Lang Lang © Stephan Polzer
Nicht den besten Tag erwischt. Noch dazu zerdehnt Lang Lang die Kreisleriana bis auf die Unkenntlichkeit. „Er verliert sich zu sehr“, trifft ein Gast den Nagel auf den Kopf. Bei Chopins Mazurken blitzt ansatzweise wieder sein Genie durch. Standing Ovations sind dem Superstar im Wiener Konzerthaus dennoch sicher.
Lang Lang, Klavierabend
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 8. Mai 2024
von Jürgen Pathy
So darf man Schumann eigentlich nicht spielen. Würde auch kein anderer wagen als Lang Lang. Das Zeitmaß bis aufs Äußerste gedehnt. Die Struktur von Schumanns „Kreisleriana“ damit völlig aus dem Lot gebracht. Die Kreisleriana ist im Grunde ganz einfach. Der Henle-Verlag würde widersprechen: Schwierigkeitsgrad 8, auf einer Skala bis 9. Aber vom Grundgedanken: Es ist ein Kampf. Zwischen einem Ja zur Liebe und der Resignation. Ein Aufbäumen gegen den Widerstand, dem sich Robert Schumann ausgesetzt sieht.
Vater Wieck möchte Schumanns Eheschließung mit seiner Tochter Clara Wieck mit allen Mitteln vereiteln. Schumann bäumt sich dagegen auf. Verarbeitet diese ausweglose Situation in einer der leidenschaftlichsten Liebesbekundungen, die seit Menschengedenken verfasst worden sind.
Fremde Klangwelten bei Schumann
Die Kreisleriana. Acht Fantasiestücke, zusammengefasst zu einem Klavierzyklus. Fünf in Moll, drei in Dur. Die Tempi variieren zwischen „sehr rasch“ und „sehr langsam“. Lang Lang hetzt über die schnellen Teile hinweg als gäb’s kein Morgen mehr. Bei den langsamen verzögert er das Zeitmaß bis aufs Äußerste. Stillstand. Das ist zu viel. Die innere Spannung, die Zerrissenheit, die Schumann hier antreibt, darf man als Interpret nicht in Luft auflösen. Noch dazu schleichen sich Unsauberkeiten ein, die man von Lang Lang, einem Virtuosen vor dem Herrn, eigentlich nicht kennt. Ein schöner Ton klingt anders.
Bei Chopin findet er ihn wieder. 12 Mazurken in einem Stück. Zwei kennt man von Vladimir Horowitz. Die in a-Moll und h-Moll hatte der „letzte Romantiker“ auf Schallplatte verewigt. Die Atmosphäre bei Lang Lang klingt ähnlich. Endlich ein Wiedererkennungswert, bei sonst sehr vielen Eigentümlichkeiten. Kopfschütteln beim Vordermann. Nicht nur bei der Polonaise am Ende, die Lang Lang als strammen Marsch durch den Saal treibt. Noblesse, einen gewissen Hauch von Bourgeoisie – sucht man vergebens. Bereits bei Schumann: Fassungslosigkeit über das Hetzen, das Donnern, generell über die Extreme in den Tempi.
Lang Lang genießt in vollen Zügen
Zumindest Lang Lang hat seinen Spaß. Lächeln im Gesicht, fast durchgehend. Bei plötzlichen Temporeduktionen reißt er die Augen auf, als sei er selbst davon so überrascht wie der Knirps neben mir. Asiate, bereits in Boss-Sakko gehüllt. Generell scheint die Gesellschaft gut betucht. Bei Kartenpreisen bis zu 220 Euro kein Wunder. Angebot und Nachfrage. Das nennt man freie Marktwirtschaft. Immerhin ist der Saal bis auf den letzten Platz gefüllt – inklusive zusätzlicher Stühle auf der Bühne. Das schaffen nur ganz wenige.
Ebenso, dass man trotz der vielen Widersprüche irgendwie doch nicht ganz abgeneigt ist. Schumann verliert sich bei Lang Lang völlig im Nichts. Chopin entwickelt ein Eigenleben. Dennoch geht von dieser Art impressionistischer Klangmalerei ein gewisses Faszinosum aus. Auch, wenn es den Kern gewisser Werke komplett verfehlt.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 9. Mai 2024,
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lang Lang, Klavier Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 9. November 2021
Lang Lang, Philippe Jordan, Webern Symphonie Orchester Wiener Konzerthaus, 7. November 2021