K.I.nd of human: Ich erlebe die Geburt der Lebendigkeit durch Imperfektion

K.I.nd of human/Arcis Saxophon Quartett   Kulturzentrum neun, Ingolstadt, 21. Mai 2025

Foto: K I nd of human 4


Der Strom der Energie dieser Choreografie zaubert mir ein Lächeln ins Gesicht. Trotz der Entfernung zur Bühne springt der Funke über und ich erkenne die Hinwendung zur Imperfektion, zum Analogen, Lebendigen, Leidenschaftlichen, Aufregenden.

K.I.nd of human

Choreografie Roberta Pisu
Komposition Leonard Kuhn
Kostüme Bregje van Balen
Assistenz der Choreografie Francesca Poglie

Tänzerinnen Vittoria Franchina, Elisabet Morera Nadal
Tänzer Cristian Cucco, Edoardo Cino

Arcis Saxophon Quartett Ricarda Fuss, Claus Hierluksch, Jure Knez und Anna-Marie Schäfer

 Kulturzentrum neun, Ingolstadt, 21. Mai 2025

von Frank Heublein

Im Rahmen der Tanztage Ingolstadt gastiert das arcis_collective an diesem Abend im Kulturzentrum neun in Ingolstadt mit K.I.nd of human. Die Choreografie ist während der Coronazeit 2022 entstanden. In meinen Worten: das Stück versucht den Ausbruch aus dem Perfekten auszuloten. In der Programminformation heißt es „Wir programmieren uns Perfektion – aber wo bleibt das Unperfekte? Vage? Wo bleibt ein grundloses Lächeln?“. Sowohl die Choreografie als auch die Komposition erfahren Unterstützung durch KI – wohlgemerkt bevor chatGPT zur Verfügung stand.

Die Aufführung beginnt noch bevor ich den Saal betrete. Im Vorraum ist ein Tisch aufgebaut. Wässrig weiße Farbe sabbert darin. Ich sehe eine Erweckung. Ist es die Geburt einer artifiziellen Person? Oder die Findung organischen Bewegens und Handelns? Zum Ende hin interagiert die Tänzerin mit dem um sie Herumstehenden. Dazu blubbern vier Sopransaxophone Lufttöne ins Blumenvasenwasser. Aus den Lautsprechern ertönt ein Mix aus bassbetonten Beats und Chansons. Mit der Musik und einer Stimme aus dem Lautsprecher, die als Alexa Vorhersagen für mein Leben verspricht, entwickele ich eine Assoziation zum Film Blade Runner, in denen es um sogenannte Replikanten geht. Künstliche Menschen, kaum von echten zu unterscheiden. Die Replikanten haben ein programmiertes Lebensende. So gehe ich in den Saal mit der Überlegung, dass Perfektion gleichzeitig auch Vorherbestimmung und in diesem Sinne Nicht-Überraschung, also Langeweile bedeutet.

Foto: K I nd of human 1

Die Saxophonmusik kommt bei mir elektronisch verfremdet an und wird mit harten elektronischen Beats unterlegt. Abgeschnittene Tonfolgen. Tanzfolgen, die sich in geringen Abständen wiederholen. Gleichgeschaltet, nacheinander, nebeneinander aber nicht miteinander. Jede der vier Tänzerinnen und Tänzer für sich allein. Exakt. Perfekt. Identisch. Ich interpretiere die nachfolgende Szene als Überforderung in ihrem Ringen mit den Emotionen. Ein Tänzer geht zu Boden. Geschafft. Erledigt.

Foto: K I nd of human 3

Die Saxophon-Musik hört sich merklich natürlicher an, mit elektronisch erzeugtem Nachhall. Die Tänzerinnen und Tänzer unternehmen erste Versuche des Miteinander Tanzens. Im Fallen wird eine Mittänzerin von den anderen aufgefangen. Alexa wird angerufen: „Kannst Du mir helfen?“. Alexa ist überfordert. Scheitert an der chaotischen Vielfalt der Information.

Der Saxophon Klang wird merklich immer analoger. Stellenweise unterbrochen von elektronischen Bässen. Zwei Paare bilden sich. Ausladende Hebefiguren vermitteln die Intensivierung der Beziehung des einen Paares. Das andere braucht mehrere Anläufe, um zueinander zu finden. Das getanzte Schubsen wird zum Auffangen. Die Paare entwickeln jeweils individuelle Figuren, ein Schritt zur Individualisierung.

Die Musikerinnen und Musiker werden zu Handelnden. Der steuernde musikalische Impuls als Leitplanke des Rhythmischen, Perfekten? Die vier Musikerinnen und Musiker versuchen, den einen von Emotion durchdrungenen Tänzer zu beruhigen. Es entsteht Körper wirbelndes Chaos. Bevor sie jetzt nicht mehr im hinteren Ende der Bühne, sondern seitlich das Saxophonspiel wieder aufnehmen. Die Tänzerinnen und Tänzer vor sich. Erst erobern diese den physischen Raum, so dass ich den Klang der Saxophone durch den Tanz vermittelt greifen können zu glaube. Doch der Klang verwandelt sich in eine Mauer, die die Tänzerinnen und Tänzer immer weiter zurücktreibt, den erschlossenen Grund immer kleiner werden lässt. Sie letztendlich von der Bühne vertreibt. Der rhythmische Klang als Zeichen des Nicht Chaotischen, das dem sprudelnd übermächtigen getanzten Gefühlsausbrüchen Grenzen setzt. So jedenfalls konstruiere ich mir den Sinn des Geschehens.

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Mein Lächeln ist, so sehr ich das bedauere, nicht grundlos. Der Strom der Energie dieser Choreografie zaubert es mir ins Gesicht. Einzig wünschte ich mir, näher an der Bühne zu sein. Die fünf Meter Leere zwischen Zuschauergestühl und Bühne machen meine Kontaktaufnahme mit den Spielenden und Tanzenden aufwändiger. Ich vermute, näher dran wäre meine Übersprungserfahrung noch intensiver gewesen. Doch auch in dieser Entfernung springt der Funke auf mich über, er braucht nur die fünf Meter länger. Ich erkenne die Hinwendung zum Imperfekten, Analogen, Lebendigen, Leidenschaftlichen, Aufregenden. Das zugleich einen hegenden Rahmen im Rhythmus der Musik erfordert.

Frank Heublein, 22. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

The Woods so Wild, Ensemble Phoenix Munich Bayerisches Nationalmuseum, München, 15. Mai 2025

Arcis Saxophon Quartett Live Evil, München, 11. Mai 2025

Dancing Postmodernism | Merce Cunningham Museum Brandhorst, München, 8. Mai 2025

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