Die summenden Rohre. Foto: Museum der Stadttechnik Krakau
„Dank dem Besuch im Stanisław-Lem-Erlebnisgarten habe ich eine sehr wichtige Sache wiedererkannt: Musik ist eine Schwingung und gehört genauso zum Universum, wie das große Es die Tiefe des Rheins am Anfang des „Ring des Nibelungen“ symbolisiert.“
von Jolanta Łada-Zielke
Die Musik ist nicht nur Kunst, sie hat auch mit Technik und Physik zu tun. Die Akustik, Elektroakustik, Schallausbreitung im Raum, Schallwellen – all dies in Bezug auf die Musik ist nicht zu übersehen. Deshalb habe ich mich so gefreut, Stanisław Lems Erlebnisgarten in meiner Heimatstadt Krakau zu besuchen, denn neben interessanten Geräten und Effekten im Bereich der Physik, Astronomie, Geologie und Mechanik entdeckte ich dort auch Bezüge zur Musik.
Der Namenspatron des Parks ist Stanisław Herman Lem (1921-2006), polnischer Philosoph, Essayist und Science-Fiction-Autor. Er gehört zu den meistgelesenen Autoren dieser Gattung, wobei er sich selbst angesichts der Vielschichtigkeit seines Wirkens nicht so bezeichnen mochte. Lems Werke wurden in 57 Sprachen übersetzt und insgesamt mehr als 45 Millionen Mal verkauft. Sein Roman „Solaris“ wurde dreimal verfilmt sowie zweimal als Opernmaterial (2012 von Detlev Glanert und 2015 von Dai Fujikura) und einmal als Live-Hörspiel von Milan Pešl verwendet.
Die meisten seiner Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Selbst in der Zentralbibliothek Hamburg habe ich seine zahlreichen Titel in deutscher Sprache entdeckt. Die deutsche Wissenschaftswelt schätzte den Autor sehr. 2003 erhielt er den Ehrendoktortitel der Technischen Fakultät der Universität Bielefeld und 2004 wurde er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. In Darmstadt fand von Oktober 2016 bis März 2017 das Komet Lem Festival statt. In Polen feiert man gerade das Stanisław-Lem-Jahr, aufgrund des hundertsten Geburtstags des Schriftstellers am 12. September 2021.
Es scheint vielleicht, als hätte sich der Autor von „Robotermärchen“, „Solaris“ und „Kyberiade“ nicht besonders mit Musik beschäftigt. Als umfassend gebildeter Mensch verfügte er zumindest über Grundkenntnisse in Musik. Sein Sohn Tomasz erwähnt in seinen Memoiren, dass sein Vater klassische Musik mochte. Unter seiner Faszination erwähnt er Beethovens Sinfonien, Jazz (besonders das Duo Ella Fitzgerald und Louis Armstrong) und einige Beatles-Lieder aus dem Film „Yellow Submarine“[1].
In einem seiner letzten Romane „Okamgnienie“ (Der Augenblick)[2] machte er einige Bemerkungen zu einigen herausragenden Komponisten im genetischen Kontext und kommentierte die zukünftige Schaffung „besserer“ und gesünderer Menschen durch Manipulation und weitere Verwendung der Gene bedeutender Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kunst. Georg Friedrich Händel litt an Epilepsie, deshalb sollte man das Gen, das diese Krankheit verursacht, laut Lem nicht entfernen, da es ein Zeichen für überragende Menschen sei. Der Schriftsteller versuchte sogar Bachs Genie zu erklären, indem er feststellte, dass es unter seinen Vorfahren viele Organisten gab und „einige Gene angesammelt wurden, deren Frucht sich als ausgezeichneter Komponist herausstellte“. In der Familie von Albert Einstein sah er solche Verbindungen nicht. In Bezug auf den Siegeszug der heutigen Biologie, die die Nukleotid-Zusammensetzung eines der ersten Chromosomen des menschlichen Genoms entschlüsselte, zitiert er folgenden Vergleich: „Das entspricht in etwa dem Erkennen und Zerlegen in einzelne Elemente in Form von Einzelnoten der ersten Seite der Partitur von Beethovens 9. Symphonie.“
Der Erlebnisgarten von Stanisław Lem in Krakau wurde 2007 gegründet und ein Jahr später von dem dortigen Museum der Stadttechnik (Muzeum Inżynierii Miejskiej) übernommen. Seine Hersteller haben sich vom Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne in Nürnberg inspirieren lassen, das seit 1996 existiert. In diesem Versuchsgarten kann man am eigenen Körper lernen und erfahren, wie die Gesetze der Physik funktionieren, zum Beispiel das Fahrradfahren an einem Seil mit Last oder das Schaukeln, wobei sich die Schwingungen übertragen. Es gibt ebenso audiovisuelle Attraktionen und verschiedene interaktive Installationen. Eine schöne Überraschung waren für mich die ungewöhnlichen Musikinstrumente. Zwar findet man ähnliche in den meisten deutschen Vergnügungs- oder Naturparks, aber das war das erste Mal, dass ich eine solche Sammlung gesehen habe.
