John Neumeier und das Hamburg Ballett

John Neumeier und das Hamburg Ballett

Foto: © Kiran West

Klassik-begeistert-Autor Ralf Wegner besucht das Hamburg Ballett seit 1973, als John Neumeier die künstlerische Leitung der Compagnie übernahm. Er sagt:

„John Neumeier hat bei meiner Frau und mir das Ruder völlig herumgeworfen. Mit einem Mal traten Menschen und nicht, überspitzt gesagt, tanzende Puppen auf die Bühne. Tanz drückte mit einem Mal seelische Zustände aus, wie große Arien von Mozart oder Verdi.“

von Ralf Wegner

Meine Frau und ich gehen mittlerweile in anderen Städten häufiger ins Ballett als in die Oper. Warum ist das so? Die Ballett-Truppen unterscheiden sich voneinander, es gibt noch richtige Ensembles. An den großen Opernhäusern singen dagegen überall dieselben Protagonisten dieselben Rollen; irgendwann auch in der eigenen Stadt. Wenn wenigstens die Inszenierungen sehenswert wären. Bei der Oper ist das immer weniger der Fall. Heute steht bei einer neuen Inszenierung regelhaft eine Idee eines Bühnenkünstlers im Vordergrund. Die Musik dient mehr als Mittel zum Zweck. Subtile Interpretationen, die auch noch hinterher zum Nachdenken anregen, sind eher selten. Selbst ein guter inszenatorischer Einfall hat beim zweiten oder dritten Sehen an Überzeugungskraft verloren und stellt oft nur noch Ballast für das Stück dar. Beim Ballett ist das anders. Die Inszenierung ordnet sich immer noch dem Tanz unter und unterstützt diesen, wie bei den Balletten John Neumeiers.

John Neumeier 2019 (© Kiran West)

Vor 1973, als August Everding Neumeier nach Hamburg holte, war ich eigentlich nie im Ballett, kann mich zumindest nicht an eine Ballettaufführung in der Hamburgischen Staatsoper erinnern. Wohl besuchte ich während meines Medizinstudiums in Berlin einmal das Ballett an der Deut­schen Oper, mehr aus Zufall, oder sah als Student in Paris Rudolf Nurejew als Albrecht in Giselle im Palais Garnier; empfand das Stück aber auch dort als eher langatmig, wenngleich gespickt mit beeindruckender Artistik.

John Neumeier hat bei meiner Frau und mir das Ruder völlig herumgeworfen. Mit einem Mal traten Menschen und nicht, überspitzt gesagt, tanzende Puppen auf die Bühne. Tanz drückte mit einem Mal seelische Zustände aus, wie große Arien von Mozart oder Verdi. Da Neumeier selbst die Bühnenbilder und Kostüme entwarf und auch für die Lichtregie verantwortlich zeichnete, oder sich heraus­ragender Künstler wie Jürgen Rose bediente, wurde dem Zuschauer immer wieder ein Gesamtkunst­werk geboten, welches auch Jahrzehnte nach der Premiere immer noch seine Wirkung zeigt und unmittelbar das Herz berührt.

Wo gibt es im Opernbereich zudem neue Kompositionen, die auch langfristig gefallen; ich kann mich an kaum ein Stück erinnern. John Neumeier bediente sich älterer Musik, ließ aber auch häufiger neu komponieren und überzeugte mit einem Gesamtkunst­werk, z.B. 2005 mit Lera Auerbachs Kleiner Meerjungfrau oder sechs Jahre später mit Michel Legrands Liliom, in dem sich Musikalisches und Bühnengeschehen untrennbar zu einer kraf­t­vollen musikdramatischen Einheit verwoben.

Nach einer Aufführung der „Matthäus-Passion“ im Oktober 2017 in Moskau, John Neumeier mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und dem Hamburg Ballett (privates Foto)

Neumeier schuf im Laufe der Jahre mehr als 150 zumeist abendfüllende Ballette. Grob las­sen sie sich einteilen in narrative, sinfonische und religiöse Werke. Zu den ersteren zählen neben den Tschaikowsky-Interpretationen von Nussknacker, Schwanensee und Dornröschen Shakespearewerke wie u.a. Romeo und Julia, Othello und der Sommernachtstraum, eigene Erfindungen wie die Artus-Sage oder Nijinsky sowie Bühnen- oder Romanadaptationen wie Tschechows Möwe, Molnars Liliom, Tolstois Anna Karenina oder Williams Glasmenagerie. Bei den sinfonischen und religiösen Werken stehen Mahlers Dritte Sinfonie und Bachs Matthäus-Passion im Vordergrund. Ich wüsste keinen Choreographen, der so viele und über die gesamte Lebensspanne künstlerisch nie nachlassend so herausragende Ballette geschaf­fen hat.

