Foto: Krzysztof Urbański © Marco Borggreve
Das „Sacre“ ist sicher das Größte, was Strawinsky je geschaffen hat und das wurde im Lübecker Konzert grandios umgesetzt. Das bewies auch der enthusiastische Beifall, schnell stand fast das ganze Publikum. Ein erstklassiger Abend mit überraschenden Momenten und lustvoller Leidenschaft!
Lübeck, Musik- und Kongresshalle, 22. Juli 2022
Konzert im Rahmen des Schleswig-Holstein Musik Festivals
Sergei Prokofieff, Skythische Suite op. 20
Johan Adams, 2. Satz aus „Naïve and Sentimental Music”
Igor Strawinsky, Le Sacre du Printemps
Krzysztof Urbański, Dirigent
Schleswig-Holstein Festival Orchestra
von Dr. Andreas Ströbl
Ein aufwühlendes Programm voll urtümlicher Leidenschaft durfte ein entflammtes Publikum am 22. Juli in der Lübecker „MuK“ (Musik- und Kongresshalle) mit dem polnischen Stardirigenten Krzysztof Urbański und dem Schleswig-Holstein Festival Orchestra erleben.
Die beiden Hauptstücke des Abends sind musikalisch und inhaltlich Geschwister und beide veranlassten bei ihrer Uraufführung jeweils einen handfesten Skandal.
Viel zu selten aufgeführt wird die „Skythische Suite“ von Sergei Prokofieff aus dem Jahre 1916. Es ist die orgiastische Beschwörung einer mythischen Vergangenheit, genauer gesagt, einer angeblichen Sage der Skythen, dem nomadischen Reitervolk, das ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. die eurasischen Steppen nördlich des Schwarzen Meeres, also dem Gebiet des heutigen südlichen Russland und vor allem der Ukraine, besiedelte. „Das sind ja Skythen!“, rief Napoleon, als er aus dem eroberten Kreml auf das von den Bewohnern selbst angezündete Moskau blickte. Er erinnerte sich dabei an einen Bericht Herodots, der die Mentalität und Kampftaktik dieses stolzen Volkes im Kriege gegen die Perser geschildert hatte, das die eigenen Siedlungen, Felder und Nahrungsmittel zerstörte, um den nachrückenden Feind zu zermürben. Ein großes Opfer also, um den Gegner von den Ressourcen abzuschneiden und das eigene Überleben zu sichern – diese waghalsige Rechnung ging sowohl in der Antike als auch 1812 gegen die Franzosen auf.
In der Sage, die eigentlich die Überarbeitung eines Volksmärchens ist, wird der Kampf zwischen Tag und Nacht, zwischen dem Sonnengott und dem Herrscher der Unterwelt thematisiert und Prokofieff entwirft ein vom ersten Ton an soghaft-magisches Klangwunder mit archaischen Rhythmen in romantischer Verklärung einer vorzivilisatorischen Ekstatik. Schon darin ähnelt sein Werk dem „Sacre“ von Strawinsky, das ihn ungemein beeindruckt hat. Dennoch ist die vierteilige „Skythische Suite“ kein Abklatsch des „Frühlingsopfers“, sondern formt seine ganz eigene Klangsprache mit einem feurigen Beginn, dessen psychedelischer Wirkung man sich schlichtweg nicht entziehen kann. Lyrische Flöten-Partien zaubern im ersten Teil, „Anbetung von Veles und Ala“, bukolische Bilder einer längst vergangenen Welt, aber düstere Wolken dräuen bereits und wie aus den Kurganen, den skythischen Hügelgräbern in Südsibirien, steigen die Schatten uralter Mächte heraus. Dennoch wirkt die Behandlung der Themen und die Instrumentierung ausgesprochen modern, aber das ist typisch für Prokofieff, dem es wichtig war, dass „die Moderne [seinem] Schaffen entspricht“.
Tänzerische Motive gemahnen in „Tschuschbog und Tanz der bösen Geister“ an vorgeschichtliche Ritualhandlungen im nächtlichen Feuerschein und triebhafter Inbrunst. Der Satz „Nacht“ entwirft ein zauberhaftes, mystisches Sternenfunkeln, aus dem man eine Nähe zu den im gleichen Jahr entstandenen „Planeten“ von Gustav Holst heraushören mag, so, als hätte hier ein ferner Himmelskörper gleichzeitig beide Komponisten gegrüßt. Reizvolle Dissonanzen verdüstern die vermeintliche Idylle und schaffen eine gespenstische Spannung, die auf das dramatische Finale vorbereitet. Das erzählt „Lollis Kampf und Aufgang der Sonne“ mit strahlenden Tutti-Passagen; gleich dem aufstrebenden Sonnengott schraubt sich das Motiv retardierend in den Himmel empor und führt zum glänzenden Triumph des Lichts.
Was für ein grandioses Stück und was für eine Leistung von Dirigent und Orchester! Urbański tänzelte selbst zuweilen wie ein sibirischer Schamane und griff oft mit der linken Hand ganz nahe an seinem Gesicht mit der so charakteristisch entschiedenen Mimik die musikalischen Keimzellen aus der elektrisch aufgeladenen Luft auf und warf sie ins Orchester hinein, das den Zunder aufnahm und ihn zur Flamme auflodern ließ.
Dieses war der erste Streich eines bemerkenswerten Konzerts und den quittierten die Lübecker schon mit begeistertem Applaus – im Gegensatz zum St. Petersburger Publikum der Uraufführung, das diese musikalische Sternstunde mit Pfiffen und Buhrufen zu vernichten suchte.
