Der in Hamburg lebende Journalist und Publizist Harald N. Stazol liebt klassische Musik und Ballett. Er hatte vor 23 Jahren die Ehre und Freude, den großen John Neumeier, damals 57, zwei Wochen lang für das Magazin STERN zu begleiten. Dabei entstand ein ganz außergewöhnliches Portrait, das klassik-begeistert.de jetzt zum ersten Mal für einen Klassik-Blog online präsentieren darf. Der STERN konnte es sich sich damals noch leisten, aufwändige und teure große Geschichten in Auftrag zu geben und nicht zu drucken. Harald N. Stazol ist wie der Herausgeber Absolvent der Henri-Nannen-Schule (Journalistenschule mit Sitz in Hamburg).
Foto: © Kiran West
von Harald N. Stazol
Die Aufregung! Heut abend ist Premiere! Béla Bartóks Bilder, in Szene gesetzt von John Neumeier, hier in Hamburg in der Oper! Ob alles klappen wird? Ob die jungen Mädchen mit ihren Blumensträußen vor der Premiere eingelassen werden und vielleicht einen Blick erhaschen auf ihren schönen Schwarm? Unmöglich, noch Karten zu bekommen! Ob das Orchester den schwierigen Ungarn nun einmal, nicht wie in den Proben — »Meine Herren, bitte lesen sie doch die Noten!« hat der Dirigent, Ingo Metzmacher, in schierer Verzweiflung einmal gerufen — ob sie ihn heute abend beherrschen werden? Und ob, dies die größte Frage, die schwebende, gewittrig sich zusammenziehende nun über das Haus an der Großen Theaterstraße, ob man ihn begreifen wird?
Ihn, der nun da sitzt, im Trainingsanzug, ihn, der nun schon ein Vierteljahrhundert hier ist, »weil die Luft so klar ist und das Wasser« wie in seiner Heimatstadt Milwaukee. Die Hamburger, nach all den Jahren, wohl langsam verstehen, was sie da, die Stadt der Pfeffersäcke, für einen Fang gemacht hat. Welch unschätzbaren Schatz sie in ihren längst niedergerissenen Mauern beherbergt, um immer auf´s Neue hingerissen zu sein. Wenn sie ihn nur nicht Verreissen! »Ich weiß nicht, was es ist, seit fünf Jahren ist die Presse gnadenlos. Vielleicht bleibe ich nicht, wenn sie mich nicht mehr wollen. Nur um die Schule wäre es mir bitter.« Doch wer denkt nun an die Schule, heut abend ist Premiere, Uraufführung, wie gesagt, und nicht ohne Grund sind die Türen verschlossen den Kritikern, besonders einem gewisssen Herrn aus Frankfurt, der, egal, was man hier tut, sich einer anderen verschrieben hat seit Jahren. Untröstlich ist man, nur die Hauptproben sind zugänglich einem unprofessionellen, aber liebhaberndem Publikum, dem Kreis der Ballettfreunde Hamburgs. Geldgeber alle, Damen höheren Alters zumeist, die sich, man hat ja am Freitag nichts anderes mehr vor, gegen fünf Uhr, nie vorher, nie nachher, einfinden am linken Foyereingang (manche erinnern sogar noch dessen Eröffnung), die Pelze abgeben unten, und dann im Hinaufgehen sagen, die eine zur anderen: „Dann wollen wir mal.“
Bartók also — wer versteht ihn? Musiklehrer, Tänzer, Ungarn, aber das Publikum? Helfen die Nationalfarben da, die Hans Martin Scholder in großer Kühnheit, aber nicht wirklich modern, denn so ist man es in Hamburg gewohnt, die Farben der Magyaren quer über die Bühne verteilt hat? Mal diagonal, mal gerade, nicht umsonst ist die erste Szene stumm: Schweigende Tänzerinnen schreiten von rechts nach links eine schiefe Ebene hinab — ein Gleichnis? Der Auftakt? Wird man ihn begreifen?
