Liebesgabe für „Lenny“

Leonard Bernstein Complete Works,   Deutsche Grammophon, 26CDS + 3 DVDS – Rezension

Foto: www.deutschegrammophon.com  (c)
Leonard Bernstein Complete Works, 
Deutsche Grammophon, 26CDS + 3 DVDS    482 9228

von Peter Sommeregger

Der große amerikanische Komponist und Dirigent Leonard Bernstein, dessen 100. Geburtstag es dieses Jahr zu feiern gilt, gehörte seit den 1970er Jahren zu den Vertragskünstlern der Deutschen Grammophon-Gesellschaft. Dies dürfte vielleicht nicht ganz nach dem Geschmack des allgewaltigen Maestros Herbert von Karajan gewesen sein, war aber vom Management klug gedacht, versprach doch der zehn Jahre jüngere Bernstein eine höhere Lebenserwartung zu haben. Das Schicksal wollte es anders: Bernstein erlag nur 15 Monate nach dem Tod Karajans einem Lungenleiden. Gleichwohl entstanden in den etwa zwei Dekaden zahllose Einspielungen, von denen nicht wenige bis heute Referenzaufnahmen des jeweiligen Werkes sind.

In großer Zahl wurden über die Jahre auch Kompositionen Bernsteins für das Gelb-Label eingespielt. Die Verbundenheit mit dem Komponisten Bernstein war und ist auch fast dreissig Jahre nach dessen Tod lebendig. Ein nicht geringer Anteil in der nun aus Anlass des runden Geburtstags erschienen Box entfällt auf Einspielungen, die erst nach Bernsteins Tod 1990 entstanden sind, so beispielsweise die fulminante Aufnahme von „Mass“ unter Nezet-Seguin von 2015.

Gleichzeitig wird  auch auf frühe, vielleicht sogar erste Einspielungen zurückgegriffen, wie „Trouble in Tahiti“ von UMG Records 1958 veröffentlicht. Die ältesten in der Box enthaltenen Aufnahmen dürften Auszüge aus dem Ballett „Fancy Free“ von 1944/45 und „Wonderful Town“ mit der wundervollen Rosalind Russell von 1953 sein, beides Übernahmen von der DECCA.

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Bei näherer Beschäftigung speziell mit den symphonischen Werken Bernsteins wird klar, warum sie in den Konzertprogrammen der großen Europäischen Orchester nie so recht heimisch geworden sind. Bernsteins Vorliebe für ungewöhnliche Besetzungen, Verwendung gesprochener Texte und eine sehr spezielle Orchesterbehandlung dürften dafür verantwortlich sein. Seine drei Symphonien, in der Box in exemplarischen Einspielungen enthalten, erschließen sich dem Hörer keineswegs leicht. Ähnlich ergeht es einem mit den Kammermusik- Werken, der Chor- und kleineren Formen der Vokalmusik. In vielen der Kompositionen verschwimmen die Grenzen der U- und E- Musik, es gibt stark an Jazz angelehnte Werke, in den Bühnenwerken dominiert der klassische Broadway-Stil.

Der Komponist Bernstein hat seine stärksten Momente in der Musik für die Bühne. Auf diesem Gebiet konnte er auch seine größten und nachhaltigsten Erfolge feiern, so mit dem 1944 entstandenen Ballett „Fancy Free“ und dem im gleichen Jahr uraufgeführten Musical „On the Town“. Sein unbestreitbares opus magnum aber ist das 1957 am Broadway herausgekommene Musical „West Side Story“, durch das sein Komponist Weltruhm erlangte und zum Multimillionär wurde. Zwar hat Bernstein dieses Werk bereits im Jahr der Uraufführung mit der originalen Broadway-Besetzung auf Schallplatten eingespielt, für die Jubiläumsbox wählte man aber die Anfang der 80er-Jahre entstandene, mit großen Stars der Opernszene besetzte Aufnahme. Dass Bernstein mit dem einen oder anderen dieser Stars bei den Aufnahmen interpretatorische Differenzen hatte, kann man auf der ebenfalls in der Box enthaltenen DVD „The Making of West Side Story“ nachvollziehen.

Die Aufnahme der dreiaktigen Oper „A Quiet Place“ ist ein Mitschnitt einer Live-Aufführung der Wiener Staatsoper von 1986, produziert in Zusammenarbeit mit dem österreichischen Rundfunk ORF. Auch „A White House Cantata“ ist in einer Aufnahme unter Kent Nagano aus dem Jahr 2000 enthalten. Es handelt sich dabei um Szenen aus dem nicht komplett realisierten Musical „1600 Pennsylvania Avenue“.

Eine der geglücktesten Aufnahmen dieser Box ist die großartige Realisierung der Operette „Candide“, einem der Hauptwerke Bernsteins. Der Komponist dirigiert diese Einspielung der finalen Version von 1989 selbst. Neben dem London Symphonie-Orchestra steht ihm eine nahezu ideale Sängerbesetzung zur Verfügung, allen voran der leider früh aus dem Leben geschiedene Jerry Hadley in der Titelrolle, der fulminanten, koloratursicheren June Anderson und Christa Ludwig als umwerfend komischer Old Lady. Es macht Freude, dieses Werk in identischer Besetzung auch noch als DVD in der Box zu finden. Sie gibt eine live-Aufführung vom 13. Dezember 1989 im Londoner Barbican Centre wieder, in der alle Mitwirkenden ihr reichlich vorhandenes komödiantisches Potential ausschöpfen können- allen voran Bernstein selbst, der sich nur Monate vor seinem Tod noch einmal zur Höchstform aufschwingt.

Als dritte DVD enthält die Box noch die Dokumentation „The Gift of Music“ von 1983. Dieser Film gibt wichtige Informationen zu Bernsteins Herkunft und Werdegang und gibt dem charismatischen Menschen und Künstler Bernstein ausgiebig Gelegenheit sich zu präsentieren und die starke Wirkung seiner Persönlichkeit nachvollziehbar zu machen. Besonders interessant sind einzelne Clips aus Bernsteins frühen Jahren und seine Begegnungen mit anderen bedeutenden Musikern des 20. Jahrhunderts. Ein besonderes Highlight ist die kurze Sequenz der Begegnung Bernsteins mit Schostakowitsch in Moskau.

Ein umfangreiches Booklet enthält neben zahlreichen Fotos Bernsteins auch detaillierte Angaben zu jeder einzelnen CD, was man aber schmerzlich vermisst, sind die Texte der Vokalmusik und vor allem der Bühnenwerke. Sehr ansprechend sind die Jackets der einzelnen Silberscheiben gestaltet, sie geben das originale Artwork der ersten LP bzw. CD Veröffentlichung wieder.

Diese mit einigem Aufwand, aber auch einer spürbaren Wertschätzung des Jahrhundert-Musikers Bernstein zusammengestellte Box ist wirklich eine ultimative Liebesgabe, ein „Work of Love“ für diesen bemerkenswerten, unvergessenen Künstler. Mehr Bernstein geht nicht!

Peter Sommeregger, 8.August 2018
für klassik-begeistert.de

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