Die Instrumente bestehen aus verschiedenen Materialien: Kunststoff, Metall, oder Stein. Rafał Sworst, der Leiter des Erlebnisgartens, zeigte mir, wie man sie benutzen soll. Bei den Steingeräten werden die Klänge durch kleinere oder größere Granitelemente erzeugt, man muss selbst herausfinden, wo man anschlägt. Also schlug ich und hörte einen leicht gedämpften Klang einer Glocke, ähnlich wie von einer Orgelpfeife. Je kleiner die Elemente sind, desto höher ist der Ton. An einer Stelle gibt es ein Tastenaerophon, eine Art Fuß-Orgel, die durch Springen auf die Tasten erklingt. Daneben fand ich ein Holzxylophon, das einen schönen Klang erzeugte, Röhrenglocken, Triangel, Gongs.
Irgendwann näherten wir uns Rohren unterschiedlicher Länge, die flach auf einem Sockel lagen. An jedes muss man sein Ohr halten, dann spürt man die Resonanzgeräusche aus der Umgebung, die das Rohr je nach Länge verstärkt. Also legte ich mein Ohr an das längste von ihnen und plötzlich hörte ich – wie ein Wellenrauschen – ein langes, dunkles, mysteriöses großes Es! Ich glaube nicht, dass ich erklären muss, woran es mich erinnert hat:
Während seines Aufenthalts in La Spezia im September 1853 ruhte Richard Wagner im Hotel Nazionale nach einer unangenehmen Dampfschifffahrt, die ihm eine Seekrankheit verursachte. Er wollte einschlafen, fiel aber in einen schläfrigen Zustand, in dem er ein Gefühl hatte, in einem stark fließenden Wasser zu treiben. Martin Gregor-Dellin, Autor seiner Biographie, erzählt davon in „Mein Leben“:
„Das Rauschen desselben“ (…) stellte sich mir bald im musikalischen Klange des Es-dur-Akkordes dar, welcher unaufhaltsam in figurierter Brechung dahinwogte; diese Brechungen zeigten sich als melodische Figurationen von zunehmender Bewegung, nie aber veränderte sich der Reine Dreiklang von Es-dur, welcher durch seine Andauer dem Elemente, darin ich versank, eine unendliche Bedeutung geben zu wollen schien“. Mit einem jähen Schreck, als schlügen die Wogen über ihm zusammen, erwachte er aus seinem Halbschlaf. Er war mitten im Komponieren.“
Ich hätte nie erwartet, in einem solchen experimentellen Garten einen Hinweis auf Wagners „Rheingold“ zu entdecken und teilte meine Bemerkung mit Rafał. „Nun, hier kann jeder etwas für sich finden“, antwortete er.
Ich habe versucht, noch andere Instrumente in dem Garten „zu spielen“, darunter die PVC-Rohre ähnlicher Länge. Sie erzeugen Schallwellen ähnlicher Frequenz, die sich überlagern und durch Pulsieren des Schalls Donner verursachen. Dank des Besuchs im Stanisław-Lem-Erlebnisgarten habe ich eine sehr wichtige Sache wiedererkannt: Musik ist eine Schwingung und gehört genauso zum Universum, wie das große Es die Tiefe des Rheins am Anfang des „Ring des Nibelungen“ symbolisiert.
[1] Tomasz Lem, Awantury na tle powszechnego ciążenia (Das Streiten um die Schwerkraft), Wydawnictwo Literackie, Kraków 2006, s. 139
[2] Der deutsche Titel: „Riskante Konzepte“.
Jolanta Łada-Zielke, 21. Juni 2021, für
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Jolanta Łada-Zielke, Jahrgang 1971, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.