pause noch plaudern oder geht danach noch in einen gastronomischen Betrieb und spätestens nach dem zweiten Bier ist der Abstand noch unerträglicher als er schon vorher war. Deswegen verstehe ich, dass man da gesagt hat, hier schieben wir mal einen Riegel vor.
AS: „Hier gilt´s der Kunst“. Schwenken wir mal um zu den wirklich schönen Aspekten des Lebens. Unter Ihrer Leitung hat sich das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck erstaunlich gesteigert. Musikerinnen und Musiker berichten, dass hier etwas ganz Besonderes passiert sei. Wie haben Sie das geschafft?
SV: Ich habe es nicht geschafft. DIE haben es geschafft! Ich habe nur geschafft, dass die es geschafft haben – wissen Sie, was ich meine? Ich habe nur versucht, das Bewusstsein des einzelnen Musikers zu schärfen, dass sein Tun wichtig ist und dass die Wichtigkeit seines Tuns sich nur dadurch in die Wichtigkeit des Tuns der anderen eingliedern kann, wenn sie auch die Wichtigkeit des Tuns der anderen mitbedingt. Celibidache hat mal gesagt: Symphonik heißt, das, was ich selbst tue, in Beziehung zu dem zu setzen, was die anderen tun. So bin ich aufgewachsen, so habe ich mich als Student mit Celibidache´schen Arbeiten auseinandergesetzt. Ich will jetzt gar nicht über die Ergebnisse geschmacksmäßig diskutieren, aber es geht um diese Bewusstseinsschärfung. Und ich glaube, dass es für ein Theaterorchester besonders wichtig ist, dass man ein bisschen aus der Routine, aus dem, was wir können, weggleitet. „Der Dirigent, der ist so wichtig“, dieses kapellmeisterliche Dirigieren, das ist, was ich weder kann noch will. Ich kann´s besser als ich es will, aber ich will´s nicht. Es gibt einen Ausspruch von Kleiber, der mal gefragt wurde, warum bei ihm in der Oper alles so gut zusammen sei und er hat gesagt, das liegt an meinem lausigen Dirigat, denn die einzige Referenz, die ein Orchester haben darf, müssen die Sänger sein. Natürlich ist das wie alles bei Kleiber mit doppeltem Augenzwinkern zu verstehen. Aber da steckt viel Wahrheit drin.
Also, wie habe ich das geschafft? Ich habe geschafft, dass die Musiker wieder das Gefühl haben, dass das, was sie tun, wichtig ist. Das ist die Kurzfassung.
AS: Celibidache ist ja als Orchesterleiter auch nicht so ganz einfach gewesen. Und wenn wir an Toscanini denken oder an meinen Gott, Mahler, dem hat man ja Despotismus vorgeworfen, ich denke, nicht ohne Grund. Aber so kommen Sie jetzt nicht rüber.
SV: Nein, weil ich glaube, dass das erstens heutzutage nicht mehr geht und zweitens auch nicht notwendig ist, sondern dass das alles mit einer gewissen respektvollen Kollegialität möglich sein muss. Ich sag Ihnen was: ich bin ja selbst Musiker, gelernter Spieler; ich weiß, was es bedeutet, sein Instrument so zu beherrschen, dass das genügt. Ich weiß, dass jeder Orchestermusiker ein hervorragend ausgebildeter Spezialist ist. Das muss man einfach wissen und ich weiß das, auch wenn sie einem manchmal auf die Nerven gehen. Und als hochausgebildete Spezialisten haben sie einen respektvollen Umgang verdient. Sie hätten es auch ohne das Spezialistentum, jeder Mensch hat das verdient. Aber vonseiten des Dirigenten finde ich, dass der respektvolle Umgang das Wichtigste ist, um denen das Gefühl zu geben, dass man es schätzt, was die können. Die können alle etwas, was ich nicht kann. Ich kann nicht Oboe spielen, ich kann nicht Kontrabass spielen, ich kann nicht Pauke spielen. Ich will auch nicht dirigieren, ich will auch denen nicht die Arbeit abnehmen. Ich dirigiere immer mal so in die Luft und frage: „Hören Sie was? Also, ich hör nichts!“ Das bringt ja niemandem was außer meinem Ego. Ich habe geschafft, dass die jetzt zusammenspielen, aber mein Ego ist das Irrelevanteste, was es überhaupt gibt.
AS: Ihre Lieblingsoper „La Traviata“ gab es ja erst in Lübeck unter Manfred Hermann Lehner. Was wäre denn Ihr liebstes nächstes Lübecker Opernprojekt?
