Es ist sehr ruhig da draußen. Endlich Ruhe in der lauten Großstadt?! So hat sich das wohl keiner von uns gewünscht. Wir lernen: Lärm verbindet. Und Musik tröstet.
von Gabriele Lange
München ist still. Sehr still. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in München schon einmal so still war. Kaum Verkehr. Die wenigen Menschen auf der Straße sind allein oder gehen wortkarg zu zweit spazieren. Wer sein Handy benutzt, redet leiser als sonst. Der Kinderspielplatz im Park ist verwaist. Sogar die Nachbarn im ersten Stock gegenüber verzichten seit einigen Tagen auf lautstarke Ehestreitigkeiten bei offenem Fenster. Die Griller im Erdgeschoss verbreiten am sonnenwarmen Samstag die gewohnten übelriechenden Rauchschwaden, doch ich höre tatsächlich nur Besteckgeklapper. Der Herr links unten führt keine weinseligen Diskussionen mehr auf dem Balkon. Beim Einkaufen huschen die Leute durch die Gänge, keiner bleibt zum Ratschen stehen.
„Hello darkness, my old friend. I’ve come to talk with you again.” Simon & Garfunkel
Wie oft habe ich mir sehnlichst Ruhe gewünscht. Gehofft, die Party im Haus gegenüber möge endlich zu Ende gehen, weil mich die mit Gekreisch untermalten Hits aus den 70ern, 80ern und 90ern am Schlafen hinderten. Musste meine Aggressionen gegen den Mann mit dem Laubbläser ebenso bezähmen wie gegen die Feierwütigen, die einander an Sommerabenden in den Isarauen ihren Musikgeschmack aufzwingen wollten. Litt unter der dämlichen Softeis-Popbeschallung in fast jedem Geschäft und dem Missbrauch klassischer Musik zum Rumlungerer-Vertreiben in U-Bahnhöfen. Ich habe das Sportstudio gewechselt, weil mich das Juchzen der Trainerin und die hektische Animationsmusik der Fitnesskurse in den Wahnsinn getrieben haben, wenn ich einfach nur in Ruhe an den Geräten meine Übungen durchziehen wollte. Das esoterische Gefiepe und Geflöte, das die Physiotherapeutin mir „zur Entspannung“ anstellte, sobald ich wehrlos im Fangopaket verschnürt war, ging mir genauso auf den Zeiger, wie die Zahnarzttochter, die immer dann anfing, im Stockwerk drüber „An Elise“ zu üben, wenn ihr Papa mir den Mund mit seinem Werkzeug stopfte.
Da hätte ich mir sehr gewünscht, sie hätte dieses Stück von John Cage geübt, in dem vier Minuten und 33 Sekunden – einfach Stille herrscht.
„Immer ist etwas. Immer klopfen sie, oder sie machen Musik, immer bellt ein Hund, marschiert dir jemand über deiner Wohnung auf dem Kopf herum, klappen Fenster, schrillt ein Telefon – Gott schenke uns Ohrenlider.“
Kurt Tucholsky
Jetzt vermisse ich sie fast, die Konzerthuster, die In-leise-Passagen-Reintuschler und die Leute, die ihrem Sitznachbarn im Kino live ihre Filmkritik genau dann vermitteln müssen, wenn eine tragische Handlung ihren Höhepunkt erreicht.
„Enjoy the silence” Tori Amos
Denn es gibt keine Konzerte. Keine Oper. Kein Kino. Und seltsamerweise auch keine Musik aus den Nachbarwohnungen. Vielleicht haben die Leute einfach mehr Lust auf Musik, wenn sie in Gesellschaft sind.
„No alarms and no surprises. Silent, silent …” Radiohead
Stille kann beunruhigend sein. Eben haben die Kinder noch laut gespielt. Jetzt sind sie verdächtig ruhig… Eben noch kabbelten wir uns mit dem Partner. Nun sagt der schon seit einer Weile nichts mehr. Ging der letzte Witz doch zu weit? In den schlechteren Thrillern und Horrorfilmen schwillt die Musik an, wenn sich der Vampir bereit macht, der Mörder die Treppe hinaufsteigt. In den besseren sieht man erst mal nichts, man ahnt nur. Es wird unangenehm still. Und … dann … !
„Silence is golden, golden
But my eyes still see …” The Tremeloes
Für viele Teenager mag die Chorprobe in der Schulaula ähnlich störend sein wie ihr laut aufgedrehter Deutschrap für die benachbarten Griller am Isarstrand. Deren Liebe für gemeinschaftlich genossene Volksmusikshows mit Florian Silbereisen macht dafür daheim dem Gymnasiallehrer in der Wohnung drunter das Leben schwer. Für mich war das Oktoberfest seit jeher eine akustische Hölle. Vom Strand in Italien musste ich nach kurzer Zeit fliehen, weil die Mischung aus Musik und Geschrei mich überforderte. Manchmal sind mir die spielenden Kinder im Hof zu viel, wenn ich gerade versuche, mich auf eine Aufgabe zu konzentrieren.
Aber: Genau solcher Lärm macht jeweils andere glücklich. Er verbindet jene, für die diese Geräusche eben kein Krawall sind. Sondern Ausdruck ihrer Lebensfreude. Wer mal auf einem Punk-Konzert Pogo getanzt oder sich bei einem Metal-Gig in kollektivem Headbangen versucht hat, weiß: Wenn es richtig gut läuft, macht die Musik aus dem Publikum fast einen gemeinsamen Organismus. Und ein brillanter Künstler kann ein Stadionkonzert in eine fast religiöse Erfahrung für 70.000 Menschen verwandeln.
„Who wants to live forever?” fragt Freddie Mercury in Wembley 1986
Laute Musik motiviert. Beim Tanzen wird oft auch der Bewegungsfaule munter. Beim Sport schiebt Musik den Punkt der Erschöpfung hinaus. Ich weigere mich zwar, in einer Lycra-Pelle zu Scooter zu hopsen, weiß aber genau, dass Rammstein und Eminem sehr hilfreiche Joggingbegleiter sind. Ja, in diesen Kontext passt auch militärische Marschmusik. Aber das führt in eine ganz andere Richtung. Ich denke jetzt lieber an die fröhliche Rentnertruppe, die so begeistert zu Silver Convention und Tony Marshall im Hotelpool Wassergymnastik betrieben hat, dass ich kurzerhand mitgemacht habe.
Als mein Ressort, das ich in vielen Jahren mit sehr viel Einsatz aufgebaut hatte, dicht gemacht wurde, weil der Verlag kräftig Kosten sparen wollte, und ich zusammen mit einigen meiner Mitarbeiter auf einen unerfreulichen Arbeitsmarkt freigesetzt wurde, fuhr ich erst mal zu einem Metallica-Konzert. Im Regen in Wien sang ich „Harvester of Sorrow“ mit, „Sad but true“ und „For whom the bell tolls”, lebte meine Wut und meinen Frust aus und schöpfte neue Kraft.
„If someone else is suffering enough oh to write it down
When every single word makes sense
Then it’s easier to have those songs around.” Elton John
Wer Liebeskummer hat, der braucht traurige Lieder, die ausdrücken, was er oder sie gerade fühlt. Erst ordentlich reinsteigern, ausheulen – und dann neu anfangen.
Musik tröstet. In Italien wehren sich die Menschen gegen das Gefühl der Hilflosigkeit mit Balkonkonzerten. Sie singen einander etwas vor, bilden einen Chor oder versuchen, zusammen zu musizieren. Dabei entsteht nicht unbedingt der reine Wohlklang. Aber es hilft gegen die Angst und die Einsamkeit. Auch wenn man bloß die Videos ansieht, vertreibt das ein wenig die Beklommenheit, heitert auf.
In Deutschland und Österreich gab es auch ein paar Versuche, aber irgendwie fehlt es uns wohl an Spontaneität, Enthusiasmus und womöglich auch an Wärme. Schade.
Wenn ich mir was wünschen dürfte…, dann besiegen wir diese Pandemie durch Solidarität, klugen Verzicht und gemeinschaftliche Anstrengung. Vielleicht könnte sich die aktuelle Stille wie eine Fastenzeit auswirken. Danach genießt man mit viel größerer Intensität, schmeckt und riecht mit allen Sinnen, schätzt jeden kleinen Bissen. Wenn wir diese Krise schließlich überstanden haben, werden wir es – so hoffe ich – machen wie Björk in dem einen Video, das ich von ihr liebe: „It’s oh so quiet“: Erst waschen wir uns die Hände. Dann kommt das Leben wieder in Schwung. Und es wird endlich wieder laut.
Gabriele Lange, 30. März 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Langes Klassikwelt 9: Vom Walkürenritt zu „Pretty Woman“. Unordentliche Gedanken
Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Musikalisch mag sie sich auch nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt noch so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de .
Liebe Frau Lange!
Ihrem tollen Beitrag möchte ich am Rande und prosaisch etwas anfügen. In der Gymnasialzeit wurden wir erzogen Werklärm zu akzeptieren. Wenn später vor meiner Apotheke Baulärm war, leitete ich meine Mitarbeiterinnen folgendermaßen an: Stampfen und bohren Sie eine zeitlang im Geist mit. Fühlen Sie sich in die Arbeiter hinein, wenn sie schwere „Instrumente“ bedienen. Ja holen Sie im vorgegebenen Arbeitstakt mit zwei kurzen Schritten das Standgefäß vom Regal. Spielen Sie im „Baukonzert“ geistig eine Weile mit. Rumm, bumm – bim!
Auf diese Weise habe ich sogar Baulärm während des Urlaubs auf der Liegewiese ausgehalten.
Lothar Schweitzer