Janine Jansen, Orchestre de Paris, Klaus Mäkelä, Philharmonie Essen, (c) Sven Lorenz
Janine Jansen und das Orchestre de Paris brillieren unter Klaus Mäkelä in Essen
Jean Sibelius (1865-1957) – Violinkonzert op. 47
Hector Berlioz (1803-1869) – Symphonie fantastique op. 14
Janine Jansen, Violine
Orchestre de Paris
Klaus Mäkelä, Dirigent
Essen, Philharmonie, 16. März 2023
Es ist noch immer eine Bereicherung, Leonard Bernsteins Vortrag „Berlioz Takes a Trip“ zu hören, den er im Mai 1969 im Rahmen seiner Young People’s Concerts gab:
Pretty spooky stuff! And it’s spooky because those sounds you’re hearing come from the first psychedelic symphony in history, the first musical description ever made of a ‘trip’, written 130-odd years before the Beatles.
von Dr. Brian Cooper
In unseren leicht hysterisch-übersteuert anmutenden Zeiten, in denen nahezu jeder Mensch irgendetwas findet, über das er sich empören kann, zum Teil übrigens mit Recht, wäre es natürlich undenkbar, vor Kindern und Jugendlichen in dieser Weise über Drogenexzesse und Opiumträume zu sprechen. „Lenny“ würde umgehend von der Bühne gezerrt und sodann möglicherweise wegen Kindeswohlgefährdung gelyncht, und so würde man sein leidenschaftliches Plädoyer für die Musik von Hector Berlioz verpassen – genauer: für die in jeder Hinsicht fantastische Sinfonie op. 14.
(Nota bene: Der Schreiber dieser Zeilen konsumiert nur legale Drogen und hat noch nicht einmal gekifft – und das, obwohl seine Mutter ihn im Kindesalter zum Zigarettenholen schickte, heutzutage undenkbar. Und siehe da, aus ihm ist etwas geworden, er darf für Klassik begeistert schreiben…)
Was nun das Orchestre de Paris unter seinem Chefdirigenten Klaus Mäkelä mit dieser faszinierenden Musik anstellte, vielleicht dem sinfonischen Stück der französischen Romantik schlechthin, war von ähnlicher Güte wie schon acht Tage zuvor in der Kölner Philharmonie. Der Tourneeplan will es, dass man kreuz und quer reist, und so kamen bedingungslose Fans – des Orchesters, des Dirigenten, der Solistin und/oder des Programms – in NRW in den Genuss einer Programmwiederholung nach gut einwöchiger Pause, wenngleich man sich zwischendurch das grandiose Konzert des London Philharmonic unter Karina Canellakis in Köln gönnen konnte (Beethovens Coriolan und Eroica, sowie Prokofjews 3. Klavierkonzert mit Daniil Trifonov als Solist).
Und eben dieses Orchester, das London Philharmonic also, war es, das Yannick Nézet-Séguin vor geschätzt dreizehn Jahren nach Köln brachte, um die Philharmonie in einem unvergesslichen Konzert aus den Angeln zu heben. Das war und ist bis heute meine Symphonie fantastique für die einsame Insel, live und in Farbe, doch der charismatische Klaus Mäkelä und das Pariser Sinfonieorchester kamen in Köln wie in Essen dem damaligen Ereignis schon sehr nahe.
Man kann durchaus die fünf Sätze der Symphonie fantastique in drei „Abteilungen“ gliedern, ähnlich also wie bei Mahlers Fünfter, und so fasst Klaus Mäkelä das Berlioz’sche Werk offenkundig auch auf: Die Sätze eins und zwei sowie vier und fünf gingen nahezu nahtlos ineinander über.
Der Kopfsatz war ein kräftig-feuriges Pariser Statement, nach dem Motto „Hier sind wir, und wir präsentieren Euch stolz ein Kernstück unseres französischen Repertoires. Hört gut zu!“ Und das tat denn auch das Essener Publikum. Wunderbar gelang danach auch der harfenselige zweite Satz, schlicht „ein Ball“ tituliert und passenderweise im Dreiertakt, wobei für mich hier die beiden Harfenistinnen Delphine Benhamou und Annabelle Jarre die heimlichen Superstars waren.
Der Dialog zwischen Englischhorn (fabelhaft: Gildas Prado) und Oboe im Mittelsatz war in Essen einmal mehr formidabel; die Oboe hier, wie auch die Glocken im Finalsatz, die das mittelalterliche Dies irae-Motiv des jüngsten Tages begleiten, wurden abseits der Bühne gespielt – ein prima Effekt, der Mahlers entsprechende Passagen bereits erahnen lässt. Donnergrollen der Pauken am Ende, ein bedrohliches Szenario, sozusagen die Pastorale des Hector Berlioz. Aber es geht nicht gut aus für den Helden.
