von Jolanta Łada-Zielke
Die Pandemie verbreitet sich immer mehr, ein neuer „Lock down“ fängt gerade an, und Reiseeinschränkungen wurden eingeführt. Was bleibt für uns Musikliebhaber, wenn nicht musikalische Reisen in Zeit und Raum? Mit Georg Philipp Telemann können wir sogar eine Weltreise unternehmen. Er vertonte 36 geografische Lieder, die am 30. Oktober 1708 in Hildesheim ihre Uraufführung hatten. Aus den Texten des Dichters Johann Christoph Losius können wir lernen, wie Europa und die Welt um die Wende des 18. Jahrhunderts aussahen.
Die Lieder wurden im Barockstil nach italienischen und französischen Mustern für eine Solostimme mit Begleitung komponiert. Sie haben einen einfachen, nicht sehr virtuosen Charakter, da sie für Schüler des Andreanum Gymnasiums in Hildesheim zum Singen gedacht waren. Der Schulleiter des Gymnasiums, Johann Christoph Losius (1655-1732), war ein Dichter mit dem Ehrentitel Poeta Laureatus *. Er schrieb Gedichte und Theaterstücke, die auf der Bühne des Gymnasiums aufgeführt wurden. Er wählte den begabtesten Schüler Georg Philipp Telemann (1681-1767), um die Musik für seine „Singende Geographie“ zu komponieren.
Diese Werke blieben lange Zeit unbekannt, vielleicht weil Telemann sie im Rahmen seiner Schulausbildung schrieb und sie nicht mit seinem Namen signierte. Die Sammlung wurde Ende der 1950er Jahre in der Hildesheimer Dombibliothek entdeckt, wo sie das große Feuer der Stadt während des Krieges von 1945 glücklich überlebte. Zunächst wurden sie 1958 von Adolf Hoffmann im Möseler Verlag herausgegeben.
Im Text des ersten Liedes des Zyklus lädt der Sänger das Publikum zu einer gemeinsamen Schiffsreise ein, bei der er die von ihm besuchten Teile der Welt präsentiert. Im 18. Jahrhundert hatte nicht jeder Zugang zu Karten und Globen, daher war es notwendig, im bildlichen Sinne zu erklären, wie die einzelnen Kontinente aussahen. Die Gestalt Europas ähnelt dem Bild des Todes in der damaligen Symbolik: Portugal ist das Schädelgewölbe, Spanien – das Gesicht, Frankreich – die Brust und der linke Arm ist Großbritannien. Deutschland, Ungarn und Polen befinden sich im Unterbauch, während die Knie die Konturen der skandinavischen Halbinsel bilden. Im hinteren Teil des Körpers des Kontinents befinden sich die Türkei und Griechenland.
Laut Losius hat Afrika die Form eines Herzens, das es dem sterbenden Europa bietet. Beide Amerikas werden mit der Sanduhr verglichen, weil sie durch die enge Landenge von Panama verbunden sind. Deutschland war zu der Zeit geteilt, so dass fast jedem Staat ein eigenes Lied zugewiesen wird. Das sind: Bayern, Ober-und Niederrhein, Westfalen, Niedersachsen, Kürfürstentum Hannover, Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel, Stift Hildesheim und Obersachsen. Nur ein einziges Lied wird drei Regionen gewidmet, nämlich Franken, Schwaben und Burgund. Es ist interessant, dass Losius die Abkürzung BACH in den Text einfügt, in dem die Namen der vier Fürstentümer verborgen sind: Bayreuth, Ansbach, Coburg und Henneberg.
Die „Helden“ einiger Werke sind Länder, die es heute nicht mehr gibt, wie die spanischen Niederlande oder das damalige norditalienische Welschland, heute der Kanton Wallis in der Schweiz. Der Türkei sind zwei Lieder gewidmet, das erste über ihren europäischen Teil (das heißt über alle Länder des Osmanischen Reiches) und das zweite über den asiatischen Teil. Losius schreibt über Russland mit Bewunderung für die Größe seines Territoriums und seines Reichtums. Er fügt hinzu, dass „Polen und Ukraine damit fast wüst und gar alleine“ seien. Aber der Dichter versuchte eigentlich, in jedem Stück jedem Land zu schmeicheln.
Natürlich war ich neugierig, wie das Land meiner Herkunft in „Singender Geographie“ dargestellt wurde. Polen wird so beschrieben, wie es damals auf der Karte aussah, das heißt mit Krakau, Sandomierz, Lublin, Kujawien, der Ukraine, Wolhynien und Podolien. Die zweite Strophe des Liedes beginnt mit den Worten: „Wilna, Trokow, Breffici“, und dann gibt es eine Erklärung, dass diese Orte tatsächlich zu Litauen gehören. Dann werden Nowogródek, Mińsk und Witebsk in Weißrussland genannt und schließlich das „Kosaken Strich“ mit der Stadt, die der Autor als „Samogit“ bezeichnet (er meint wahrscheinlich das heutige Sambor in der Ukraine). In der dritten Strophe werden Warschau, Gniezno und Piotrków erwähnt. Dann kehrt Losius in die östlichen Grenzgebiete zurück und teilt mit, dass „Lemberg das sonst heißet Lwow“. Grodno (heute Weißrussland) und Kamieniec (Ukraine) sollten Grenzen des Landes vor dem Feind schützen. Telemann hatte in seinem späteren Leben die Gelegenheit, Polen zumindest teilweise kennenzulernen, als er die Stelle des Hofkapellmeisters in Żary und Pszczyna wahrgenommen hatte. Der letzte Satz jeder Strophe des Liedes über Polen ist mit Koloraturen verziert.
Bei der Vorbereitung eines Konzert aus Telemanns „Singender Geographie“ soll man betonen, dass diese Sammlung zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstanden ist und die Grenzen zu dieser Zeit zeigt; sonst könnte man wegen territorialer Ansprüche beschuldigt werden. Musikalisch sind diese Lieder einander sehr ähnlich, so dass die Aufführung des gesamten Zyklus oder zumindest seines Teils für das Publikum zu eintönig wäre. Deshalb ist es am besten, sie mit anderen Stücken zu kombinieren, zum Beispiel aus den Ländern, über die gesungen wird. Aber jeder Einwohner Europas findet in dieser Sammlung etwas aus dem sprichwörtlichen „eigenen Hof“.
* „gekrönter Dichter“ (mit einem Lorbeerkranz). Auf diese Weise wurden nationale Dichter geehrt.
Jolanta Lada-Zielke, 2. November 2020, für
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Jolanta Lada-Zielke, 49, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den Zwanzigern und Dreißigern. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.