"Otello" in München: Der Chor und das Orchester musizieren zum Weinen schön, der Otello ist ein Totalausfall, und in der Nebenrolle glänzt ein Mezzo aus Las Vegas

Klassik vom Feinsten: Die 25 meistgelesenen Beiträge auf Klassik begeistert (7)

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7 – „Otello“ in München: Der Chor und das Orchester musizieren zum Weinen schön, der Otello ist ein Totalausfall, und in der Nebenrolle glänzt ein Mezzo aus Las Vegas

Bayerische Staatsoper, Münchner Opernfestspiele, 15. Juni 2019
Giuseppe Verdi, Otello

Foto: Rachael Wilson (c) W. Hösl
Diese wunderbare Mezzosopranistin sang nur wenige Minuten, aber mit der höchsten Leidenschaft und Hingabe – devotion and passion….

Kirill Petrenko, Musikalische Leitung
Amélie Niermeyer, Inszenierung
Christian Schmidt, Bühne
Anja Harteros, Desdemona
Zoran Todorovich, Otello
Gerald Finley, Jago
Emilia, Rachael Wilson

von Andreas Schmidt

Immer wenn ich von Hamburg nach München fahre, freue ich mich: Mich erwartet die zweitschönste deutsche Stadt (nach HH), das Bier ist Weltklasse und das Opernhaus – im Gegensatz zu Hamburg – ebenso.

Auch dieser Verdi-Abend im Nationaltheater offenbarte mir, dass ich – musikalisch gesehen – in der falschen Stadt geboren bin: Das Nationaltheater ist im Gegensatz zur Staatsoper Hamburg ein RICHTIGES Opernhaus (Hamburg braucht dringend ein neues Opernhaus, wenn es „Musikstadt“ werden will – opernaffine Milliardäre gibt s in HH einige). Die Akustik in München ist einen Kosmos besser als an der Dammtorstraße, das Bayerische Staatsorchester gar zwei Milchstraßen besser – dagegen hört sich das Philharmonische Staatsorchester Hamburg oft wie ein Schülerorchester an – und, lieber Herr Delnon und lieber Herr Nagano in HH: Wenn Sie mal hören wollen, wie ein RICHTIG guter Chor und ein richtig gutes Orchester klingen, sollten Sie mit Ihrer Belegschaft gerne mal eine Dienstreise an die Isar unternehmen.

Die Chöre sind gigantisch in Giuseppe Verdis Oper „Otello“. Das ist Jahrtausendmusik, made in Italia. Und was dieser Chor hier in München an diesem Montag leistet, ist fulminant, powerful, einheitlich, energetisch und beseelt. Ich verneige mich.

Amélie Niermeyer verlegt die Handlung in eine moderne Zeit. Otello und Desdemona erscheinen als reiches Ehepaar, das an einer katastrophalen Beziehung leidet. Am Anfang der Oper erwartet Desdemona ihren Mann, der kein triumphierender Held ist, sondern ein Büromensch, der in seinem “Esultate” das furchtbare Eheleben beklagt, anstatt dem Volk Freude zu bringen.

© Wilfried Hösl, Bayerische Staatsoper – Nationaltheater

Jago macht die schlechte Sache noch schlimmer. Der Grund dafür scheint ein Minderwertigkeitskomplex zu sein. Otello läuft mit Hemd und Krawatte herum, Jago hingegen mit T-Shirt und Sneakers. Von Rassismus ist kaum etwas zu spüren, was dem Libretto und der Partitur in hohem Maße widerspricht.

Das Bühnenbild von Christian Schmidt ist durch eine virtuelle Wand in zwei identische Zimmer geteilt – das eine mit weißen und das andere mit schwarzen Wänden. Die zwei Zimmer stellen die  verschiedenen Welten dar, in denen Desdemona und Otello leben und denken.

Das Schauspiel der Hauptfiguren ist bis ins kleinste Detail durchdacht – unglaublich intensiv, und die Personenregie ist  großartig. Dafür braucht man jedoch gute schauspielernde Sänger, und Anja Harteros und Gerald Finley bieten Musikdramatik auf absolut höchstem Niveau.

Im Orchestergraben schafft derweil das Orchester unter dem Generalmusikdirektor Kirill Petrenko Unglaubliches: Wie kann man solche Transparenz und solchen Detailreichtum bewahren, ohne dass es dabei im Geringsten an Dramatik mangelt? Vom gewaltigen Sturm am Anfang bis zum zarten Ende – das Orchester und das Dirigat sind großartig.