SV: Wir wälzen ja dauernd Spielpläne und müssen alles wieder nach hinten anstellen. Ich habe mir ein paar Sachen in die Pipeline gelegt, die wir hier machen wollen. Es ist jetzt wahnsinnig gefährlich, wenn ich jetzt ein Stück nenne oder zwei und dann kommen die nicht, weil die halt nicht kommen können. Es gibt einen Katalog an Lieblingsopern, die ich habe und von denen auch ein Großteil im Katalog der Lieblingsopern von Carlos Kleiber zu finden ist. Damit kann ich mich ganz gut aus der Affäre ziehen. Wobei – der „Freischütz“ ist es nicht.
AS: Ist eine weitere segensreiche Zusammenarbeit mit Anthony Pilavachi in Aussicht?
SV: Ja, die ist auf jeden Fall in Aussicht. An der Position, wo wir jetzt den „Tolomeo“ gemacht haben, war ja der Lohengrin geplant. Der Lohengrin wird kommen, wir wissen noch nicht genau, wann er kommen wird, aber das ist in jedem Fall die nächste Zusammenarbeit mit Pilavachi. Das war meine erste Amtshandlung hier als designierter Operndirektor, dass ich zum Telephon gegriffen habe und dann habe ich den Pilavachi angerufen.
AS: Es gibt eine ganze Menge Leute hier in Lübeck, die das wirklich sehr begrüßen. Ich nenne ihn den „Zauberer“, weil der Mann wirklich zaubert. Das passt ja auch Thomas-Mann-mäßig zu Lübeck.
SV: Ja, er hat ein ganz klares Gespür fürs Theater, er hat einen sehr subtilen Humor, das war ja auch im „Tolomeo“ ganz stark und er hat ein ganz unglaubliches Gefühl für die Musik. Alles, was er inszeniert, ist an der Musik inszeniert.
AS: Man hat das ja bei seinem Tristan, seinem Parsifal oder dem Berlioz-Faust gesehen – das war bildgewordene Musik. Oder umgekehrt.
SV: Ja, das mag ich sehr. Ich bin ja nicht so der erfahrene Opernfuchs, ich mache das ja nicht seit tausend Jahren und konnte mir´s am Anfang ganz schlecht vorstellen, auch bei den ersten Proben, wo das hingehen soll. Er hat mir das Konzept erklärt und ich fand das genial und dann hat es sich in der Arbeit immer mehr gezeigt, was es eigentlich sein soll und ich finde, dass er das Konzept perfekt erzählt hat. Für jemanden, der ein bisschen ein geschärftes Auge und Ohr hat, lässt das keine Fragen offen. Man fragt sich nicht: „Was hat der jetzt damit gemeint?“. Marcel Prawy hat mal erzählt, dass er nach einer Traviata-Vorstellung in Deutschland, bei der am Schluss alle gestorben sind, zur Kasse gegangen ist und gesagt hat: „Es hat mir sehr gut gefallen, aber ich möchte bitte mein Geld zurück, denn es war nicht ‚La Traviata‘, und auf meiner Karte stand ‚La Traviata’“.
AS: Werden Sie denn einige der ausgefallenen Beethoven-Konzerte in der „MuK“ (Musik und Kongresshalle) nachholen? An diese Frage schließt sich die nach der Flexibilität des Spielplans für 2021 an.
SV: Ich plane, den Beethoven-Zyklus noch zu machen. Die ganz großen Komponisten brauchen keine Jubiläen und daher wird man sie auch weiter spielen, auch wenn das Jubiläum vorbei ist.
AS: Wann bringen Sie denn mal Ihren Freund Bo Skovhus nach Lübeck? Ihre gemeinsamen Liederabende haben ja eine jahrzehntelange Tradition.
SV: Mit Bo Skovhus bin ich natürlich in Kontakt und wir haben einige gemeinsame Ideen für die nahe Zukunft in Lübeck. Was genau das dann werden wird, kann ich allerdings im Moment noch nicht verraten.
AS: Dieses Interview ist in Wirklichkeit nur ein Vorwand, um den Wunschzettel meiner Frau und von mir abzuliefern. Wann wird es denn mal wieder eine Mahler-Symphonie geben? Und wie wäre es mal mit Schrekers „Irrelohe“, dem 2. Klavierkonzert von Ernst von Dohnáyi, der 1. Symphonie von Felix Woyrsch oder der von Rued Langgaard? Toll für das Konzertrepertoire wäre auch mal was Zeitgenössisches von Kaija Saariaho oder Luc Ferrari. Von meiner Frau kam auch vorhin noch der Wunsch nach Zandonais „Francesca da Rimini“.
