Foto: © Anne van Aerschot
„Mitten wir im Leben sind“
Johann Sebastian Bach, 6 Cellosuiten, BWV 1007 – 1012
Compagnie Rosas
Anne Teresa De Keersmaeker, Choreografie
Jean-Guihen Queyras, Violoncello
Boštjan Antončič, Marie Goudot, Anne Teresa De Keersmæker, Julien Monty, Michaël Pomero, Kreation und Tanz
An D’Huys, Kostüm
Luc Schaltin, Lichtdesign
9500 Zuschauer lassen keinen Mucks von sich. Sie sitzen ganz ruhig und bewegen sich nicht. Sie schwelgen und träumen und sind restlos begeistert: von Bachs sechs Cellosuiten, dargeboten vom besten Cellisten der Welt.
5. September 2015, Royal Albert Hall, London, BBC Proms: Millionen Menschen lauschen weltweit auf BBC, wie der US-Amerikaner Yo-Yo Ma eine der größten Kompositionen der Musikgeschichte spielt. Ein Solitär, ein göttliches Geschenk an die Menschheit. Sie werden Zeuge, wie ein einziges Instrument, das Cello, ein ganzes Universum instrumentaler Möglichkeiten abbildet – ein ganzes Universum emotionaler Eindrücke.
3. September 2017, Elbphilharmonie, Großer Saal, Hamburger Hafen. 2100 Zuschauer verfolgen im neuem Klassik-Tempel Bachs Jahrtausendkomposition. Am Cello: der Kanadier Jean-Guihen Queyras. Dazu tanzen bis zu drei Tänzer und zwei Tänzerinnen der Compagnie Rosas.
Restlos begeistert sind an diesem Abend nicht besonders viele Klassik-Freunde in Hamburg. Der einminütige Schlussapplaus ist für Elbphilharmonie-Verhältnisse mager. Auch absolute Ruhe will an diesem Sonntag nicht einkehren: Etwa 70 Zuschauer verlassen den Großen Saal schon vor dem Ende der Aufführung – viele mitten in den Suiten, einige quälen sich dabei mühsam an sitzenden Zuschauern vorbei.
Es sollte ein ganz großer Abend werden. Mit Choreografien zu Johann Sebastian Bachs Cellosuiten startete die Hamburger Elbphilharmonie – nach der wunderbaren Opening Night des NDR Elbphilharmonie Orchesters am Freitag – in ihre erste reguläre Spielzeit. Auf dem Programm stand die Uraufführung „Mitten wir im Leben sind“ der belgischen Starchoreografin Anne Teresa De Keersmaeker und ihrer Compagnie Rosas. Zusammen mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras haben die fünf Tänzerinnen und Tänzer eine zeitgenössische Interpretation der klassischen Barockstücke entwickelt. Dabei sollte jeder Tänzer, darunter auch die Choreografin, eine Cello-Suite auf seine ganz persönliche Weise interpretieren.
Bachs sechs Suiten für Violoncello solo sind Meilensteine der Musikgeschichte, quasi die Bibel der Cellisten. Ihr Erfindungsreichtum, ihr Tiefsinn und ihre Schönheit berühren bis heute. Wie überirdisch schön sie klingen, davon gab Yo-Yo Ma in der Royal Albert Hall ein beeindruckendes Zeugnis und davon zeugen viele Einspielungen, die auch auf Youtube zu hören sind.
Die Belgierin Anne Teresa De Keersmaeker, 57, gilt als eine der einflussreichsten Erneuerinnen des zeitgenössischen Tanzes. Mit ihrer Choreografie wollte sie die Essenz von Bachs musikalischer Sprache – Suiten sind Abfolgen barocker französischer Tänze – erfassen und in Bewegung setzen. So sollte eine faszinierende Symbiose von Musik und Tanz entstehen, die sowohl das Wesen jeder einzelnen Suite wie auch ihre Wechselwirkung in der Gesamtheit des Zyklus enthüllt.
Auch das Programmheft versprach Großartiges: „De Keersmaeker koppelt, ihrem Prinzip ‚one note, one step’ folgend, hier jede Bewegung und jeden Schritt des Tänzers an die Noten, und es scheint, als würde auch das Publikum im Laufe der Vorstellung Schritt für Schritt tiefer in den Sog von Bachs Musik geraten.“
In diesen Sog gerieten die meisten Zuschauer leider nicht. Und das lag an den Tänzern. Ihre Bewegungen lenkten mehr von der Musik ab, als sie zu verdeutlichen und ihre Magie zu untermalen. Die Bewegungen waren zu einfach, zu wenig grazil und zu wenig anmutig. Ja, diese Darstellung war ein wenig plump, ein wenig langweilig und ein wenig stümperhaft – das bekundeten auch viele Zuschauer nach der Vorführung. Auch passte das Outfit der Tänzer – bei den Männern dunkle graue und blaue T-Shirts sowie graue, kurze Hosen – nicht zum göttlichen Bach.