© Wilfried Hösl: Kirill Petrenko

Gerald Finley hat einen warm-väterlichen Bariton mit reichem Kern und Geschmeidigkeit. Durch seine Feinheit liefert er eine rundum glaubwürdige Interpretation des Jago, der mit dämonischen Kräften die Beziehung von Otello und Desdemona sabotiert und das Böse äußerst raffiniert auf die Bühne bringt.

Vor zwei Jahren debütierte der (ehemalige) Startenor Jonas Kaufmann als Otello in London; die Reaktionen von Presse und Opernliebhabern waren gemischt. An diesem Abend fällt er aus. Das ist für Stimmenliebhaber nicht immer von Nachteil, da Herr Kaufmann schon lange seinen Zenit überschritten hat, wie auch die TV-Dokumentationen zu seinem 50. Geburtstag traurig dokumentierten. Er ist einfach nicht mehr der alte und klingt oft sehr bemüht, gepresst, eng und unfrei. Da sieht man im TV einen lockeren, fröhlichen Jonas Kaufmann, voll des Glücks einer neuen Beziehung und der erneuten Vaterschaft…. einen Jonas Kaufmann, der sehr sympathisch rüberkommt, und man wundert sich, dass dieser Weltstar und Sympathieträger sowie seine Agenten Mitschnitte mit dieser streckenweise dürftigen Stimme samt vielen Fehltönen freigegeben haben.

Wenn dann aber in München ein „Ersatz“ kommt, der in der Verfassung des 1. und 2. Aktes nicht einmal das Vorsingen in einem guten deutschen Laienchor bestanden hätte, ist es natürlich nicht gut bestellt. Der in Belgrad geborene Zoran Todorovich war DAS negative Pausengepräch. Viele Zuschauer äußerten sich sichtlich genervt (!) über dessen Leistung. Es ist einfach nicht erklärbar, wie die großartige (!) Bayerische Staatsoper so einen „abgesungenen“ Sänger – sein Alter verschweigt er in den Medien – engagiert. Aber wir wollen uns nicht weiter ärgern und hätten den Verantwortlichen gerne einen Mitschnitt der Pausengespräche überbracht. Von klassik-begeistert gibt es für diesen Tenor die Schulnote 6 – für Akt 1 und 2 und die Schulnote 4 für die weniger anspruchsvollen Teile 3 und 4.

Ein Sonderlob von klassik-begeistert.de bekommt die sympathische US-Amerikanerin Rachael Wilson, geboren in Las Vegas, in ihrer Nebenrolle als Emilia. Was für ein wunderbar-warmer, energetischer, fraulicher und sinnlicher Mezzo. Rachael Wilson hatte den größten Präsenzfaktor in den drei Stunden und 15 Minuten. Sie ist 2018 mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet worden. Sie hat Klasse, das gewisse Extra und Ausstrahlung. Von ihr werden wir noch viel Schönes hören. Sie war die positive Antipode zum Otello.

Anja Harteros © Marco Borgreve

In der Rolle der Desdemona bietet Anja Harteros, eine der weltbesten Sängerinnen im lyrisch-dramatischen Fach, eine geschichtsträchtige Leistung. Sie bringt die Rolle auf eine neue Ebene, verkörpert nicht nur die reine, unschuldige Frau, sondern auch eine Frau von Stolz und Selbstbewusstsein.

Mit ihrem warmen, weichen Sopran, der in allen Lagen, und vor allem in der Höhe fabelhaft klingt, singt sie voller Leidenschaft und Eleganz. Ihre Legati klingen außerordentlich, gerade so, als sänge sie die ganze Rolle vom Anfang bis zum Ende in einem einzigen langen Ton.

Und im vierten Akt singt Anja Harteros so engelsgleich, dass man sich nur eine Frage stellt: Hat es je eine bessere Desdemona gegeben? Diese zählt auf jeden Fall zu den besten aller Zeiten, ist (vielleicht) sogar die beste. Dass dabei zweimal für JEDEN Zuschauer hörbar laut ein Handy klingelte, ist ein Fluch unserer bisweilen trostlosen Zivilisation. Der … Besucher sollte lebenslanges Besuchsverbot im Nationaltheater bekommen.

Andreas Schmidt, 16. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Mitarbeit: Yehya Alazem

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