Neumeier choreographierte unbeschreiblich schöne Pas de deux – in fast jedem seiner Ballette –, findet aber auch mit den Ensembles zu großer, fast monumentaler Form. Ich denke an den mitreißenden ersten Satz aus Mahlers Dritter Sinfonie, die grauen Männer aus Peer Gynt, das Arbeiterballett aus Liliom, vor allem aber an das im Wortsinne gewaltige Soldatenensemble in Nijinsky.

Aus den ersten Jahren sind mir fünf Ballette in Erinnerung: Daphnis und Chloe 1973, Romeo und Julia 1974, der Nussknacker, Mahlers Dritte Sinfonie und Strawinskys Le Sacre jeweils 1975. Alle diese Ballette wirken, zwischendurch und in den letzten Jahren immer wieder gesehen, frisch wie am ersten Tag.

Wer tanzte damals, wer blieb in Erinnerung: Zum einen Max Midinet als Mercutio, König im Schwanensee und Drosselmeier im Nussknacker, vor allem aber als Anführer der Handwerker im Sommernachtstraum, Beatrice Cordua im Sacre-Solo und Marianne Kruuse mit ihren Jungmädchenrollen als Julia, Marie oder Helena. Später beeindruckten Kevin Haigen als Joseph in der Josephslegende oder als Puck im Sommer­nachtstraum sowie Gamal Gouda und Gigi Hyatt in Othello.

Gigi Hyatt und Gamal Gouda in „Othello“, 1985 (© Holger Badekow)

1996 übernahm eine junge Tänzerin die Rolle des drogensüchtigen Dornröschens in der Choreographie von Mats Ek, es war Silvia Azzoni, die mit ihrer Darstellung der Entzugs­erscheinungen großen Eindruck hinterließ. Lloyd Riggins war in allen Rollen zu Hause, seine tänzerischen Fähigkeiten waren genial, als Vater des drogensüchtigen Dornröschens, als vom Wind getriebener Dichter in der Kleinen Meerjungfrau oder als König Artus mit einem hervorragenden Carsten Jung als Lancelot. Außerdem überzeugte Riggins physisch als Albrecht in Giselle. Anders als der während einer Nijinsky-Gala aufgetretene, vier Jahre jüngere Tänzer des American Ballet Theatre Ethan Stiefel schaffte er die 32 Entrechat six (Hochsprünge mit sich überkreuzenden Beinen), zu denen er von den Willis verleitet wird, tadellos. Riggins überzeugte auch als Achenbach, der sich in der Schönheit des von Edvin Revazow getanzten Tadzio in Neumeiers Tod in Venedig verlor.

Elisabeth Loscavio war bereits in San Francisco eine Berühmtheit. Sie fing bei Neumeier nochmal als Solistin an und entwickelte sich im Laufe der Zeit, neben der bei ihr schon vor­handenen Perfektion, auch zu einer im Neumeierschen Sinne darstellerisch überzeu­genden Tänzerin. Sie war die beste der Natalien in Neumeiers Schwanensee. Zu erwähnen sind auch die Bubenicek-Zwillinge: Jiri, der mit Loscavio auf Neumeiers Schwanensee-DVD verewigt wurde und schließlich Otto, der sich erst nach dem Weggang des Bruders aus dessen Schatten freier entwickeln konnte.

Silvia Azzoni steht nun bereits seit 24 Jahren auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper in tragenden Rollen wie Giselle, Meerjungfrau, Engel im Weihnachtsoratorium oder Romula in Neumeiers Nijinsky. Sie ist die Königin des Hamburg-Balletts. Wer sollte ihr die Krone streitig machen. Woanders säßen die langgliedrige Hélène Bouchet oder Anna Laudere, die bewunderungswürdige Protagonistin in Neumeiers Anna Karenina, auf dem Königsthron. Auch Carolina Agüero verewigte sich mit einer intensiven Darstellung als Romola auf DVD und zeigte eine Hingabe an die Rolle, wie wir sie eigentlich nur bei Neumeiers Tänzerinnen und Tänzern erlebt haben. Sie schlüpfen in die Rolle wie in eine zweite Haut und dehnen sie so lange, bis sie passt, und das, ohne die eigene Persönlichkeit zu verleugnen.