Am schlimmsten aber waren die Geräusche der Gummisohlen, die in weiten Strecken den Genuss von Bachs Meisterwerk störten.
Bachs Musik erfordert absolute Ruhe und Hingabe – besonders dann, wenn nur ein Cello spielt!
Jean-Guihen Queyras, 50, ist Professor für Violoncello an der Hochschule für Musik in Freiburg im Breisgau.. Er spielt ein Cello von Gioffredo Cappa, das 1696 angefertigt wurde, also älter ist als die Bach-Suiten. Der Kanadier spielt aber mit Stahlsaiten und einem modernen Bogen.
Selbst bei Queyras’ sehr raschem Tempo schien die Musik nie gehetzt oder mechanisch abgespult. Sie atmete, lebte in fast jeder Note und war voller Poesie.
Aber an Yo-Yo Ma kam der Kanadier mit Abstand nicht heran. „Ausnahme-Cellist sorgt für Ausnahmezustand“ – so hatte klassik-begeistert.de über das Konzert von Yo-Yo Ma und der britischen Pianistin Kathryn Stott am 24. Januar 2017 in der Elbphilharmonie geschrieben. „Mit stehenden Ovationen bedachten die Zuschauer die beiden Ausnahmekünstler. Erst nach vier Zugaben durften sich der US-Amerikaner mit chinesischen Wurzeln und seine Begleiterin von den 2100 Zuschauern verabschieden. Yo-Yo Ma ist Cello pur. Der butterweiche bis herbe Klang geht unter die Haut. Thank you, für Ihren außerordentlichen Auftritt in Hamburgs neuer Perle. Das waren Devotion und Perfektion pur. Wer Yo-Yo Ma spielen hört, der möchte eigentlich nichts anderes als nur mehr Cello hören. Wer Yo-Yo Ma auf seinem Kind spielen hört, der glaubt, er höre das schönste Musikinstrument der Welt.“
Diese Yo-Yo Ma-gie stellte sich bei Jean-Guihen Queyras am Sonntagabend nicht ein – auch wenn der Generalintendant der Elbphilharmonie, Christoph Lieben-Seutter, ihn als „einen der besten Cellisten der Gegenwart“ angekündigt hatte. Dennoch: Der Kanadier und vor allem die Musik Bachs waren es, die diesem Abend den Glanz gaben –nicht der unpassende Tanz der belgischen Compagnie Rosas.
Ein Zuschauer brachte es lautstark – der ganze Große Saal hörte es !– für viele Anwesende wunderbar auf den Punkt, als ein Tänzer sich während der vierten Suite mehr als zehn Minuten ohne Musik sich auf der Bühne bewegte: „Ich hätte die Musik echt gerne gehört!“ Beifall brandete auf, als Queyras nach dieser Tanzeinlage wieder in den Saal kam und weiterspielte.
Jetzt wandert die Produktion nach Brüssel (23. – 27. September), Brügge (24. Oktober), Antwerpen (15. – 18. November), ins Berliner Hebbel Theater (9. – 13. Dezember), nach Gent (15. – 16. Dezember), Liège (8. – 9. Februar), Leuven (28 – 30. März), Lille (6. – 7. April), Heidelberg (9. – 10. April), Hasselt (2. Mai), Luxemburg (4. – 5. Mai), Frankfurt am Main (5. – 6. Juni), Montpellier (4. – 6. Juli), Amsterdam (9. – 10. Juli) und Ludwigsburg (12. Juli) – einschließlich der ersten Vorstellungen in Gladbeck auf der Rhurtriennale 44 Vorstellungen in einem dreiviertel Jahr!
Andreas Schmidt, 4. September 2017, für
klassik-begeistert.de
Schade, dass es Ihnen nicht gefallen hat. Aber in welcher Form die Musik zur Aufführung kommen würde, war von vornherein klar. Und der Zwischenruf ist einfach unanständig, und zwar immer. Die Menschen da auf der Bühne arbeiten hart, ob mir das Ergebnis nun gefällt oder nicht. Eine Frage des Respekts.
R. Bube