Zwei Sternstunden in Grafenegg machen die Krise vergessen

Jonas Kaufmann, Helmut Deutsch, Alice Sara Ott, Krzysztof Urbański  Grafenegg Festival 15./16. August 2020

Foto: Jonas Kaufmann. © Julian Hargreaves / Sony Classical

„Zwei solche Sternstunden en-suite machen sogar diese Krise momentan vergessen; Chapeau für das ganze Team um Rudolf Buchbinder.“

Grafenegg Festival, 15. und 16. August 2020

Alice Sara Ott, Klavier
Tonkünstler-Orchester Niederösterreich
Krzysztof Urbański, Dirigent

Jonas Kaufmann, Tenor
Helmut Deutsch, Klavier

von Herbert Hiess

Irgendwie ist in diesem Corona-Jahr doch alles anders. Dieses Jahr 2020, das eigentlich das Beethoven-Jahr ist, geht der Jahresregent dabei fast unter (Gottseidank nur fast!). Kulturveranstalter sind vor fast unbewältigbare Herausforderungen gestellt, freischaffende Künstler sind am Rande ihrer Existenz und das Publikum ist einerseits kultur- und musikhungrig aber andererseits wieder total verunsichert.

Diese Pandemie hat jedoch trotz aller Unbilden in gewisser Weise auch Vorteile. Anstatt der üblichen internationalen Gastorchester „musste“ sich Intendant Rudolf Buchbinder auf nationale Orchester beschränken; dazu kommen noch Künstler zum Zuge, die man vielleicht sonst nie in Grafenegg erlebt hätte.

Vorweg ein Riesenlob an die Veranstalter für die blendende Organisation des Konzertablaufs. Die Karten werden nur mehr online ausgegeben und sind klarerweise namentlich registriert. Beim Einlass wird der aufgedruckte Barcode registriert; daher können die Karten auch auf dem Smartphone oder Tablet vorgewiesen werden. Auf den Karten sind die Sammelbereiche nach Farben vermerkt, von wo die Besucher zu ihren Plätzen geleitet werden. Natürlich werden bei den Sitzen die Abstandsregeln eingehalten; zwischen jedem Besucher ist daher ein Platz frei. Auch nach dem Konzert werden die Besucher pro Sitzreihe rausgeführt.

Man kann sich vorstellen, was für ein gewaltiger Aufwand das für die Organisation bedeutet. Noch dazu ist das Wetterrisiko immanent, denn die Auftritte finden „nur“ im Wolkenturm statt. Das bedeutet, das bei Schlechtwetter das Konzert abgebrochen wird bzw. gar nicht stattfindet. Für die Finanzplanung natürlich eine gewaltige Herausforderung.

So ist es auch am Eröffnungsabend passiert; wo das Konzert schon nach der Coriolan-Ouvertüre abgebrochen wurde und die Besucher eine unfreiwillige orkanartige Regendusche über sich ergehen lassen mussten.

Dafür fand der zweite Abend wie vorgesehen statt, obwohl anfänglich noch ein paar „böse“ schwarze Wolken über dem Wolkenturm thronten. Diese mussten aber der göttlichen Musik von Mozart und Beethoven weichen, denn schon an diesem Abend gab es die erste (von hoffentlich noch vielen) Sternstunden.

Tonkünstler-Orchester Niederösterreich © Mark Glassner

Das Grafenegger Residenzorchester, die Tonkünstler Niederösterreich, arbeiteten das erste Mal mit dem polnischen Dirigenten Krzysztof Urbański, wo man nach diesem Auftritt bedauern konnte, dass man diesen Mann nicht schon viel früher engagiert hatte. Er ist seit einigen Jahren Erster Gastdirigent des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters Hamburg und manche Gazetten zählten ihn sogar zu den „Jungen Wilden“. In Wirklichkeit ist er weder noch so jung (knapp 38 Jahre) und auch nicht so wild – dafür aber ein hochmusikalischer Mensch mit einer präzisen Schlagtechnik. Er überzeugte nicht nur bei Mozarts Klavierkonzert in C-Dur KV 415, sondern vor allem bei Beethovens schon manchmal abgedroschener fünfter Symphonie.

