Volksoper Wien: Jolanthe und der Nussknacker

Jolanthe und der Nussknacker  Volksoper Wien, 1. November 2022

Titelbild: Volksoper Wien, 1. November 2022

Jolanthe und der Nussknacker
Musiktheater nach der Oper und dem Ballett von Peter Iljitsch Tschaikowski

Volksoper Wien, 1. November 2022

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Im Württembergischen haben wir einmal gemeinsam mit einer befreundeten Schauspielerin einen Literaturabend organisiert, an dem eine der „Sieben Geschichten der sieben Prinzessinnen“ des persischen Dichters Nizami vorgetragen wurde. Wir warnten vergeblich unsre Freundin mit „ein Märchen“ zu werben. Mit dem Ergebnis, dass zum großen Teil Kinder mit Puppen und Teddybären im Arm erschienen. Und das bei einer höchst erotischen Geschichte, in der zum Glück der Dichter viel Wortakrobatik verwendet.

Für „Jolanthe und der Nussknacker“ wird mit „Musiktheater für die ganze Familie“ geworben. Wir sahen viele Kinder aus den verschiedensten Altersgruppen. Doch lässt sich dieses Werk ohne eine gewisse Lebenserfahrung verstehen? Auch die choreografische Handlung war sogar für uns  nicht leicht zu entschlüsseln. Es bleibt aber für noch nicht so theatererfahrene Kinder als Faszinosum das Geheimnisvolle.

Wann ist eine Oper abendfüllend? Die kritische Grenze scheint – „Salome“ als klassisches Beispiel genommen – eindreiviertel Stunden zu sein. Die „Jolanthe“ hat eine Spielzeit von eineinhalb Stunden. In Dresden wurde sie konzertant allein aufgeführt, zu den Salzburger Festspielen – auch konzertant – in gut gewählter  Kombination mit Strawinskys dreiviertelstündiger Oper „Le Rossignol“ vor „Jolanthe“. Im Theater an der Wien schloss „Jolanthe“ nicht mit einem Hymnus, sondern in Überleitung zur tragischen Oper „Francesca da Rimini“ mit Waffengetümmel. Leonard Bernsteins zweieinhalbstündige Oper  „A Quiet Place“ ist die Fortsetzung von der einstündigen Kurzoper „Trouble in Tahiti“. In Mailand und in Wien inszenierte der Librettist Stephen Wadsworth seine Oper „A Quiet  Place“ mit Einblendungen aus „Trouble in Tahiti“.

„Jolanthe und Der Nussknacker“ jetzt ebenfalls mit Teilen aus einem Ballett desselben Komponisten. In einer Einführung vor „Tristan und Isolde“ im Tiroler Landestheater machte einmal der Intendant Helmut Wlasak  über das  „und“ im Titel tiefsinnige Betrachtungen. „Jolanthe und der Nussknacker“. Gerade das machte uns neugierig und gespannt. Jolanthes Heranwachsen und Reifung wird uns mit Hilfe von Figuren aus Tschaikowskis „Der Nussknacker“ durch das Wiener Staatsballett unter Assistenz der Ballettakademie der Wiener Staatsoper vor Augen geführt. Und da beginnt die Quadratur des Kreises. Unwillkürlich dominiert bei einem Ballett das Optische. Andrey Kaydanovskiy hätte das Fühl- und Tastbare mehr noch herausheben können.

Figurinen von Jorine van Beek

Im Moskauer Bolschoi-Theater sahen wir eine sehr konventionelle szenische Aufführung, jetzt das Gegenteil. Das Team besteht aus Lotte de Beer (Regie), Katrin Lea Tag (Bühnenbild) und Jorine van Beek (Kostüme). Es spielt wieder eine Reihe von Stühlen mit. Wie heißt es so treffend? „Der Erste, der Herz mit Schmerz reimte, war ein Genie, die Späteren…“

Daniel Schmutzhard (li) und Georgy Vasiliev (re) Foto: Ashley Taylor

Das einzige Mal, wo uns dieses Regievokabular überzeugte, war „Peter Grimes“ am Theater an der Wien unter der Regie von Christof Loy.  Kein ummauerter Garten bringt Zauber auf die Bühne, obwohl Lotte de Beer die Situation, in der sich die blinde Jolanthe befindet, als Paraphrase der biblischen Paradieserzählung empfindet. Von den Rängen blicken wir auf einen gemaserten Boden, wohl aus Holz. Die Personen tragen Alltagskleidung. Es soll eine reale Welt gezeigt werden, die nach Lotte de Beer  langweilig und unvollkommen erscheint. Allein der Versuch zu tanzen und zu singen, um der Welt Farbe zu verleihen, ist für die Regisseurin  Beweggrund weiter zu machen. Verfolgt man den Text in der Übertitelung, singt Jolanthe den abschließenden Hymnus mit anderer  Bedeutsamkeit. Wir sind froh, dass hier keine textlichen Bearbeitungen stattfanden.

Auch wenn wir in den Hauptrollen schon Anna Netrebko, Piotr Beczała und Alexey Markov gehört haben, sind wir nicht voreingenommen, denn jede Künstlerin und jeder Künstler hat eine eigene Ausstrahlung. Die Russin Olesya Golovneva ist eine gefragte Violetta in Dresden, München, Praha und an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf. Bis zur Mitte des Stücks vermissten wir noch das gewisse Etwas, im abschließenden Lobgesang war eine hörbare Steigerung zu merken.

Die überbehütete Jolanthe Olesya Golovneva Foto: Barbara Pálffy

Es spricht für die Geschichte und Qualität des Hauses am Währinger Gürtel, dass ein Sänger, der mit dem Royal Opera House schon ein Gastspiel in Japan absolvierte, nämlich Georgy Vasiliev als burgundischer Ritter, der sich auf den ersten Blick in Jolanthe verliebt, von uns nur als zufriedenstellend bewertet wird. Von seinem Kampfgefährten, dem Herzog von Burgund, Daniel Schmutzhard, lässt sich nichts Charakteristisches berichten.

Wahrlich königlich, auch in unauffälligem äußerem Erscheinungsbild, singt und verkörpert Stefan Cerny mit hoheitsvollem Bass den König der Provence. Dass wir in seinem Hauptauftritt den krönenden tiefsten Ton vermissten, sei ihm daher verziehen.

Stefan Cerny als König der Provence Foto: Barbara Pálffy

Der arabische Arzt Ibn Hakia ist mit dem tenorbaritonalen Ben Connor, der auch in „Der Tod in Venedig“ als Reisebüroangestellter stimmschwach war, unterbesetzt. Auch als mittlere Partie hat sie ihre gewichtigen Momente.

Von den kleineren Rollen ist unbedingt der pastose Alt der Schottin Stephanie Maitland als Jolanthes Amme Martha hervorzuheben. Der ehemalige „Borkenkäfer“ (Student der Bundesförsterschule in Gmunden), Daniel Ohlenschläger (als Pförtner des Schlosses), den die unheilbare Liebe zur Oper in das Linzer Brucknerkonservatorium (heute Anton Bruckner Privatuniversität) trieb, danach am Linzer Landestheater Ensemblemitglied war, wird nach der Bühne Baden auch an der Wiener Volksoper unsres Erachtens nicht gebührend eingesetzt.

Zum Schluss des Abends nahm die junge und dynamische, neuengagierte  israelische Dirigentin Keren Kagarlitsky, auch im Namen des Orchesters der Wiener Volksoper den herzlichen Beifall des Publikums entgegen.

Dirigentin Keren Kagarlitsky Foto: Rami Zarenger

Als ergänzende Nachlese möchten wir auf unsren Beitrag in der Reihe „Meine/Unsere Lieblingsoper (40)“ vom 2. Juli 2020 hinweisen. Noch in diesem Jahr werden wir in einer „Schweitzers Klassikwelt“ mit dem Thema „Säkularisierung in Opern“ auf Lotte de Beers „Jolanthe“ noch einmal kurz zurückkommen.

Lothar und Sylvia Schweitzer, 3. November 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Tod Machover (Musik) und Simon Robson (Libretto), Schönberg in Hollywood, Volksoper Wien im Kasino am Schwarzenbergplatz, 19. April 2022

Die Zauberflöte, Wolfgang Amadeus Mozart Volksoper Wien, 30. Oktober 2020

Sommereggers Klassikwelt 132: Medea Mei-Figner- Tschaikowskys erste Lisa und Jolanthe, Klassik-begeistert.de

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