Nijinsky, nach der Vorstellung mit Silva Azzoni (Tamara Karsavina), Alexandre Riabko (Vaslaw Nijinsky), John Neumeier, Ivan Urban (Serge Diaghilew), Carolina Agüero (Romola Nijinska), Patricia Friza (Bronislava Nijinska), Aleix Martinez (Stanislaw Nijinsky), Anna Laudere (Eleonora Bereda), Dario Franconi (Arzt) (© Kiran West)

Alexandre Riabko ist so ein Tänzer, der sich im Laufe seiner Entwicklung von einer Art Springball auf der Bühne hin zu einem begnadeten Darsteller z.B. des Nijinsky entwickelte. Zudem ist er ein phänomenaler Begleiter seiner Ehefrau Silvia Azzoni. Ich habe nie ein Paar auf der Bühne gesehen, welches so perfekt den Paartanz beherrscht, wie diese beiden. Man möge dieses auf Youtube überprüfen, dort gibt es zahlreiche Beispiele hochberühmter Tänzerinnen und Tänzer, die den schwarzen Pas de deux aus Neumeiers Kameliendame tanzen.

Schade, dass Riabkos und Azzonis Pas de deux aus dem letzten Bild von John Crancos Onegin nicht festgehalten wurde. Was sie 2015 leisteten, war schlichtweg grandios und entzog sich einer detaillierteren Beschreibung; sie erreichten eine sprungtechnische und dramatische Intensität, die einem den Verstand wegblies und nur noch Bewunderung für dieses Paar übrig ließ. Selbst in den kleinen Rollen, die Azzoni jetzt noch tanzt, beeindruckt sie, wie z.B. 2019 als Esme­ralda im Nussknacker oder als bewegungslose Schaufensterpuppe in den Shakespearsonetten (Choreographie: Jubete, Martinez, Revazow), fast unkenntlich unter einer weißen Perücke.

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko 2018 nach der Nijinsky-Gala (privates Foto)

Zurück zum Nijinsky-Ballett, die Rolle des nervenkranken Bruders war dem japanischen Tänzer Yukichi Hattori wie auf den Leib geschrieben. Mit Aleix Martinez hat er einen würdigen Nachfolger gefunden, auch erarbeitete sich dieser Tänzer zusätzlich die Rolle des Nijinsky mit einer expressiven, körperlich übersteigerten Interpretation. Herausragend war er auch in zwei weiteren Rollen, die des Louis in Liliom und jene des Lewin in Neumeiers Anna Karenina. Auch Alexandr Trusch eroberte sich als Nijinsky das Publikum mit einer ergreifenden Darstellung und einem auch sprungtechnisch grandiosen letzten Solo. Dass dieser Tänzer auch das klassische Repertoire beherrscht, zeigte er in der Nurejew-Choreographie des Don Quixote zusammen mit einer schlichtweg sensationell guten Madoka Sugai. Bei ihren hohen Sprüngen schwebte sie förmlich in der Luft, als ob sie sich die Gravitation untertan gemacht hätte, und alles mit Stehvermögen, Liebreiz und Bewegungsanmut. Eine mehr von innen kommende, die Seelenzustände der Nina in Neumeiers Möwe ausmalende Interpretation gelang Emilie Mazon, ebenso beeindruckte sie als Kitty in Neumeiers Anna Karenina.

Viele Tänzerinnen und Tänzer wurden noch nicht erwähnt wie Lynn Charles und Ivan Liska oder Ivan Urban, den wir zuerst als Daphnis, später als diabolischen Jago und schließlich als janusgesichtigen Diaghilew erleben durften. Zudem blieb Alina Cojocaru unerwähnt, die immer noch als Gasttänzerin firmiert, seit Jahren aber die großen Rollen beim Hamburg Ballett tanzt. Zuletzt war es die großartige Leistung als körperbehinderte Laura in Neumeiers Glasmenagerie. Cojocaru blieb am Schluss allein zurück, langsam löschte sie die Kerzen eines Leuchters auf der sich verdunkelnden Bühne. So verdunkelt blieb die Bühne seitdem, Corona hat es geschafft, die Pandemie hat alles hinweggeblasen.

Alina Cojocaru in Neumeiers „Glasmenagerie“ (© Kiran West)

Demnächst wird es einen zarten Neuanfang geben. John Neumeier hat die Zeit genutzt und mit Ghost Light ein neues Stück geschaffen, das den aktuellen Pandemiebedingungen Rechnung tragen soll. Es wird im September uraufgeführt, vor einem begrenzten Publikum. Karten sind kaum zu bekommen. Es endet hoffentlich nicht wie bei den Nornen aus Wagners Götterdämmerung: „Weißt Du was daraus wird? Zu locker das Seil. Mir langt es nicht“, aber John Neumeier wird es wohl wieder straff zu knüpfen wissen.

Ralf Wegner, 28. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Dr. Ralf Wegner

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert