Frau Lange oder wie sie die Welt sieht
Die Popmusik der letzten Jahre eröffnet eher selten fröhliche Fluchten aus dem Alltag. Heftiges Verliebtsein, einfach mal vor Glück schweben? Da muss man schon hinten im Plattenschrank kramen. Auch als Ventil für Frust, Zorn, Enttäuschung bietet sich der Mainstream-Pop kaum an. Seit längerer Zeit regiert resignierte Langeweile. Perfekt verpackt. Leidenschaft? Fehlanzeige. Was ist da los?
von Gabriele Lange
„Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer“
Nein, das ist kein Beitrag aus der Reihe „Zeitgemäße Musik“. Obwohl das Zitat so etwas vermuten lässt. Und obwohl der Mann, der diesen Song zu verantworten hat, es in letzter Zeit wieder laufend in die Schlagzeilen schafft. Darauf, was dieser arme Wirrkopf zu erzählen hat, mag ich gar nicht eingehen. Damit sollen sich qualifizierte Seelenärzte beschäftigen. Nein, ich möchte diesen Hit zum Anlass nehmen, mich ein bisschen über ein Phänomen auszulassen, das ich schon vor Jahren „Jammerlappen-Pop“ getauft habe. Und das mit ein Grund dafür ist, warum ich einen Großteil der in den Charts erfolgreichen Musik zunehmend unerträglich finde, obwohl ich wirklich ein großes Herz für die unterschiedlichsten musikalischen Spielarten habe – ob sie nun einige hundert Jahre oder wenige Tage alt sind und egal, wie seltsam das beim ersten Hören klingen mag.
Versetzen wir uns zurück ins Jahr 2006. Deutschland erlebt das sogenannte Sommermärchen. Sprich: Es wird Fußball gespielt, es wird gefeiert, getrötet, die Leute liegen sich in den Armen – manche meinen die angeblich so nüchternen, strengen Deutschen nicht wiederzuerkennen. Die Nationalmannschaft hat ein Lied des ehemaligen Mannheim-Sohns Naidoo zur Quasi-Hymne erkoren.
„Dieser Weg ist steinig und schwer“
Ich habe schon damals nicht begriffen, wie ein so mies gelauntes Lied für das „Sommermärchen“ stehen sollte. Na gut, dachte ich, die Sportler müssen trainieren, rennen, sich gegenseitig foulen und kehren dann müde in die Villa mit Pool und drei Garagen zurück. Vielleicht haben die sich das ausgesucht, damit kein Neid aufkommt – und weil das so hübsch zum Bild der fleißigen Deutschen passt. Aufopferung für den Pokal – und die gut dotierten Werbeverträge danach. Vielleicht stimmt das ja alles auch.
Aber Naidoos Dauergejammer (kennt jemand von dem ein Stück ohne Wehklagen?) steht ja nicht allein da. Mache ich mal den Fehler, Radio zu hören und lande auf einer Welle mit modernem Pop, frage ich mich: Warum sind seit über einem Jahrzehnt so viele von denen so schlecht drauf? Wenn sie wenigstens sauer wären. So richtig den Frust rauslassen würden wie Alanis Morisette. Oder mitheultauglich traurig wären wie einst Sinéad O‘Connor. Oder poetisch melancholisch wie Rio Reiser. Aber die schmollen einfach austauschbar vor sich hin. (Nein, Schlager ist eine andere Baustelle. Der kommt hier nicht vor.)
In Deutschland supererfolgreich ist etwa Mark Forster. Hören wir mal rein: Er bedauert:
„Einmal, einmal, das kommt nie zurück.“
Er hockt frustriert in seinem Zimmer und sagt: „Komm lass uns später noch mal skypen.“ Er stellt fest: „Irgendwas war aufgebraucht und leer.“ Ansonsten zeigt er sich bescheiden: „Das, was ich will, will, ist Seelenfrieden.“ Der Junge ist noch nicht mal vierzig und kommt bei mir rüber wie ein resignierter Rentner auf dem Bänkchen im Kleingarten.
Max Giesinger ist knapp über 30, füllt große Hallen, sieht deutlich besser aus als Herr Forster, der sollte sich doch des Lebens freuen? Hmmtja. Also der Ermutigungssong „Wir waren nie stärker als jetzt“ handelt von einem bis fast zuletzt ungebremsten Absturz und motiviert mich höchstens dazu, mich mit einer Wärmflasche und einer Buddel Rotwein auf der Couch zusammenzurollen. Wenn er fragt „Bist du bereit? Dein Gestern gegen morgen einzutauschen?“, dann denk ich „Och nöööö. Ich fahr lieber allein los als mit jemandem, der so offensichtlich Bammel vor der Reise hat. Und wenn er wissen will:
„Kannst du mich hören wenn ich leiser bin?“,
möchte ich zurückfragen: „Warum machst du deinen Mund nicht auf, Bub?“ (Ja. Natürlich kann ein Song über sprachlose Traurigkeit gut und wichtig sein. Aber Himmelherrgott – bei euch ist die Verdruckstheit Programm.)
Johannes Oerding singt von guten Tagen, an denen das Lachen echt ist „auch wenn’s nur jetzt und nicht für immer ist“ und meint: „Das Beste ist, ich denk jetzt einfach nur an mich.“
Jan Böhmermann hat eine brillante Parodie auf diesen mit austauschbaren Texten aus dem Klischeebaukasten ziellos vor sich hin mäandernden Songstil und seine triste Egozentrik gemacht. Manche haben nicht mal gemerkt, dass es sich um Satire handelt, sondern hielten das Werk für ein besonders einfühlsames Stück Deutschpop – so gut trifft es den Ton.
„Menschen Leben Tanzen Welt“
Der deutsche DJ Robin Schulz ist international erfolgreich. „You’ve been drowning in the rain, Slowly saving up the pain.“ Super – dann kann die Tanzparty ja losgehen. Schluchz. Der Soundteppich – tausendmal gehört. Die Art wie Sängerin Alida verhemmt manche Vokale zerquetscht, klingt wohl nur für Ältere sonderbar. Aktuell ist es ziemlich normal.
Vielleicht sind die ja anderswo kraftvoller? Das Phänomen Justin Bieber war mir immer ein Rätsel. Liegt sicher daran, dass zwischen seinen Fans und mir etliche Generationen liegen. OK, er war mal ein niedliches Kerlchen. Erfolgreich ist er noch immer. Da sitzt er also im
Video zu „Yummy“ (lecker)
bedröppelt zwischen älteren Herrschaften vor Hummer und Sandwiches, dann wird noch etwas mit jüngerem weiblichen Personal getanzt – mit zur Schau getragener Lustlosigkeit. Zu cool zu genießen, weltmüde. Liebe ist Gewohnheitssache (My love for you’s habitual, yeah (habitual, yeah). Bieber scheint mit 26 Jahren schon mal die Midlife Crisis durchzuziehen.
Ed Sheeran ist ein internationaler Megastar. 2,3 Milliarden Aufrufe hat sein Video zu „perfect“ auf youtube. Es ist ein Liebeslied. Er ist glücklich mit ihr, wenn man den Bildern Glauben schenken darf. Warum klingt der junge Mann dann, als ob er bereits das Ende des Glücks betrauert? Mehr als doppelt so viele Leute haben sich sogar „Shape of you“ angesehen. Sheeran träumt vom Körper eines schönen Mädchens.
Der Soundteppich klingklongt leidenschaftslos vor sich hin.
Sein erotisches Fasziniertsein nehme ich seinem gleichförmigen Gesang eher nicht ab. Macht nix. Er sublimiert seine sexuellen Bedürfnisse im Video mit Sport. Vielleicht besser so. War auch im 19. Jahrhundert schon das Mittel der Wahl.
Sam Smith hat es sogar geschafft, einen Bond-Titelsong in eine Jammerballade zu verwandeln. Man möchte Daniel Craig umgehend einen Kamillentee kochen und ihn nach seinen frühkindlichen Traumata ausfragen. Bei “How do you sleep?” lungert Smith erst mal schlapp in einem Stuhl und muss buchstäblich von seinem Sitz weggeschleppt werden, bevor er bereit ist, sich selbstverliebt ans Sangeswerk zu machen. Wenn Demi Lovato singt „I wanna f-woop, woop woop, but I’m broken hearted”, dann wird vor lauter Soundeffekten und „Wooohoop“ nicht klar, ob sie jetzt traurig über die zerbrochene Beziehung ist. Oder froh, dass sie den miesen Kerl los ist. Party wird auf jeden Fall gemacht, man sieht superhübsch dabei aus, Wooohoop. Auf mich wirkt das wie eine perfektionistische Pflichtübung ohne Seele.
Noch ein weiblicher Megastar – Rita Ora:
Beim Traurigsein muss man großartig aussehen, sich toll bewegen.
Und ohne das übliche Wohohooo Wohohooo geht’s nicht. Wichtig sind Schnörkel. Sänger*innen, die wirklich Stimme haben, gehen nicht aus sich raus, bleiben in einem schmalen Soundband wie Ariana Grande bei „Break Up With Your Girlfriend, I’m Bored“. Wenn sie behauptet, sie sei eine „Dangerous Woman“, dann hat das keine Dynamik, keine Kraft. Da möchte man Annie Lennox aus der Esoterik-Dudel-Rente reaktivieren, um dem Mädchen mal zu zeigen, wie eine wirklich gefährliche Frau singt. Oder Nina Hagen bitten, einen Moment lang nicht über Ufos nachzudenken.
In einem erfolgreichen Stück des kürzlich verstorbenen DJs Avicii heißt es:
They tell me I’m too young to understand
They say I’m caught up in a dream
Well life will pass me by if I don’t open up my eyes
Well that’s fine by me
So wake me up when it’s all over
Die Musik zu dieser Totalverweigerung ist halbheiter hektisch – und bleibt durchgehend auf einem Level. Keine Dynamik, keine Ausbrüche, keine Lust, keine Wut. Sie fängt irgendwann an und hört irgendwann auf. (Passt eigentlich perfekt zur aktuellen Situation, wenn ich’s recht bedenke).
Das scheint mir repräsentativ für viele Poperfolge der letztes zehn Jahre. Die Soundteppiche sind mutlos, meist durchstandardisiert (wuuhuuuu), manchmal kompliziert verschnörkelt – aber diese Schnörkel finden sich dann zigfach woanders wieder.
Und das passt zum verbreiteten Gesangsstil. Warum hauchen so viele von denen nur rum? Ja, manchmal spricht man besonders leise, wenn man andere zur Aufmerksamkeit zwingen will. Oder wenn es um erotische Wirkung geht. Aber hier nervt mich das wie jemand, der im Bibliothekssaal flüstert. Ich kriege mit, dass gesprochen wird, höre genauer hin, weil ich mich gestört fühle und neugierig werde – und stelle dann fest: Lohnt sich nicht. Belanglos. Manche klingen richtiggehend schüchtern. Warum murmeln die ins Mikro, als steckten sie beim Singen unter der Bettdecke und hofften, dass Mami und Papi nicht mitkriegen, was sie da machen? Wenn sie powern, dann schalten sie höchstens einen Gang hoch.
Bei Billie Eilish, die ich wahnsinnig begabt und beeindruckend finde (und die sich dem ganzen Perfektionsirrsinn sehr individuell verweigert), würde ich mir so sehr wünschen, dass sie einfach mal das Gaspedal durchtritt und die Kraft und Schönheit ihrer Stimme freilässt, statt mir weiter ins Ohr zu murmeln, als säße sie im Taxi hinter mir und wolle vermeiden, dass der Fahrer mitkriegt, was sie erzählt. Aber sie zieht das auch durch, wenn sie ohne Effekte und sehr anrührend einen Klassiker wie „Sunny“ singt (Benefizkonzert für die WHO aus ihrem Wohnzimmer).
