Lieses Klassikwelt 24: Russland

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Eine Frage beschäftigte mich, als ich nun an seinem Grab stand: Was hatte den Humanisten Rostropowitsch, der aus politischen Gründen die Sowjetunion verlassen hatte und als einer der ersten Künstler nach der Wiedervereinigung an der Berliner Mauer Bach spielte, dazu bewogen, am Ende seines Lebens doch wieder nach Moskau zurückzukehren?

von Kirsten Liese

Zu Russland habe ich eine besondere Beziehung. Es mag damit zu tun haben, dass meine Großeltern mütterlicherseits aus dem Baltikum, heute Lettland und Estland, kamen und schon eine besondere Affinität zur russischen Sprache und Kultur mitbrachten. Meine Großmutter kam aus einer adeligen Familie in Riga, mein Großvater, der als Dolmetscher in russischer Kriegsgefangenschaft überlebte, aus Dorpat.

Schon in meiner Jugend und Studienzeit las ich die großen Romane von Tolstoi und Dostojewski, im Theater zog es mich in die Stücke von Tschechow, zudem faszinierten mich die sowjetischen Künstler beim Eiskunstlaufen, denen man ihre profunde Ballettausbildung im künstlerischen Ausdruck anmerkte. Vielleicht war es auch ein bisschen die eher schwermütige russische Seele, die mir entsprach.

Später hat sich mein Interesse für Osteuropa zunehmend erweitert, insbesondere im Bereich der Filmkunst, neben bekannteren Regisseuren wie André Tarkowski oder Nikita Michalkow entdeckte ich nun etwa auch eine einzigartige Filmemacherin wie Kira Muratova auf Festivals oder widmete mich in meinen Beiträgen außergewöhnlichen mehrstündigen Langzeitdokumentationen wie Ulrike Ottingers Südostpassage, eine filmische Reise durch die Ukraine, Russland und über den Balkan, oder Russlands Wunderkinder von Irene Langemann über musikalisch hochtalentierte Kinder, die an der Zentralen Musikschule in Moskau als Pianisten ausgebildet wurden.

Auch einige Reisen führten mich dann und wann in ehemals sowjetische Metropolen und Städte, nach St. Petersburg, Moskau, Riga und Kiew.

So manche Erinnerungen wurden wach, als ich unlängst den Dokumentarfilm Russland von oben sah, der gerade im Kino angelaufen ist. Es ist eine wunderbare Liebeserklärung an das riesige Land, die am zugefrorenen Baikalsee beginnt und auf der arktischen Insel Wrangel im Nordosten endet. Dazwischen gibt es Erkundungen der Metropolen Moskau und St. Petersburg so wie weniger bekannter Städte wie Kaliningrad, Kasan oder Norilsk in Sibirien. Vor allem aber sind grandiose Landschaften zwischen Kurischer Nehrung, Kaukasus, dem Ural und der Halbinsel Kamtschatka zu sehen. Sie wirken so faszinierend, dass man am liebsten gleich hinfahren möchte.

Viele dieser Städte und Landschaften passiert die transsibirische Eisenbahn, mit der ich immer schon mal eine Reise unternehmen wollte. Aber nun muss ich diesen Lebenstraum des Corona-Virus wegen vermutlich noch einmal aufschieben.

An den Moskauer Kreml, der erstmals für diesen Film aus der Luft gefilmt werden durfte, kann ich mich noch bestens erinnern. Ich war 2011 anlässlich des Moskau Filmfestivals als Mitglied der Fipresci-Kritikerjury in der russischen Hauptstadt. Es war ein netter Zufall, dass zu dem Zeitpunkt auch der Cellist David Geringas und seine Frau, die Pianistin Tatjana Geringas, dort weilten, die ich seit einigen Jahren journalistisch begleitet – und mit denen ich mich angefreundet hatte. Geringas, selbst Cello-Preisträger dieses renommierten Wettbewerbs von 1970, war als vorsitzender Juror im renommierten Tschaikowsky-Wettbewerb im Einsatz, den ich auch gerne besucht hätte, wenn sich das zeitlich irgendwie hätte kombinieren lassen. Aber dazu ließ der dicht getaktete Zeitplan leider keine Zeit. Es war das Jahr, in dem der Pianist Daniil Trifonov den Großen Preis im Fach Klavier gewann und international bekannt wurde.

Aber einen Vormittag wollten wir zumindest gemeinsam etwas unternehmen. David Geringas hatte eine wunderschöne Idee: Er mietete eine Limousine für eine Exkursion zum Nowodewitschi-Friedhof an, auf dem wir das Grab seines berühmten Lehrers Rostropowitsch besuchen wollten. Seine Jurykollegen und meine Freundin schlossen sich der Gruppe an.

Unerwartet gestaltete sich die Anfahrt schwierig, da unser Wagen plötzlich von Funktionären gestoppt wurde. Warum, das wissen wir bis heute nicht, es muss irgendeine willkürliche Schikane gewesen sein. Tatjana Geringas, gebürtige Moskauerin, wurde dabei besonders mulmig. Seit sie und ihr Mann mit Hilfe Rostropowitschs in den 1970er Jahren in den Westen emigriert waren, galten sie in Moskau bis zum Ende des Kalten Krieges als Staatsfeinde. Aber auch damals traute sie dem Frieden noch nicht. Wiewohl es die feinfühlige Musikerin immer wieder ihrer Mutter wegen in die Heimat zog, ist ihr das heutige Moskau mit all den snobistischen Neureichen sehr fremd geworden.