SV: „Francesca da Rimini“ würde ich eher von Rachmaninoff machen, ein Komponist, den ich für einen der missverstandensten überhaupt halte.
AS: Es gibt nicht nur die Klavierkonzerte…
SV: Es gibt nicht nur die Klavierkonzerte, und die muss es auch nicht immer mit diesem Gesülze und Geschmuse geben. Also, zum Wunschzettel: Mahler kommt. Wir wissen noch nicht, wann und was. Es war ja geplant, die 8. zu machen, die ist natürlich der Situation zum Opfer gefallen. Ob es jetzt die 8. wird, weil die ja für ein Ensemble unserer Größe ein bissel eine Hybris ist, so das Geld rauszuballern… aber natürlich ist das ein meisterhaftes Stück. Ich habe mich bis jetzt eigentlich nur mit den ersten vier beschäftigt. Ich würde mich auch gerne mal mit den späteren befassen. Also die 5. – ganz großartige Musik! Beim langsamen Satz der 5. kippt der Mahler in einen neuen Stil. Ich komme mit der 7. ganz schlecht zurecht, das ist mir zu konstruiert.
AS: Er selbst hat sie ja als „fröhlich“ beschrieben, aber fröhlich ist sie natürlich auch nicht. Es ist eben nicht der Mahler, den wir mit dieser seelischen Direktheit, mit diesem „ich treff´ dich jetzt!“ verbinden, das fällt in der 7. irgendwie weg.
SV: Ja, das fällt hier weg, die geht nicht zu Herzen und das tun sie ja sonst alle und am meisten tut´s die 9., finde ich. Diese letzten sieben Minuten – wunderbar! Und das Scherzo gehört zum Beeindruckendsten, was es gibt. Die 8., da kann man auch drüber streiten. Der katholische Jubel – so geil der daherkommt, den kaufe ich ihm nicht ganz ab.
AS: Ich finde ja am stärksten in der 8. eher die Instrumentalteile. Für mich ist das musikgewordenes Licht mit Zauberblüten, die erhaben bis ins Weltall strahlen. Tut mir leid, ich kann nicht geringer als so über die 8. sprechen…
SV: Genau. Man muss trotz aller Gesangsteile in den Mahler´schen Werken nicht traurig sein, dass er keine Oper geschrieben hat. Das merkt man auch beim „Lied von der Erde“, wo auch die instrumentalen Zwischenspiele am stärksten sind. Ich habe das ja oft gespielt und bewundere meinen Sänger immer, dass der acht Minuten vollkommen regungslos dasteht. Aber ohne die Orchesterbehandlung wäre das auch eine ganz andere Geste. Also – Mahler kommt. Was die anderen Stücke, die zeitgenössische Musik betrifft: Ich habe einen seltsamen Zugang zur neuen Musik, das gebe ich zu, den teile ich auch mit einer Großzahl an Menschen. Nicht alle geben´s zu und ich habe einige wenige Komponisten, die ich als wahre Schätze bezeichne, wobei ich vollkommen subjektiv bin. Manch andere, und da bin ich genauso subjektiv, halte ich für unerträglich. Ich bin ein großer Freund von Lutosławski, der ist für mich einer der Größten. Ich bin total überrascht gewesen über die letzten Entwicklungen von Wolfgang Rihm, und zwar äußerst positiv. Ich kann mit der ganzen Dodekaphonie und ihren Folgeerscheinungen relativ wenig anfangen, und das ist mir massiv vorgeworfen worden. Ich kann mit diesen italienischen Konstruktivisten wenig anfangen, ich kann wenig anfangen mit all dem, was experimentell war und dann wieder verschwunden ist. Xenakis und so weiter, da falle ich auch raus. Ich kann mit jeder Musik was anfangen, die in mir eine Erwartungshaltung auslöst und sie dann entweder erfüllt oder bricht, aber wenn ich nichts erwarte, außer dass ich hoffe, dass es irgendwann aus ist oder ich nicht mal weiß, wann es aus sein soll, dann tue ich mich einfach schwer.
AS: Lieber Herr Vladar, herzlichen Dank für das Gespräch!
Interview: Dr. Andreas Ströbl, 22. Dezember 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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