Georges Delnon, Intendant der Hamburgischen Staatsoper (Foto aus Journal 4 2021/22, re./li.: RW)
Unser Hamburger Haus atmet Tradition, hier stand schon Enrico Caruso auf der Bühne, und der Zuschauerraum ist mit seinen hängenden Logen durchaus denkmalwürdig für die Erbauungszeit in den 1950er-Jahren, lockt aber wohl niemanden wegen der Innenarchitektur ins Haus. Dafür sind große Namen als Kristallisationspunkte erforderlich, Sängerinnen und Sänger, die auch von weniger opernaffinen Besucherinnen und Besuchern gesehen und gehört werden wollen.
Ein Meinungsbeitrag von Dr. Ralf Wegner
Rückblickend war die Intendanz unter Georges Delnon nicht so schlecht, wie es manche Kritiker verlauten ließen. Und anders als kolportiert, erwies sich die erste Intendanz unter Rolf Liebermann nicht als so herausragend, wie sie nach der Erinnerung mancher Zeitgenossen gewesen sein soll.

Nachfolgende Einschätzung ist zwar ganz subjektiv, aber unter analogen subjektiven Kriterien für alle 10 von mir erlebten Hamburger Opernintendanzen bei longitudinaler Sicht im Vergleich durchaus objektiv.
Meiner Bewertung lagen Abonnementsvorstellungen und zusätzlich aus Interesse an den Besetzungen gewählte Opernabende zu Grunde. Vieles, was andere Kritiker bemängelten oder lobten, habe ich daher möglicherweise weder gesehen noch gehört.

Dies berücksichtigend liegen die Intendanzen Everding, von Dohnányi und die zweite (!) von Rolf Liebermann ganz vorn. Diese 15 Jahre zwischen 1973 bis 1988 begründeten den Nachkriegsruhm der Hamburgischen Staatsoper, während der sich internationale Superstars wie Birgit Nilsson, Leonie Rysanek, Montserrat Caballé, Margaret Price, Mirella Freni oder Eva Marton, Luciano Pavarotti, Plácido Domingo, Franco Bonisolli, Sherril Milnes oder Nicolai Ghiaurov die Klinke in die Hand gaben.
Danach sackte das sängerische Niveau, bis es nach der Jahrtausendwende unter Louwrence Langevoort den Nullpunkt erreichte. Während der 10-jährigen Intendanz von Simone Young waren dann wieder 19% der Aufführungen spitzenmäßig, und jetzt unter Georges Delnon stieg der Prozentsatz exzellenter Opernabende sogar noch leicht auf 22% an.

Neben Übernahmen mit herausragenden Besetzungen wie Eugen Onegin (u.a. mit Kajtazi, Tsymbalyuk, Nurgeldiyev), Macbeth (Platanias, Melnychenko, Vinogradov und Nurgeldiyev) oder Tosca (Gheorghiu, Pérez) wurden zusätzlich bemerkenswerte Neuinszenierungen auf die Bühne gebracht wie die bildgewaltigen Werke Hoffmanns Erzählungen (2021, Polenzani, Yende, Schrott), Carmen (2022, Kataeva, Muzek, Kajtazi), Tannhäuser (2022, Vogt, Holloway, Baumgartner, Zeppenfeld) oder Boris Godunow (2023, Tsymbalyuk), außerdem die in großbürgerlichen Wohnräumen angesiedelte Strauss-Trilogie von Dmitri Tscherniakov mit u.a. Catherine Foster als Elektra, Asmik Grigorian als Salome (2023) sowie Anja Kampe als Ariadne und Nadezhda Pavlova als Zerbinetta (2025).