Als Zwischenstück gab es eine sehr zarte Komposition – eher feinnervige Dichtung – von John Adams, dessen Musik der Feuilletonist und Musikkritiker Alex Ross einmal so beschrieb: „Sie klingt wie der Highway 1. Es ist ein in Stücke geschnittenes Paradies, ein Strom vertrauter Töne in ungewohnter Anordnung“. Das trifft auch für den zweiten Satz aus seiner „Naïve and Sentimental Music” von 1999 zu, einer Reminiszenz an Friedrich Schillers Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Sphärische Dreiklangvariationen entwickeln eine minimalistische Struktur, zu der eine sehr zurückhaltende Gitarre in Dialog, manchmal vorsichtigen Widerspruch tritt. Die spielte Sean Shibe, Preisträger des Leonard Bernstein Award 2022, mit delikater Sanftheit und reizvollen, gerade mal angedeuteten Bottle-Neck-Glissandi.
Adams macht keinen Hehl aus seiner Nähe zu Gustav Mahler und so fühlt man sich zwischenzeitlich auf eine blumige Almwiese versetzt, die Gitarre grüßt zu Mahlers 7. Symphonie herüber. Violinen, dann Celli und schließlich Bässe mit entschiedenem Pizzicato schaffen eine Steigerung, Violinstriche mit abrupten Abrissen hören sich fast an, als sei die Musik hier rückwärts abgespielt. Die Szenerie verdüstert sich, eine beängstigende Vorahnung wird durch harte Schlagwerk-Akzente bestätigt und steigert sich ins Grell-Kreischende. Erst danach schieben sich versöhnende Klänge ein und kehren wie nach einem Gewitter besänftigt zum sanften Beginn zurück.
Dass moderne Musik nicht allen zugänglich ist oder vielen nicht gefällt, ist ja völlig in Ordnung. Unverschämt und rüpelhaft ist es aber, wenn man in die Pianissimo-Stellen einen Stock oder eine Bierflasche fallenlässt und bei der beschriebenen grellen Stelle für alle hörbar murmelt, „Och, das ist jetzt aber zuviel“. Einfach mal die Klappe halten und hinterher schimpfen, das ist legitim. Mag sein, dass sich der Solist Sean Shibe deswegen nicht zu einem letzten Vorhang hat herausklatschen lassen.
Wie jemand, der in der Kindheit zuwenig Aufmerksamkeit bekommen hat, musste ein Mann auf dem Orchesterrang immer wieder weit über das Geländer gebeugt stehen und zeigen, dass er auch da ist. Und glücklicherweise durfte sich das Lübecker Lungensanatorium mit überall im Saal verteilten Sitzplätzen mal wieder so richtig aushusten. Wozu erfand man eigentlich (vor und zwischen den Stücken auszuwickelnde) Hustenbonbons?
Wie schön, dass es Fortissimo-Stellen gibt, und zwar mit Pauken, starkem Blech und ruppigen Streichern, die in wilder Ekstase alles Störende übertönen und mit heiligem Zorn alles wegfegen, was nicht begeistert mittanzt! Das bietet Strawinskys „Sacre du Printemps“ von 1913 und bekanntermaßen konnte man bei den Tumulten während der Uraufführung kaum mehr etwas von der Musik hören, trotz aller höchst expressiven Dynamik.
Dieses drei Jahre ältere Geschwister der „Skythischen Suite“ entwirft ebenfalls eine vorchristliche Szenerie, allerdings mit einem Menschenopfer zur Besänftigung der Götter. Musik und Inhalt sind hinlänglich bekannt und man weiß, was einen erwartet. Dennoch ist dieses Stück mit seiner sinnlichen Aufgeladenheit und geradezu erotischen Macht dazu angetan, immer wieder aufs Neue zu verzaubern, mitzureißen und auch erfahrene Konzertgänger in bedenkliche Wallung zu bringen. Dazu darf jede und jeder assoziieren, was beliebt – vor allem, wenn jemand wie Krzysztof Urbański mit seinem schmiegsamen, emotionalen Dirigat das sehr junge und international bestückte Schleswig-Holstein Festival Orchestra mitreißt und zu heidnischen Rhythmen aufpeitscht. Der 40-jährige Dirigent hat sich seine frische Bubenhaftigkeit erhalten und es ist immer wieder ein Vergnügen, mitanzusehen, wie er in der Musik aufgeht und seine Hände wie an den Fäden eines Puppenspielers gleichsam die Töne aus den Instrumenten ziehen. Gerade die Holzbläser waren überzeugend und natürlich durften die Schlagwerker zeigen, wer in diesem Stück das Sagen hat.
Die ungemein schwierige und komplizierte Rhythmik, die ständig wechselt und sich in Abschnitten mehrfach überlagert, meisterte das Orchester mühelos und schaffte es auch, in all den dissonanten Brüchen den lyrischen Passagen anmutig Raum zu geben. Gerade die zauberhaften Momente zu Beginn des zweiten Teils waren dazu angetan, Gänsehautschauer über die Leiber derjenigen zu jagen, die dafür empfänglich waren.
Das „Sacre“ ist sicher das Größte, was Strawinsky je geschaffen hat und das wurde im Lübecker Konzert grandios umgesetzt. Das bewies auch der enthusiastische Beifall, schnell stand fast das ganze Publikum. Ein erstklassiger Abend mit überraschenden Momenten und lustvoller Leidenschaft!
Dr. Andreas Ströbl, 23. Juli 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schleswig-Holstein Musik Festival, Martin Grubinger Musik-und Kongresshalle Lübeck, 7. Juli 2022
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