Abgründe des Menschseins in der Elbphilharmonie

John Malkovich: Just Call Me God, A Dictator’s Final Speech,  Elbphilharmonie Hamburg

Foto: C. Höhne
John Malkovich: Just Call Me God – A Dictator’s Final Speech
Szenische Produktion in englischer Sprache.
Weltpremiere im Auftrag der Elbphilharmonie Hamburg
Elbphilharmonie, 8. März 2017

Von Sebastian Koik

John Malkovich betritt die Bühne als Putzfrau verkleidet, mit Kopftuch und mit Maschinengewehr im Anschlag. Und unabhängig von der Waffe erobert er die Bühne im Sturm. Mit dem Auftritt dieses Schauspielers wird der Abend zum Happening, zum großen Ereignis.

Malkovich spielt den mit grenzenlos-übersteigertem Selbstbewusstsein ausgestatteten fiktiven, aber idealtypischen Diktator Satur Diman Cha mit größter Autorität und Selbstverständlichkeit. Ihm gelingt die perfekte Verkörperung des Wahnsinnigen. Man nimmt ihm das zu 100 Prozent ab. Und er braucht nicht einmal ein passendes Kostüm dazu. Irgendwann später zieht er sich dann aber doch um, zweimal, und trägt passend zu seinem Ego zuerst goldene und dann schwarz funkelnde Schuhe.

Ein Akteur des Stückes ist die Orgel, das gewaltigste, mächtigste aller Instrumente. Der Diktator hat die Macht über den Organisten, damit über die Orgel und über die Musik und beherrscht mit der Kraft der Musik den kompletten Innenraum der Elbphilharmonie. Er lässt den Organisten an die Orgelbank fesseln und bestimmt, wann gespielt wird und was gespielt wird. Erst mit der Kontrolle über die Kunst scheint die Macht des Diktators total zu sein.

Wenn John Malkovich das erste Mal direkt in die Kamera schaut, wird sofort klar, dass er nicht nur eine Bühne beherrscht, sondern auch die Kamera. Das gilt sowohl für John Malkovich als Schauspieler als auch für die verkörperte Figur des Diktators. Er benutzt die Kamera als Spiegel – im wahrsten Sinne des Wortes. Für ein Interview mit der Kriegsreporterin Caroline Thomas (gespielt von Sophie von Kessel) schminkt er sich im Spiegelbild der Kamera. Dadurch wird die Macht über die Kamera und ihre Manipulation für seine Zwecke in schönster Vollkommenheit veranschaulicht.

Im Interview spricht die Journalistin mit dem Diktatoren die meiste Zeit auf Augenhöhe. Man kann sich keinen Gesprächspartner vorstellen, der mehr auf Augenhöhe mit einem Diktator wie diesem agieren kann als einen Journalisten im Allgemeinen und diese Journalistin im Speziellen. Der Journalismus wird hier als Macht gezeigt, als vierte Gewalt. Ein Gegengewicht gegen politische und militärische Gewalt, ein Faktor im Spiel der Mächte. Sie will ihm gewissermaßen sogar die Beichte abnehmen, fordert den Diktator auf, sich etwas vom Gewissen zu reden. Dann gibt es einen schrägen Moment der Wahrheit, der Vereinnahmung, der Manipulation.

Der Diktator macht das Publikum in der Elbphilharmonie für einen Moment zu seinem Komplizen. Er erzählt Geschichten aus seiner Jugend, in denen er höchst grauenhaft, brutal, mörderisch handelt und bringt mit seinem Humor das Publikum dazu, über diese furchtbaren und gewalttätigen Erzählungen kräftig zu lachen und sich köstlich zu amüsieren. Der vielleicht stärkste Moment von vielen sehr starken Momenten im Stück. Ein krasser und erschreckender Moment. Und ein Moment von großer Wahrheit. Über Macht, Manipulation und Mittäterschaft in Bereichen des Unbegreiflichen.

Doch während der vermeintlichen Beichte des Diktators, seiner Rede, wird zunehmend klar, dass Worte für ihn nichts mit Wahrheit von Inhalten zu tun haben. Es geht für ihn nur um die Wahrheit ihrer Macht , die Wahrheit ihrer Wirkung und die Wahrheit ihrer Manipulationskraft. Er präsentiert eine offizielle und eine inoffizielle Version von Ereignissen, und man versteht hinten und vorne nicht, was nun wirklich passiert ist. Komplette Desinformation. Und am Ende ist anscheinend nichts wahr. („Neither version of the story is true“.) Er redet über Gründungsmythen und die Notwendigkeit der Vernebelungstaktik für einen Diktator wie ihn und die Notwendigkeit von Geschichten in der Politik im Allgemeinen. Und wie aus Geschichten Geschichte wird: „Any story about me could be true. It’s important my people, believe that. And they do. … Politics is all about stories – mostly fictitious ones. Simple stories with strong emotions, later to be called histories.“