Krzysztof Urbański © Marco Borggreve

Das fälschlicherweise als „Schicksalssymphonie“ bezeichnete Werk erfuhr durch Urbański eine interessante Interpretation. Mit sparsamen Gesten holte er hier ein Maximum an Musik und Klang heraus. In mittelgroßer Besetzung (sechs Kontrabässe etc.) hörte man jedes Detail heraus und man scheute sich auch hier nicht vor kräftigen Fortissimi. Und auch an den lauten Stellen bemühte sich der polnische Maestro um äußerste Transparenz; es ist schon eine interessante Erfahrung, dass man da endlich einmal im vierten Satz in der Tuttistelle deutlich die Celli und Kontrabässe hören konnte. Das Werk wurde mit allen Wiederholungen gespielt und dabei genoss man jede Sekunde. Hoffentlich erinnern sich die Tonkünstler bald wieder an den großartigen Maestro.

Zuvor spielte die Deutsch-Japanerin Alice Sara Ott Mozarts spezielles Klavierkonzert in C-Dur KV 415. Speziell insofern, als im ersten Satz das Orchester absolut keine untergeordnete Rolle zum Pianisten hat und der dritte Satz (Rondo) eigentlich mehr eine „Fantasie“ ist. Zum Rondo-Thema in Dur gibt es zwei Moll-Einlagen, die tatsächlich ähnlich den zwei Fantasien in d-Moll und c-Moll klingen. Und speziell ist auch der Pianissimo-Abschluss des Konzertes in Dur.

Alice Sara Ott © Jonas Becker

Ganz großartig, wie Alice Sara Ott am Steinway dieses Konzert präsentierte. Mit zartem und perlendem Anschlag und trotzdem zupackendem Griff faszinierte sie vom ersten Takt an. Toll, wie sie viele Pianissimophrasen ausmusizierte. Für den Jubel bedankte sie sich bei dem Publikum mit einem traumhaften Butterbrot von Mozart („La Tartine de Beurre“) KV 6, das Mozart übrigens mit fünf Jahren schrieb!

Dank der Programmänderungen konnte man am Folgetag den Startenor Jonas Kaufmann mit einer unvergesslichen Wiedergabe von Schuberts „Die schöne Müllerin“ erleben. Der deutsche Tenor mit seinem unverwechselbaren baritonalen Timbre führte dem Publikum in berührenden Phrasen und Worten das traurige Leben des jungen Müllergesellen vor die Augen. Und wie Schubert das in Noten gesetzt hat, hat es vor ihm nicht gegeben und wird es wahrscheinlich auch nie mehr geben.

Optimistisch beginnend mit „Das Wandern“ und „Wohin“ über den Liebesrausch „Morgengruß“ bis zum „Mit dem grünen Lautenbande“, wo die Liebe erstirbt, und zum endgültigen Tod des armen Gesellen „Trockene Blumen“ und „Des Baches Wiegenlied“. Bei Kaufmann kann man da nur in Superlativen verweilen; seine Aussprache ist so deutlich, dass man geradezu mitschreiben könnte – das hatte in dieser Form nur Dietrich Fischer-Dieskau so ausgeprägt. Seine baritonale Stimmfärbung gekoppelt mit dem tenoralen Schmelz erlaubt ihm sogar hohe Töne mit fast nur Bruststimme (manchmal gemischt mit Falsett).

Helmut Deutsch
© Shirley Suarez

Helmut Deutsch ist nicht nur ein prominenter, sondern auch ein hervorragender Begleiter. Schade, dass er manchmal fast zu akademisch-pragmatisch die Noten umsetzte. Ein Traum wäre eine Koppelung Sänger-Pianist, wo sich die beiden Personen gegenseitig die Phrasen „zuspielen“. Das erlebt man leider selten und war auch hier nicht der Fall.