Ja, das ist sicher alles auch ein Generationenproblem. Ich bin halt unter anderem mit Led Zeppelin, Black Sabbath, Deep Purple und den Dead Kennedys aufgewachsen. Da ist man andere Levels an Expressivität und Leidenschaft gewohnt.
Bloß: Möglicherweise ist diese Art der Musik ein Ausdruck des gleichen Lebensgefühls, das die Sex Pistols damals aus sich herausschrien: „NO FUTURE!“ Nur in der zeitgemäßen Verpackung. Nicht mit Sicherheitsnadeln in der Wange, einem Iro auf dem Kopf und in dreckigen, zerrissenen Shirts. Sondern perfekt geschminkt, den makellosen Körper in den teuersten Klamotten perfekt in Szene gesetzt. Hoffnungslosig- und Traurigkeit schlecht getarnt unter blasierter Gleichgültigkeit.
Glücklicherweise ist das nicht repräsentativ. Denn viele Junge haben seit dem letzten Jahr mit Fridays for Future gezeigt, dass sie jede Menge Mumm haben und bereit sind, für wichtige Ziele einzustehen, auch wenn die Alten, die mal so stolz auf ihr Revoluzzertum waren, inzwischen lieber ihre Rosen begießen.
Allerdings – angesichts von Pandemie und kippendem Klima wünsche ich mir einfach einen, der wie Iggy Pop den ganzen Katastrophen den Stinkefinger zeigt – und seine ganze
„Lust for Life“!
Gabriele Lange, 27. April 2020, für
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Die Münchnerin Gabriele Lange (Jahrgang 1960) war bei ihren ersten Begegnungen mit klassischer Musik nur mäßig beeindruckt. Als die lustlose Musiklehrerin die noch lustlosere Klasse in die Carmen führte, wäre sie lieber zu Pink Floyd gegangen. Dass Goethes Faust ziemlich sauer war, weil es in dieser Welt so viel zu erkunden gibt, man es aber nicht schafft, auch nur einen Bruchteil davon zu erfassen, leuchtete ihr dagegen ein. Sie startete dann erst mal ein Geschichtsstudium. Die Magisterarbeit über soziale Leitbilder im Spielfilm des „Dritten Reichs“ veröffentlichte sie als Buch. Bei der Recherche musste sie sich gelegentlich zurückhalten, um nicht die Stille im Archiv mit „Ich weiß, es wird einmal ein Wonderrrr geschehn“ von Zarah Leander zu stören, während sie sich durch die Jahrgänge des „Film-Kurier“ fräste. Ein paar Jahre zuvor wäre sie fast aus ihrer sechsten Vorstellung von Formans „Amadeus“ geflogen, weil sie mit einstimmte, als Mozart Salieri wieder die Sache mit dem „Confutatis“ erklärte. Als Textchefin in der Computerpresse erlebte sie den Aufstieg des PCs zum Alltagsgegenstand und die Disruption durch den Siegeszug des Internets. Sie versuchte derweil, das Wissen der Technik-Nerds verständlich aufzubereiten. Nachdem die schöpferische Zerstörung auch die Computerpresse erfasst hatte, übernahm sie eine ähnliche Übersetzerfunktion als Pressebeauftragte sowie textendes Multifunktionswerkzeug in der Finanzbranche. Vier Wochen später ging Lehman pleite. Für Erklärungsbedarf und Entertainment war also gesorgt. Heute arbeitet sie als freie Journalistin. Unter anderem verfasste sie für Brockhaus einen Lehrer-Kurs zum Thema Medienkompetenz. Musikalisch mag sie sich auch nicht festlegen. Die Liebe zur Klassik ist über die Jahre gewachsen. Barockmusik ist ihr heilig, Kontratenöre sind ihre Helden – aber es gibt noch so viel anderes zu entdecken. Deshalb trifft man sie (hoffentlich bald wieder) etwa auch bei Konzerten finnischer Humppa-Bands, einem bayerischen Hoagascht und – ausgerüstet mit Musiker-Gehörschutz – auf Metal- oder Punkkonzerten. Gabriele ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de.