Angespannt soll er sein, hieß es, doch nun gerade keine Spur davon. John Neumeier, 57 Jahre, sitzt da wie der Chef eines kleinen Bankhauses, aufmerksam, gelassen, (was soll ihm geschehen?), wie ein sensibler, kunstsinniger Bankier, diskret. Leise. Unerbittlich. Höflich. Seinem Zorn weichen Besonnene aus.
Nun ist er besorgt. Beugt sich hinab in den Orchestergraben. Wartet. Sagt irgendwas, niemand hört es. Oh, dieser Gang, nach dem Aufstehen, der Intendanten, Regisseure, Choreographen! Immer zielgerichtet. Der seine läßt immernoch den Tänzer ahnen, der er gewesen sein muß damals in Stuttgart, bei Cranko, vorher noch in den Staaten, auch hier in Hamburg vor Jahren, in seiner „Matthäus-Passion“.
»Ich bin ein Mörder, und ihr müßt alles tun, um mich aufzuhalten«, sagt er einer Mauer von Jungen, die sich hinten aufgestellt hat, ganz hinten, damit drei Solisten sie anspringen können gleich, während Bartóks Musik über sie hinwegschwappt und sie die drei nach oben stemmen müssen. Soeben haben sie ihm nicht wild genug ausgesehen, »eher wie die Teilnehmerinnen eines Schönheitswettbewerbs
In seinem Tanzzentrum, sein Name schon zu Lebzeiten über dem Schumacher-Portal zu lesen, einem der letzten Schulgebäude, das der große Architekt Hamburgs erbaut hat, dort im Gang hängt eine Portrait-Fotografie des Mannes, der er sein will und in seinen besten Momenten immer war: John Neumeier steht da, neben einer griechischen Säule, dorisch, irgendwo in der Agäis, und sieht direkt ins Objektiv. Die Daseinsformen sind klar verteilt, links die Säule, rechts mit etwas Abstand der Mann, die Fotografie folgt einem inneren Gleichgewicht, und es scheint keine Sekunde zu geben, in der einer der Vorbeigehenden, die Schüler, die Lehrer, daran zweifeln, wer der wichtigere ist auf diesem Bild, Mensch oder Marmor.
Im Tanzsaal »Petipa«, einer umgebauten Turnhalle, die einst ausgelassenen kleinen Hamburger Mädchen lauschen durfte, ist nun ein großer Spiegel angebracht am anderen Ende. Spiegel sind die Mahner des Tanzes, in ihnen wird Realität, was der Körper nur fühlt, fühlen kann, er ist der dritte Part in diesem Dreiecksverhältnis zwischen Tänzer, Körper und Anschauung, und nicht selten der Härteste. Da ist nichts, was der Spiegel eines Ballettsaales nicht gesehen hätte, und wenn er Laut geben könnte, er würde wohl leise singen. Vielleicht ein Kindertotenlied von Mahler, oder das »Lied von der Erde«, eine Hymne ans Leben. Still wäre er nie. Nun aber ist in diesem Spiegel das gesamte Ensemble in einem gewaltigen Sprung versammelt, einem Wirbel, der die Luft hier im Saal so bewegt, daß die Vorhänge vor den zwölf großen Fenstern in einiger Höhe horizontal in der Luft stehen und es den Beinen der 33 gleichtun. Er aber sitzt auf der Stange vor jenem Spiegel, hat die Füße einmal nicht am Boden und scheint, von der Loge aus gesehen und über den Wirbel hin, zu schweben, im Zentrum. Wenn es einen Ort gibt, wo er am liebsten sich einfindet, es wäre wohl dieser. In der Hand eine Teetasse.