Etwas verstörend war bei Kaufmann das (erwartungsgemäß) vor allem weibliche fanatische Publikum. Wünschte man sich nach „Des Baches Wiegenlied“ einen Moment besinnliche Ruhe, wird man durch primitives Gejohle aus der Stimmung gerissen. Natürlich machte Jonas Kaufmann gute Miene zum sonstigen Spiel und erfreute das Publikum mit drei Zugaben; darunter der „Musensohn“ und ein mehr als berührendes „Wanderers Nachtlied“.

Zwei solche Sternstunden en-suite machen sogar diese Krise momentan vergessen; Chapeau für das ganze Team um Rudolf Buchbinder.

Herbert Hiess, 17. August 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Der fliegende Holländer, Weinviertler Festspiele, 14. August 2020

7 Gedanken zu „Jonas Kaufmann, Helmut Deutsch, Alice Sara Ott, Krzysztof Urbański
Grafenegg Festival 15./16. August 2020“

  1. So wie immer, auch dieser Erlebnisbericht, ich vermeide absichtlich das Wort Kritik, ist hervorragend formuliert. Ich wünsche dem Grafenegg Team und seinem Intendanten alles Gute für die weitere Saison !!

    Herbert

  2. Vielleicht hat Jonas Kaufmann vor Ort ja ander geklungen als in der Übertragung in ORF III, aber eine Sternstunde klingt anders. Bei dieser „Müllerin“ hat die Balance zwischen Text und Musik mehrfach nicht gestimmt. So brutal – um nur ein Beispiel zu nennen – habe ich „Ungeduld“ noch nie gehört, und so brutal gesungen war es von Schubert wohl auch nicht gedacht.
    Letztes Jahr bei der Schubertiade in Schwarzenberg hat Andrè Schuen die „Müllerin“ gesungen – im Vergleich zu Kaufmann war das eine Sternstunde (bei aller Vorsicht mit der Verwendung von Superlativen)

    Michael Koling

  3. Sehr wahr Herr Koling. Da wurde nichts vom filigranen Gewebe sichtbar. Ich hörte zu viel Massivität, Maniriertheit und den unseligen Gebrauch der Kopfstimme. All das sagt: Kaufmann ist von der Rolle geraten. Der am meisten überschätzte Sänger der Gegenwart überzeugt nicht mehr. Und die Hysterie ganzer Frauenhorden ist wahrhaft schlimm, wenn nicht ekelhaft. Die reden vor allem über sein Lächeln, seinen Latino-Look und die Löckchen. Armer Schubert.

    Robert Forst

    1. Zu ihrer Info, es wurden fast nur Doppelplätze verkauft.
      Also gleich viele Männer wie Frauen.
      Ihre „Frauenhorden“ dürften also nur in Ihrer Vorstellung existieren.

      Emil Katz

  4. Ach je, schon wieder die alte Leier von immer wieder den gleichen „angeblichen Kennern“. Ich habe das Konzert am Sonntag „life“ in Grafenegg und nicht vor dem TV gehört und kann Herrn Hiess zu seinem Bericht nur zustimmen. Allerdings hat der schnelle Applaus unmittelbar nach dem letzten Ton wirklich sehr gestört, kam aber durchaus nicht nur von einem „weiblich fanatischen“ Publikum und von Hysterie bei den Damen konnte wirklich nicht die Rede sein. Auch viele Herren im Publikum wollten gerne die Schnellsten sein. Trotzdem war dieser Liederabend in Grafenegg rundherum gelungen, nicht zuletzt auch weil die perfekte Organisation, Gestaltung, Stimmung, Freude über „life“ Aufführung mit Publikum und das herrliche Wetter dazu beitrugen. Ich persönlich genieße solche Ereignisse, anstatt jeden Ton und jede Regung eines Künstlers (oder wie in diesem Fall: zweier Künstler) mit irgendwelchen „Manieriertheiten“ (wenn wir schon bei dem Begriff sind, s.o.) auseinander zu nehmen.

    Angelika Evers

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