Für eine Weile nimmt die Journalistin beim Reden mit ihrem Gegenüber, mit den Armen selbstbewusst auf dem Rednerpult abgestützt, den Platz auf dem Diktatorenpodest ein, die Macht und Augenhöhe der vierten Gewalt veranschaulichend. Irgendwann sitzen die beiden in scheinbar großer Vertrautheit eng nebeneinander und plaudern in scheinbar großer Intimität über Persönlichstes. Sie redet über ihren ersten Orgasmus, über ihren Sex an diesem Morgen. Jetzt manipuliert die Journalistin ihr Publikum und ihn, den Diktatoren. Um ihm schließlich seinen goldenen Revolver zu entreißen. Jetzt hatte sie also gespielt, gelogen, manipuliert. Doch auch mit dem auf ihn gerichteten Revolver verliert der Diktator nicht seine Ruhe und Gelassenheit, seine Souveränität und seinen Humor.

Dann scheint das Stück eine Wendung zu nehmen. Der vermeintliche Diktator offenbart sich als Double des Diktators, als Schauspieler. „I am only a clown in this tragedy!“ Man fragt sich als Zuschauer, ob das wahr ist, ob der Mann in Diktatorengarderobe nicht doch nur ein Kostüm trägt. Aufdeckung der Wahrheit oder erneute Manipulation? Diktatoren haben schließlich oft Doppelgänger, Doubles. Oft sogar mehrere. War alles nur gespielt? Oder will der Diktator doch nur seine Haut retten? Er sagte es vorher selbst: „Any story about me could be true.“

Wenn der Diktator nur gespielt war, denke ich als Zuschauer: „Meine Güte, wie großartig und absolut überzeugend er ihn gespielt hat. Respekt!“ Und erkenne im gleichen Moment, dass dieses Urteil auf jeden Fall wahr ist auf einer anderen Ebene: Denn gespielt wurde dieser Diktator und das vermeintliche Diktator-Double so oder so sensationell von John Malkovich.

Dann tanzen der Diktator oder das Diktator-Double und die Journalistin einen engen Walzer. Sie tanzen jetzt körperlich miteinander, nachdem sie zuvor lange Zeit mit Worten, mit dem Mittel der Sprache miteinander getanzt haben, mit wechselnder Führung. Die Journalistin scheint vor lauter Nebelkerzen selbst nicht mehr zu wissen, wie sie die Situation einzuschätzen hat. Dann wird die Bühne plötzlich von Soldaten gestürmt. Der Mann in Uniform scheint der echte Diktator zu sein, und es wird ihm ein Ende bereitet. Angesichts der Ermordung des Kameramannes durch den Diktator zu Beginn, darf die Journalistin Caroline Thomas die Kamera auf den erschossenen Diktator halten. Und anders als mit dem Revolver zuvor, kann sie dieses Instrument benutzen. „Great shot, Sweethart! She’s a killer“, heißt es aus dem Hauptquartier, als sie dort das Live-Bild des toten Diktators erhalten.

Der erste Theaterabend in der Elbphilharmonie fügt sich wunderbar ein in das wahnsinnig hochwertige Programm des Hauses. Wenn in diesem Musiktempel ein Bühnenstück aufgeführt wird, dann ist das natürlich nicht irgendein beliebiges Theaterstück, sondern ein großartiges Stück mit großartigen Schauspielern, das extrem vielschichtig ist und sehr viel über die Welt und unsere Lebenswirklichkeit erzählt. Mehr Theater geht nicht! Das ist maximale Bühnenkunst!

Dieser Theaterabend ist ein Erlebnis. Eine nachdenklich machende und aufwühlende Erfahrung. Bereichert, reicher an Gedanken und Menschenkenntnis, weiser und klüger verlasse ich die wunderbare Elbphilharmonie.

Menschlicher Wahnsinn und Abgründe des Menschseins wurden ausgeleuchtet. Der Besucher wurde durch wunderbare Orgelmusik, gespielt vom renommierten Musiker Martin Haselböck, und ganz großartige Schauspielkunst von John Malkovich und Sophie von Kessel unterhalten – wahnsinnig gutem Schauspiel, das sich durch viele interessante Ebenen des Wahnsinns und der Wahrheit bewegt. Als wäre das alleine nicht schon extrem viel und genug, hat der Zuschauer darüber hinaus auch viel über so viele Dinge wie das Menschsein, Spiel, Manipulation, Macht, Medien, Diktatoren, Narration, Geschichten und Geschichte gelernt.

Es steckt so viel Wahrheit, kluge Beobachtung und intelligenter Humor in dem Stück! Wirklich ganz große Kunst!

Sebastian Koik, 8. März 2017, für
klassik-begeistert.de

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