Foto: Jan Kiepuras Schallplatte mit Liedern aus Filmen, als erstes „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frauen“, herausgegeben in den 1960er Jahren in Polen. Eigentum der Autorin.
Erinnerungen an Jan Kiepura – Teil 2
von Jolanta Łada-Zielke
Als Polen im Frühjahr 1939 die deutschen Forderungen nach Danzig und dem „Korridor“ ablehnte, verschlechterte sich ebenfalls die Haltung des Propagandaministeriums gegenüber polnischen Künstlern. Im April erschien in den Nachrichtensendungen des „Dritten Reiches“ eine sarkastische Bemerkung über Jan Kiepura, der gerade auf einer Konzertreise in die USA war und von dort aus 100.000 Złoty seiner Gage für die polnische Luftrüstung spendete. Die deutschen Radiohörer erfuhren nämlich, dass sich der Tenor „in der amerikanischen Hetzluft schnell akklimatisiert“ habe.
Die Namen von Jan Kiepura und seinem Bruder Władysław erschienen im 1940 herausgegebenen „Lexikon der Juden in der Musik“ mit der Bezeichnung (H) – als „Halbjuden“. Ebenso bezeichnete man die Ehefrau von Jan, die ungarische Schauspielerin Martha Eggerth. Wenn ausländische Künstler für die nationalsozialistische Propaganda nicht mehr nützlich waren, erinnerte man sich plötzlich an ihre wahre Herkunft. Nach der Meinung von Carsten Roschke, entlarvte sich so der Mythos des „polnischen Ariers“ als Produkt einer ebenso wahnwitzigen wie inkonsequenten Ideologie.
Beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs weilte der Sänger in Frankreich. Er wollte sich einer im Entstehen polnischen Militäreinheit in Frankreich anschließen, um für Polen zu kämpfen. Der polnische General Kazimierz Sosnkowski hielt ihn aber davon ab: „Es gibt viele, die schießen können, singen können aber nur Sie! Lassen Sie die Uniform und das Gewehr und fahren Sie mit Konzerten, wohin Sie noch fahren können.“ Kiepura trat in Benefizkonzerten für Polen auf, bei denen er oft polnische patriotische Lieder sang und gab seine Honorare für die Unterstützung seiner Heimat aus. Bevor Nazi-Deutschland Frankreich überfiel, ging er mit seiner Frau in die USA.
Dort sang er auf den Bühnen der Civic Opera House in Chicago (1940-1944) und der Metropolitan Opera in New York (1941-1942), sowie in Kanada (Montreal), latein- und südamerikanischen Ländern, unter anderem am Teatro Colón in Buenos Aires (in „Manon“ von Jules Massenet). Außerdem trat er mit seiner Frau als Graf Danilo in der „Lustigen Witwe“ im Majestic Theatre am Broadway auf. Die Aufführung hatte großen Erfolg, und das Ehepaar spielte bis 1946 über 800 Vorstellungen davon. Nach dem Krieg veranstalteten sie „Die lustige Witwe“ auf den Bühnen Englands, Frankreichs, Italiens und Deutschlands.
Zurück in Europa lebte Kiepura mit seiner Familie in Rom, wo er mit seiner Frau eine Verfilmung von „Der Zauber der Bohème“ drehte, dann ließ er sich in Paris nieder. Dort spielte er in dem Film „La valse brilliante“ mit und sang in der Operette „Die Csárdásfürstin“ von Emmerich Kálmán am Théâtre de Paris. Mitte der 1950er Jahre trat er mit seiner Frau auf der Bühne des Wiener Raimundtheaters in „Zarewitsch“ und „Paganini“ Franz Lehárs auf.
Die 1944 entstandene kommunistische Regierung in Polen behandelte alles feindlich, was mit dem alten System in Verbindung stand, einschließlich der Künstler, die zu der Vorkriegszeit populär waren. Man verbreitete die schlimmsten Meinungen über Jan Kiepura. Die Presse verspottete ihn und Martha Eggerth und veröffentlichte Karikaturbilder von ihnen. Sie unterstellten dem Sänger, er habe Polen verraten, indem er sich in den Vereinigten Staaten niederließ. Man verbreitete auch Lügen, wonach Kiepura die Rückgabe seines im Land zurückgelassenen Eigentums forderte. Deswegen konnte er sein Heimatland erst 1958 besuchen, als er fünfzehn Konzerte in den größten Städten Polens gab.
Laut einer Anekdote verlor der Künstler seinen polnischen Pass. Bei der Grenzkontrolle sang er etwas vor, um seine Identität zu bestätigen. Natürlich erkannten ihn die Beamten, weil niemand so sang wie Kiepura, und man ließ ihn durch. Das polnische Publikum begrüßte ihn mit Begeisterung, aber die Behörden folgten ihm auf Schritt und Tritt. Der weltberühmte Startenor musste sie um Erlaubnis bitten, Blumen auf dem Grab seines Vaters in Krynica-Zdrój (ein berühmter Kurort in Südostpolen) niederzulegen. Er wünschte sich zumindest eine Nacht in seinem dortigen ehemaligen Wohnort – Villa „Patria“ (Lateinisch: Vaterland) – zu verbringen, die inzwischen Eigentum des Staates geworden war. Man gestattete ihm das nicht, und schickte ihn zur Übernachtung in ein anderes Kurhaus. Als der Sänger am nächsten Morgen in „Patria“ auftauchte, flüchteten die Verantwortlichen des Gebäudes, um Unannehmlichkeiten seitens der Behörden zu vermeiden. Zwei Heizer aus der Vorkriegszeit und zwei ehemalige Dienstmädchen empfingen Kiepura im Heizungskeller der Villa.
Einer der letzten europäischen Auftritte des Tenors – mit „Die lustige Witwe“ – war 1965 im Theater des Westens in Berlin. Jan Kiepura erlag 64-jährig in den USA den Folgen eines Herzinfarktes, ruht jedoch in seiner Heimat, auf dem Powązki-Friedhof in Warschau. Die Inschrift auf seiner Grabplatte lautet: „Wenn ein Mensch stirbt, bleibt auf dieser Erde nichts von ihm übrig als das Gute, das er anderen getan hat“. Seit 1967 findet alljährlich in Krynica-Zdrój das Jan-Kiepura-Gesangsfestival statt. Und das Lied „Ob blond, ob braun…“ hat auch eine polnische Version: „Brunetki, blondynki, ja wszystkie was, dziewczynki, całować chcę…“
Jolanta Łada-Zielke, 8. August 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Literatur:
Carsten Roschke „Polen in der nationalsozialistischen Propaganda 1934-1939“, Tectum Verlag, Marburg 2000
Bogusław Kaczyński, Kiepura, Casa Grande, Warszawa, ISBN 978-83-927451-4-3
Katalog der Ausstellung „Verstummte Stimmen” im Festspielpark Bayreuth, Metropol Verlag, 2012
Ladas Klassikwelt (c) erscheint regelmäßig am Montag.
Jolanta Łada-Zielke, 50, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA. Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-beigeistert.de.
Ladas Klassikwelt 94: Erinnerungen an Jan Kiepura – Teil 1 klassik-begeistert.de
Ladas Klassikwelt 93: Stanisław Wyspiański Teil II klassik-begeistert.de
Ladas Klassikwelt 92: Der berühmteste polnische Wagnerianer stammt aus Krakau klassik-begeistert.de