Ein Neugeborenes und eine alte Bekannte entführen uns in phantastische Welten

Konzerthausorchester Berlin, Joana Mallwitz Dirigentin  Konzerthaus Berlin, 14. Februar 2025

Lera Auerbach © Pablo Castagnola

Jetzt würde ich das gern noch einmal hören – sagt die Frau, die hinter mir sitzt, als wir nach der Pause wieder Platz nehmen. Ich auch! Und das nach einer Uraufführung – die Musik hätte neuer also nicht sein können.

Lera Auerbach – „Labyrinth“ für Orchester (Uraufführung, Kompositionsauftrag des Konzerthauses Berlin)

Modest Mussorgsky – „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel

Konzerthausorchester Berlin
Joana Mallwitz, Dirigentin

 Konzerthaus Berlin, 14. Februar 2025

 von Sandra Grohmann

Mit Mussorgskys Wanderung durch „Bilder einer Ausstellung“ kann man bekanntlich weit reisen. Zu den Tuilerien in Paris, nach Limoges auf einen Marktplatz und in die römischen Katakomben. Sogar bis zu einem nie gebauten Großen Tor von Kyiv. Und zur Hexe Baba Jaga in fremde Märchenwelten. Man kann in Bilder hineinhören, als ginge man durch den Kleiderschrank nach Narnia. Figuren aus vergangenen Zeiten kommen einem klagend, kichernd, streitend, schlendernd, gackernd und großspurig auftretend entgegen. Sie könnten auch heute unter uns sein, alte Bekannte.

Unter Joana Mallwitz’ Dirigat werden sie vom Konzerthaus Orchester Berlin zum Leben erweckt, erstehen auf dem Podium, schreiten zwischen den Reihen entlang, schweben über die Musiker hinweg oder verkrümeln sich im Publikum. Kurz vor dem Ende droht schließlich das berühmte hühnerfüßige Hexenhaus alles von der Bühne zu fegen, bevor der strahlende Schlussatz ein versöhnliches und friedliches Finale signalisiert, auf das man außerhalb des Konzerthauses nur hoffen kann.

Kein Wunder, das dieses Stück Lera Auerbach zur Komposition des Stückes „Labyrinth“ angeregt hat, die sich deutlich an der Struktur des gut 150 Jahre zuvor entstandenen Ausstellungsrundgangs orientiert und vor der Pause als Uraufführung der Orchesterfassung erklungen ist. Eine Uraufführung, die niemanden abhält zu kommen, im Gegenteil: Das Konzerthaus ist wie bei allen Mallwitz-Konzerten ratzeputz ausverkauft. Und das, obwohl doch viele Leute noch Vorbehalte pflegen gegen Musik, die jünger ist als gut 100 Jahre: Seit 1920 wurde in der Vorstellung vieler Klassikliebhaber nur noch atonal und damit schwer hörbar komponiert.

Lera Auerbach © Cezary Rucki

 Auerbach beweist (wie so viele andere auch), dass derlei Vorbehalte – mit Verlaub – Quatsch sind. Vor allem Live-Konzerte mit zeitgenössischer Orchestermusik bieten eine Reise in neue Klangwelten, die sich überdies auch optisch lohnt. Allein schon die exotisch anmutenden Instrumente im Schlagwerk entzücken. So etwas erlebt man sonst selten – die Viecher, die da zum Einsatz kommen, sehen aus, als kämen sie vom Mars. Und Töne geben sie ab – nicht nur geschlagen, sondern gestreichelt, gepumpt oder mit dem Bogen gestrichen kommen die Klänge aus dem Nichts und entschwinden auch wieder dorthin. Oder vielleicht kommen sie von einem Stern und kehren dorthin zurück.

Jedenfalls aber entführen sie uns in Seelenwelten, als wäre die Musik nicht nur von Mussorgsky, sondern auch von Shakespeares Sommernachtstraum inspiriert. Tatsächlich stand erklärtermaßen auch Literatur Pate für das Werk, nämlich Jorge Luis Borges’ „Einhorn, Sphinx und Salamander: Das Buch der imaginären Wesen. Bei einer Komponistin, die auch Dichterin ist, überrascht das nicht. Hier gehen die Traumwanderer-Passagen, die den Sätzen die Titel geben, ins Literarische – hinein in alte Sagen von Fabelwesen wie dem Minotaurus, der in einem Labyrinth natürlich nicht fehlen darf. Da begegnen wir dem unsichtbaren A Bao A Qu, dem Mondhasen und dem Bahamut. Enden tut das Ganze in der alle Literatur umfassenden Bibliothek von Babylon, also quasi im Paradies. Oder, wie Lera Auerbach es beschreibt: Im Abbild des Universums: schön, chaotisch, unergründlich.

Joana Mallwitz © Simon Pauly

Die spinnwebzarten Klänge, konstrastiert mit bedrohlich hereinbrechenden Szenarien, spiegeln zugleich den Blick ins Innere des Menschen. Eine Traumwelt breitet sich aus und ist jeden Moment hör- und spürbar.

Das Konzerthausorchester mit seiner Präzision und dem Enthusiasmus, der sich mit dem seiner Chefdirigentin ergänzt und potenziert, verzaubert den ganzen Konzertsaal. Filmsequenzen entstehen im Kopf und spiegeln Seelenzustände. So vermittelt es auch die kluge Beschreibung durch Auerbach selbst im Programmheft, und meine Pausenbegleiterinnen berichten, dass genau dies Thema der Einführung gewesen sei. Wie schön und befriedigend ist es doch, wenn das Intendierte tatsächlich zu hören ist!

Mallwitz’ Einführungen sind ja inzwischen legendär und ich bin immer traurig, wenn ich sie wie heute verpasse. Denn sie saß, dem Bericht zufolge, am Flügel, spielte Passagen aus dem neuen Stück und befragte die Komponistin dazu. Und wer die Dirigentin kennt, der weiß, dass sie gar nicht anders kann, als ihre Begeisterung auf alle zu übertragen, die da Augen und Ohren haben.

Joana Mallwitz © Simon Pauly

Sehr begeisterter und herzlicher Applaus für das aus der Taufe gehobene Werk, für das von den Berlinern sehr geliebte Orchester mit seiner grandiosen Chefin sowie natürlich vor allem für Lera Auerbach. Die Komponistin schritt übrigens würdevoll mit Beethoven-Frisur und samtenem Gehrock, aus dessen Ärmeln Spitzenmanschetten herausschauten, auf die Bühne: auch dies eine deutliche Bezugnahme auf Traditionen.

Hat jemand was von 1874, von 1920 gesagt? Vergessen wir es. Musik ist eben überzeitlich. Aufs Hinhören kommt es an.

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