»Jump, jump, jump“
»Dieser Mann spricht den Tanz« schrieb man 1977 über ihn, in der New York Times, als man erkannte, daß das große Ballett nun nicht mehr nur von Amerika abstammen mußte und von Balanchine, weil eben dieser junge Amerikaner in Europa waltete. Und so mag es als großer Zufall erscheinen, als Fügung, daß eben jener Mann ein wenig jünger noch an der Royal Ballet School in London den Ruf des großen Alten aus New York, des Prägers der amerikanischen Tanzgeschichte, erst hört, als es zu spät ist: Er hat den Vertrag für Stuttgart schon in der Tasche, weil Marcia Haydée ihn schon gesehen hat, und New York, die Vereinigten Staaten, sein Freund Leonard Bernstein haben das Nachsehen, weil der Atlantik schlicht zu weit, ihn nun noch einmal zu queren, immer ein Nachteil der Neuen Welt.
Hier, beim Empfang des amerikanischen Generalkonsuls im weißesten Haus an der Hamburger Außenalster, sieht es für einen Moment so aus, als hätten die Supermacht dem kleinen Mann dies noch immer nicht ganz verziehen. Wer leiht hier wem wen? Nutzt der Konsul das Suprematsrecht der Staatsangehörigkeit, um den versammelten Hamburgern, viele Frauen haben Brillanten angelegt, noch einmal deutlich die Verhältnisse zu erklären? Nämlich, daß jeder Vertrag, sei er noch so großzügig (er ist es im übrigen nicht), ein Ende hat? Auch nach 25 Jahren noch Neues geschehen kann? Die Hamburger lächeln. Trinken höflich den Tee des Konsuls.
Und dann geht ein ziemlich einsamer Mann am Premierenabend die Foyertreppe der Staatsoper hinab, ungegrüßt und nicht eigentlich beachtet. Er ist nun auf dem Boden der Stadt, im Finanzgebiet des Senats, ja richtig, das muß der Herr Generalkonsul sein, und vielleicht begreift er ja jetzt, noch immer hat ihn niemand beachtet, keiner hilft aus dem Mantel, was es heißt, in diesem Klima des Stolzes Unverzeihliches zu begehen. Anspruch nämlich zu erheben auf anderer Leute Bezahltes.
Ballett bedeutet Bezahlen. Das wenigste sind die Karten, auch wenn es schon schwierig genug ist, die am Premierenabend sekündlich selteneren Karten zu erwerben. Wenig der reine Betrieb, »Geld können wir immer brauchen« sagte er zwar. Aber den wahren Preis, den unzählige andere entrichten müssen, damit der Traum von der leichten Schwere auf Spitze Wahrheit wird, läßt sich ermessen in jenem Teil des Hauses an der Caspar-Voght-Straße in Hamburg-Hamm, der die Schule beherbergt. An einem beliebigen Vormittag. An den Heizkörpern.
Heizkörper sind in regelmäßiger Folge an den Wänden des Schumacher-Baus angebracht, und vor ihnen, immer an der den ganzen, großen Raum umlaufenden Stange, steht vor jedem gerippten Teil der Zentralheizung ein Gerippe von Mädchenkörper, erhitzt vom Versuch, es der Balletmeisterin Marianne Kruuse recht zu machen. Am besten auf einer Zehe, immer kraftvoll, nie ohne Konzentration. »Ich verstehe nicht diejenigen, die ihre Füße nicht um den Unterschenkel herumdrehen, down, down, down«, runter, runter, läßt sie sich als nächstes vernehmen. Die Resolutheit in Person, als die sie mit einiger Eleganz schon auf der Bühne brillierte. Die Mädchen an den Stangen geben ihr Bestes. Aber die glasklare Auslese im Tanz kennt keine Gnade: Manche versuchen eben nur, sie können nicht anders. Weil die Natur, die Körperlichkeit, der Wuchs es nicht anders zuwege gebracht haben. Obwohl sie nun alle in der Abschlußklasse sind. Es ist nur allzu offensichtlich, manchmal auf den ersten Blick, oft erst nach wenigen Minuten, wer in die Nähe einer Karriere geraten wird, wem sie zupaß kommen mag, und wem sie sich auf ewig verweigert. »Die Fairneß? Ich weiß selbst nicht, was das ist.«