Und waren die ersten drei Sätze schon richtig gut, geriet die dritte Abteilung, also die letzten beiden Sätze, zur Sensation. Der vierte Satz, in dem sich der unglückliche Liebhaber auf dem Weg zum Schafott sieht, ist ein Marsch in den Tod. Das Blech gab alles, und der letzte Schlag der vermeintlichen Guillotine ließ einen erschauern.
Gänsehaut auch im letzten Satz. Das Ende der Sinfonie ist so trubelig wie sonst vielleicht nur die Zehnte von Schostakowitsch. Kurz vor Schluss gemahnen die col legno-Streicher an den Knochenmann, der uns alle irgendwann abholen wird, früher oder später, ins Nirgendwo oder in eine bessere Welt, wer kann das schon wissen. Die genial-chromatisch-virtuos-abwärtsbewegten letzten Posaunentöne künden von eben diesem jüngsten Tag, aber sie könnten auch von einer Ekstase künden, die im Hier-und-Jetzt möglich ist und durchaus lustvolle Orgien des Diesseits heraufbeschwört. Hellstes C-Dur, herrlicher Schluss.
Aus meiner Verehrung für Janine Jansen mache ich keinen Hehl, seit ich sie nicht nur vor zwei Jahrzehnten kammermusikalisch erlebt habe, sondern auch in einem Konzert für die Ewigkeit mit dem Concertgebouworkest unter Mariss Jansons in Berlin, bei dem sie – übrigens in Anwesenheit der damaligen Königin Beatrix – das e-Moll-Konzert von Mendelssohn spielte. (Es folgte die Vierte von Brahms, es war also eine Sternstunde in e-Moll.)
Wann immer Frau Jansen einen Konzertsaal in unserer Nähe beehrt, versuche ich, dem Konzert beizuwohnen – vor allem, wenn sie eines der großen „D-Konzerte“ im Gepäck hat, also die beiden D-Dur-Konzerte von Brahms und Beethoven oder eben das d-Moll-Konzert von Jean Sibelius, wie auf dieser Tour. Es ist ein unglaublich intensiver Geigenton, den sie hat, und in Essen spielte sie wie um ihr Leben. „Wahnsinn“, hauchte der Herr neben mir, als der erste Satz beendet war.
Sensibel begleitet von Mäkelä und den Parisern, hatte Janine Jansen alle Freiheiten der Gestaltung. Sieht man von ihrer stupenden Technik ab (es gibt unfassbar viele tückische Oktaven sowie Flageoletts, Doppelgriffe der schlimmeren Art und schwer zu spielende Intervallsprünge der Extreme), ist man einfach nur beseelt von der Intensität und Humanität ihres Spiels. Sie und ihre Geige sind das Vehikel, durch das die Musik zu uns gelangt. Sie agiert als Dienerin großartiger Musik.
Das Wunderbare an diesem Abend: Die Musik kommt aus der Stille, vor allem zu Beginn des ersten Satzes, aber auch in den Holzbläserduetten am Anfang des zweiten Satzes. Und das Essener Publikum machte mit, indem es einfach nur aufmerksam lauschte und so zu einem Konzertabend beitrug, den man noch lange im Gedächtnis behalten wird. „Geht doch“, denkt sich der Kölner, es wurde kaum gehustet…
Die sogenannte „Hundenummer“ zum Ende des Konzerts – also das Ritual, bei dem der Dirigent die Ausführenden zum Sonderapplaus einzeln oder als Gruppe aufstehen lässt – war insofern bemerkenswert, als fast alle Musikerinnen und Musiker des Orchesters dem Dirigenten zurückapplaudierten. Offenbar besteht ein gutes Verhältnis zwischen Chef und Ausführenden. Man darf gespannt sein, für welches zusätzliche Orchester sich Mäkelä entscheidet, wenn er 2027 Chef in Amsterdam wird. Schließlich ist er nicht nur in Paris, sondern auch in Oslo Chefdirigent. Und alle drei, plus Gastauftritte? Schwierig.
Freuen wir uns – zumindest alle, die Karten ergattern konnten – auf Mahlers Zweite in Hamburg.
Dr. Brian Cooper, 17. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Oslo Philharmonic, Klaus Mäkelä,Jean Sibelius Sinfonien Nr.3 und 5 Elbphilharmonie, 1. Juni 2022
Igor Levit, Klavier Orchestre de Paris Konzerthaus Dortmund, 29. Mai 2022