Weiterhin sangen Andreas Schager Erik, Parsifal, Siegfried und Götterdämmerung, Klaus-Florian Vogt Tannhäuser, Lohengrin, Florestan und Paul, der früh verstorbene Stephen Gould sang Bacchus, Gregory Kunde Calaf, Peter Grimes und Dick Johnson, Benjamin Bernheim Hoffmann und des Grieux. Pretty Yende war noch als Manon und Violetta besetzt sowie u.a. Camilla Nylund als Ariadne und Lady Macbeth von Mz.
Einzelne Aufführungen gerieten zu Sternstunden wie zuletzt Puccinis Fanciulla unter Ciampa mit Pirozzi, Kunde und Sgura und ein Jahr vorher Mozarts Figaro unter Lohraseb mit Katarina Konradi als Susanna und der unvergleichlichen Julia Lezhneva als Cherubino oder La Bohème unter Arrivabeni mit Muzek, Kajtazi, Karagedik, Konradi und Kowalczyk. Überhaupt Elbenita Kajtazi, was hat sie uns für großartige Opernabende beschert und ihre Partner zu Höchstleitungen stimuliert wie Benjamin Bernheim oder Pene Pati in Manon, Tomislaw Muzek in La Bohème oder Stephen Costello und Artur Rucinski in La Traviata und wie überragend sang sie Micaela in Carmen, Liù in Turandot oder Tatjana in Eugen Onegin.
Das waren nur einige Beispiele für herausragende Aufführungen. Daneben gab es auch Negativa, wie den anfangs die junge Sopranistin Julia Maria Dahn noch überfordernden Einsatz in zahlreichen Hauptpartien, während die fabelhafte Hellen Kwon, die 2014 noch mit einer großartigen Salome beeindruckte, kaum noch größere Rollen singen durfte. Anzukreiden wäre aus meiner Sicht aber vor allem die gegenüber allen früheren Intendanten völlige Vernachlässigung des Wagner-Repertoires. Mehr als 3 Wagneropern fanden sich selten im Repertoire, und der Ring des Nibelungen wurde meiner Erinnerung nach nur 2018 wieder aufgenommen und nicht neu in Szene gesetzt. Ein wagneraffines Publikum wurde damit verprellt.
Dafür gab es einen szenisch völlig misslungenen Holländer und eine einfallslose Norma-Inszenierung. Der von Delnon auf die Bühne gehobene neue Mozartzyklus mit einem exquisiten Figaro und einer szenisch miserablen Zauberflöte bleibt zwiespältig in Erinnerung. Don Giovanni war nicht ganz schlecht, dass lag aber mehr an der Kraft der Mozart’schen Komposition als der Inszenierungsidee.
Von den ca. 24 Neuinszenierungen des Kernrepertoires zählen meiner Auffassung nach 15 zu den Aktiva der Intendanz, nur 6 zu den Negativa, neben den genannten noch die gesanglich völlig unzureichend besetzten zentralen Belcanto- bzw. Verdi-Werke Lucia di Lammermoor und Il Trovatore. Positiv bleiben aber die während dieser Intendanz aus der Taufe gehobenen italienischen Opernwochen zu erwähnen, die mithilfe der Opernstiftung auch gesanglich mehr als üblich unterfüttert wurden. Leider wird die neue Intendanz diese (kleine) Tradition nicht fortsetzen.
Den von Georges Delnon inszenierten Tränenpalast-Fidelio fand ich im Gegensatz zu manchen anderen nicht so schlecht. Vielmehr habe ich ihn noch recht gut in Erinnerung, während alle vorausgegangenen Inszenierungen bei mir bereits verblasst sind. Wahrscheinlich ist Beethovens Meisterwerk inszenatorisch auch nur schwer in den Griff zu bekommen. Trotzdem zählt gerade diese Freiheitsoper zum Kernrepertoire jedes Opernhauses.
Und zur Vollendung der Statistik: 23% der gesehenen Aufführungen wurden von Kent Nagano geleitet, das lag deutlich unter der Einsatzhäufigkeit der kraftvoll-inspirierender dirigierenden Simone Young in den 10 Jahren davor (45%).

Warum blieben aber mit der Zeit die Zuschauer fern, während sich die Zahlen in anderen Häusern nach der Corona-Pandemie genauso erholten wie bei John Neumeiers Ballett-Aufführungen?
Weil es meiner Meinung nach keinen Opernreisetourismus mehr in Hamburg gibt. Die Anzahl der Konkurrenzveranstaltungen ist hier größer als anderswo. Ein Teil der Hamburg-Besucher, die durchaus opernaffin wären, lassen ihr Geld in den fünf, jeweils mehr als 1.000 Plätze fassenden Musicaltheatern, und die Anzahl verkaufter Konzertkarten in der Elbphilharmonie und der Laeiszhalle hat sich gegenüber früher mit gut 850.000 verkaufter Karten in der Saison 2023/24 vervielfacht.
Und ein weiterer Aspekt kommt hinzu: Das Münchner Haus sowie die Dresdner Semperoper gelten als touristische Sehenswürdigkeiten an sich, ebenso will mancher neben Verona zumindest einmal im Leben schon aus Prestigegründen in der Mailänder Scala oder im Pariser Palais Garnier gewesen sein.
Unser Hamburger Haus atmet Tradition, hier stand schon Enrico Caruso auf der Bühne, und der Zuschauerraum ist mit seinen hängenden Logen durchaus denkmalwürdig für die Erbauungszeit in den 1950er Jahren. Er lockt aber wohl niemanden wegen der Innenarchitektur ins Haus. Dafür sind große Namen als Kristallisationspunkte erforderlich, Sängerinnen und Sänger, die über ihre Leistung hinaus populär sind und auch von weniger opernaffinen Besucherinnen und Besuchern gesehen und gehört werden wollen. Dafür wird dann auch mehr ausgegeben.
Ein Argument zieht überhaupt nicht, dass die Oper zu teuer sei. Im Gegensatz zu fast allen Popkonzerten oder Musicalaufführungen kann man in der Hamburgischen Staatsoper für den Preis einer Kinokarte immer wieder fabelhafte Opernabende erleben, etwa im vierten Rang auf den „billigen Plätzen“.
Dr. Ralf Wegner, 15. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die Hamburgische Staatsoper: Aufbruch zu neuen Ufern, Spielzeit 2025/26 Hamburg, 5. März 2025
Kommentar zur aktuellen Situation beim Hamburg Ballett Hamburgische Staatsoper, 6. Mai 2025
Report: Hamburger Ballett Saison 25/26 Staatsoper Hamburg, 6. März 2025