Seit dreißig Jahren arbeitet sie als Organisatorin beim Ballett, noch in Stuttgart bei John Cranko, dann ging sie mit Neumeier nach Hamburg, und wenn es so etwas gibt wie das geheime Gewissen der Compagnie und des Zentrums, dann ist sie es. Von den Stunden der Entscheidung spricht sie, wenn die Schüler den schweren Gang gehen müssen zur Prüfung. Darin manchmal in aller Klarheit aufflackert, daß es mit der Eignung zum Tanz nicht, leider, leider nicht weit genug her ist, und das es nun gilt, sich einen anderen Weg zu suchen. Von den heißen Tränen, die vergossen werden, wenn die Veränderungen des Körpers nach der Pubertät eigene Gesetze geschaffen haben, gegen die nicht mehr anzukommen ist, bei aller Hingabe. Dem Fleiß. Bei allem Selbsthaß nicht: »John sagt, daß sie das lernen müssen. Andere Disziplinen mögen zu meistern sein. Beim Ballett steht oft der Körper im Weg.«
Der Leib von Radik Zaripov tat das nie: Ein großer, hingebungsvoller Tänzer. Doch seit kurzem ist seine Bühnen-Karriere vorbei, der Traum vom Tanzen währt immer nur kurz, und die als Ballettmeister hat gerade begonnen. Wer ihm zusieht, kann nicht recht entscheiden, welche von beiden die wichtigere. Vielleicht sogar wird er im Lehren eine Größe erreichen, die er als Tänzer nur ahnte — nun steht er da, in sich versenkt, regungslos bis auf die Fingerspitzen, die zählen leicht, kaum bewegt, an der schlaff herunterhängenden Hand, während hinter ihm die Jungen stehen, ohne Wort, wartend. Es sind nur wenige Jungen, stark ist »noch immer das Vorurteil gegen männliche Tänzer, >mein Sohn könnte schwul werden oder Aids kriegen<weil alle soviel Geld verdienen wollen wie Fußballprofis. Unsere Säle dagegen sind fast leer.«
Es kann zwanzig Sekunden dauern, auch länger, dann kehrt Radik Zaripov vor seinen wenigen Jungen zurück aus der Absence und erklärt die nächste Exercise. Er spricht Englisch, 14 Nationen lernen hier, im Zorn Russisch, befiehlt Französisch: Mit dem zaristischen Akzent, der allein sich im russischen Tanz gehalten hat.
Das Land aber, in dem das Ballett entsteht und das er, das auch Neumeier, jeder Meister, Tänzer und Choreograph auf Erden immer dann besucht, wenn er tanzt, kreiert — was anderes ist eine Choreographie als die unendliche Folge von kurzen Exercises, von Tänzern zusammengefügt? — das Land, in dem sie alle verweilen in jenen Abwesenheiten großer Konzentration, jenem sich Sammeln und dann Anweisen und große Kunst schaffen, hat keine Grenzen: Es ist vollkommen. Nur wenige können es bereisen.
Aber manchmal, ganz selten, erschließt es sich. Dann kann man in seine Tiefen hineinsehen. An diesem Abend der Premiere, auch unter den Buhrufen mancher Hamburger. Nicht alle haben ihn verstanden, John Neumeier, der nun ganz an den Bühnenrand getreten ist und dorthin sieht unter prasselndem Applaus und einigem Bravo, wo sie sitzen, die Unzufriedenen. Geduldig sieht er dorthin, mitleidig auch, etwas irritiert. Besorgt: Wie konnten jene es nicht sehen? Nicht begreifen? Keinen Blick erhaschen von dem Land der Wunder, das er doch täglich bereist? Seinem Land? Plötzlich ist es egal, ob er noch zur Avantgarde gehört oder nicht, ihm am meisten. Aber die nächste Choreographie so gestalten, daß allen die Augen übergehen und die Sinne, alle ihm folgen können, für ein paar Stunden nur! Dorthin, wo er selbst so glücklich ist ein ganzes Leben lang, das ist sein Wunsch.
Harald N. Stazol, 7. Dezember 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at