Ich war damals in dem Luxus-Hotel Ukraina untergebracht, in dem sich das Leben der neureichen Russen aus der Nähe beobachten ließ. Sie protzten mit ihren großen Autos und bedienten sich beim Frühstücksbuffet verschwenderisch mit Kaviar und Sekt, um die Hälfte auf dem Tisch zurückzulassen. Anderthalb Kilometer weiter außerhalb des Hotels sah man dann verarmte alte Mütterchen am Straßenrand, die für wenig Geld ein paar Möhren anboten, unbeachtet und links liegen gelassen von ihren jungen neureichen Landsleuten.

Aber zurück zu unserer gemeinsamen Exkursion: Nun standen wir also da, der Fahrer musste aussteigen und wir längere Zeit warten. Wir fürchteten schon, der unfreiwillige Aufenthalt könnte so lange dauern, dass es sich nicht mehr lohnen würde, noch zum Friedhof zu fahren, da wir am Nachmittag alle wieder in unsere Jurytätigkeiten eingebunden waren. Aber zum Glück kehrte der Fahrer nach einer halben Stunde wieder.

Der Fahrer konnte selber nicht in Erfahrung bringen, was das alles sollte. Mit ironischem Unterton zitierte David Geringas den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Russland ist eben eine lupenreine Demokratie.“

Der Friedhof liegt direkt hinter dem Nowodewitschi-Kloster, das wir auch noch besucht haben. Es ist ein riesiger Park, in dem zahlreiche russische Prominente in kunstvollen Gräbern und Mausoleen beigesetzt wurden, darunter der ehemalige Präsident Boris Jelzin, der Dramatiker Anton Tschechow, der Regisseur Konstantin Stanislavski, der Filmemacher Sergej Eisenstein, die Komponisten Schostakowitsch und Prokofjew und berühmte Interpreten wie David Oistrach und eben der Jahrhundertcellist Mstislaw Rostropowitsch, an dessen Grab wir Blumen legten und länger verweilten.

David Geringas legt Blumen an das Grab Mstislaw Rostropowitschs auf dem Nowodewitschi-Friedhof in Moskau. Rechts im Vordergrund: Tatjana Geringas.

Alle, die wir hier standen, hatten unsere persönlichen Erinnerungen an den genialen Musiker, Dirigenten, Pädagogen, Menschenrechtler und Lehrer, der so unterschiedliche grandiose Cellisten-Persönlichkeiten ausbildete wie eben David Geringas, Mischa Maisky oder Natalia Gutman. Sie alle nannten ihn liebevoll Slava.

Ich hatte ihn in einigen Konzerten auf Cellofestivals in dem hessischen Taunusstädtchen Kronberg, das er zur “Welthauptstadt des Violoncellos“ kürte, noch live hören- und bei seinen Meisterklassen als einen sehr jovialen, freundlichen Lehrer erleben können. Und einmal gab es sogar die Möglichkeit eines Interviews. Vor allem seine Interpretation des Dvorak-Cellokonzerts, das er mit einem unverkennbar schönen Ton spielte, wird mir unvergessen bleiben.

Aber eine Frage beschäftigte mich, als ich nun an seinem Grab stand: Was hatte den Humanisten Rostropowitsch, der aus politischen Gründen die Sowjetunion verlassen hatte und als einer der ersten Künstler nach der Wiedervereinigung an der Berliner Mauer Bach spielte, dazu bewogen, am Ende seines Lebens doch wieder nach Moskau zurückzukehren?

Wahrscheinlich war es so, wie Tatjana Geringas vermutet, es zog ihn trotz aller Ambivalenzen einfach zurück in die Heimat. Die Sehnsucht nach der Heimat ist vermutlich doch ein Gefühl, dessen man sich bei aller Kritik und Ambivalenz nicht entziehen kann, insbesondere die Russen sind bekannt für diese starke Verbundenheit.

Unweigerlich denke ich an den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig, der im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis nach Südamerika fliehen musste, und – wiewohl er in Brasilien große Anerkennung fand, wo seine Werke sogar ins Portugiesische übersetzt wurden – doch nicht glücklich werden konnte, weil er seine Sprache und seine Kultur vermisste, so dass er sich am Ende das Leben nahm.

Tatjana Geringas kannte Slava gut, sie hat am Moskauer Konservatorium viele seiner Schüler begleitet, ganz besonders natürlich ihren Freund David, den sie später heiratete. Sie ist überhaupt eine dankbare, wunderbare Zeitzeugin für das kulturelle Leben in Moskau in den 1960er- und 70er- Jahren. Wir trafen uns schon ein paar Mal für Aufzeichnungen für ein Buch, das ich ihr noch schulde, zu dem ich bislang noch nicht die richtige Ruhe fand. Aber in diesem Jahr werde ich es endlich in Angriff nehmen.

Russland ist einfach ein faszinierendes Land, es wird Zeit, sich damit noch viel intensiver zu beschäftigen.

Kirsten Liese, 06. März 2020, für
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