Lieses Klassikwelt 28: Fidelio

Lieses Klassikwelt 28: Fidelio  klassik-begeistert.de

Foto: Jonas Kaufmann als Fidelio am Royal Opera House (c) in London

Tatsächlich habe ich aber Jonas Kaufmann einmal als Florestan live erlebt, das war 2010  beim Luzern Festival in einer konzertanten Aufführung unter Claudio Abbado. Damals stand der Tenor im Zenit seines Könnens, ließ seinen ersten Ton in seinem „Gott, welch Dunkel hier“ gefühlt fünf Minuten lang auf einem Crescendo anschwellen, dass es einem kalt den Rücken herunter lief. So habe ich das nie wieder gehört. Ob er das heute auch noch so bringen kann? Die letzten Male, die ich ihn hörte, beispielsweise 2018 in München als  Parsifal,  hatte seine stimmliche Präsenz hörbar nachgelassen. Aber seinen jüngsten Florestan können nur die beurteilen, die in einer der Londoner Aufführungen waren.

von Kirsten Liese

Im Beethoven-Jahr liegt eine Konjunktur der einzigen Oper des Komponisten nahe. Ich muss allerdings gestehen, dass mich ungeachtet der Corona-Krise nicht eine der zahlreichen geplanten Produktionen hinter dem Ofen hervorgelockt hat. Am wenigsten wohl die der Wiener Staatsoper Ende Januar, die sich zu der blödsinnigen Idee verstieg, die Urfassung mit neuen Texten von Moritz Rinke zu präsentieren. Sie wurde prompt ein großer Reinfall.

Ein weiterer Fidelio erlebte seine Premiere noch in London. Seitens des Ensembles wurden mit Jonas Kaufmann und Shootingstar Lise Davidsen in den Hauptpartien prominente Namen aufgeboten. Die Regie vertraute Covent Garden leider jedoch einem Rabauken an, der für mich ein rotes Tuch ist: Tobias Kratzer, warum auch immer hoch gehandelt in der Kritik, jener Mann, der es bei den vergangenen Bayreuther Festspielen fertigbrachte, aus dem Tannhäuser eine Komödie mit einer parallel laufenden abstrusen Kinohandlung zu machen. Nein danke.

Ganz so rigide soll Kratzer wohl diesmal nicht vorgegangen sein, seine Einlassungen zum Stück, insbesondere seine herbeifantasierten Parallelen zwischen der Protagonistin Leonore und der Klima-Aktivistin Greta stimmen mich gleichwohl skeptisch. Ebenso fragwürdig erscheint mir Kratzers Behauptung, die Oper zerfalle in zwei verschiedene Teile. Es gibt natürlich zwei Akte, aber musikalisch und ungeachtet der drei Fassungen wirkt das Stück auf mich wie aus einem Guss. Zu den Leistungen der Sänger kann ich nichts sagen, ich saß nicht im Publikum.

Tatsächlich habe ich aber Jonas Kaufmann einmal als Florestan live erlebt, das war vor 10 Jahren beim Luzern Festival in einer konzertanten Aufführung unter Claudio Abbado. Damals stand der Tenor im Zenit seines Könnens, ließ seinen ersten Ton in seinem „Gott, welch Dunkel hier“ gefühlt fünf Minuten lang auf einem Crescendo anschwellen, dass es einem kalt den Rücken herunter lief. So habe ich das danach nie wieder gehört. Ob er das heute auch noch so bringen kann? Die letzten Male, die ich ihn hörte, beispielsweise 2018 in München als  Parsifal,  hatte seine stimmliche Präsenz hörbar nachgelassen. Aber seinen jüngsten Florestan können nur die beurteilen, die in einer der Londoner Aufführungen waren.

Den Sängerinnen und Sängern der Londoner Produktion wurden nebenbei auch ein paar Opfer  abverlangt, gingen doch in Covent Garden noch Vorstellungen über die Bühne, als die meisten großen Häuser im übrigen Europa wegen Corona schon dicht gemacht hatten. Am selben Tag wurde gerade noch die geplante Vorstellung am 17. März abgesagt. Infolgedessen gestaltete sich die späte Rückkehr  für den einen oder anderen   – um es vorsichtig zu formulieren  –  abenteuerlich. So zum Beispiel für den Bassisten Georg Zeppenfeld, den Rocco dieser Produktion und genialer Hans Sachs in Thielemanns Meistersingern. Von seiner Agentur, mit der ich eines Interviews wegen in Verbindung stehe, erfuhr ich, dass Zeppenfeld vier Stunden Aufenthalt am Düsseldorfer Flughafen hatte, weil ihn niemand darüber informierte, dass sein Anschlussflug gestrichen worden war. Als er das endlich erfuhr, fuhr auch kein Zug mehr nach Dresden. Der Sänger konnte nur noch nach Berlin fliegen, wo ihn dann zu nächtlicher Stunde seine Frau auflas und mit dem Auto nach Dresden holte.

Aber zurück zum Fidelio.  Das „Theater an der Wien“ konnte kürzlich seine Neuproduktion, in der Oscarpreisträger Christoph Waltz Regie führt, nur noch als Video zur Premiere bringen.

Ob die meine Ansprüche befriedigen könnte, wage ich ebenfalls zu bezweifeln. Eine komplette Um- oder Neudeutung steht  wohl nicht zu befürchten, aber sonderlich vielversprechend wirkt das Einheitsbühnenbild mit einer imposanten Treppeninstallation auf mich nicht. Irgendwo las ich, dass dieses Gebilde von den  Carceri d‘invenzione (Kerker-Fantasien) des italienischen Künstlers Giovanni Battista Piranesi inspiriert sein soll. Tatsächlich lassen sich die 14 Radierungen als eine tolle optische Vorlage für die Szene vorstellen. Nur sehen Piranesis Gewölbe ungleich furchteinflößender und finsterer aus. Aber richtig werde ich das erst beurteilen können, wenn ich die Inszenierung voraussichtlich am Ostermontag im Fernsehen anschauen werde.

Unterdessen möchte ich mich an grandiose Leonoren und   Fidelio-Aufführungen früherer Jahrzehnte erinnern.

Die ganz großen Kaliber der 50er- und 60er-Jahre, die als Leonore Maßstäbe setzten, habe ich leider nur auf Platten hören könne: Kirsten Flagstad, Martha Mödl, Birgit Nilsson.

Helga Dernesch. Autogrammkarte von Kirsten Liese.

Sie alle verfügen über Stimmen mit dramatischer Schwere, Gewicht und Durchschlagskraft, aber auch lyrischer Schönheit. Opernfreunde, die ausschließlich heutige Sängerinnen in der Partie gehört haben, möchte ich Aufnahmen mit den Genannten unbedingt empfehlen, sie sind meines Erachtens bis heute unerreicht.

Als eine starke, selbstbewusste, unbeugsame, mutige Frau ist Leonore natürlich eine besonders dankbare Figur für jeden Sopran in diesem Fach. So gesehen lässt sich allzu gut nachvollziehen, dass auch ein Ausnahme-Mezzo wie Christa Ludwig danach drängte: „Es war mein größter Wunsch, einmal im Leben den  Fidelio zu singen und danach zu sterben“, sagte sie mir in einem Interview, „und wie er mir dann angetragen wurde, habe ich sofort zugesagt ohne zu wissen, was auf mich zukommt“. Die Rolle war gleichwohl für sie ein „Sorgenkind“, das es erforderte, dass Ludwig mit ihren Kräften haushalten musste: „Wenn ich den  Fidelio  montags gesungen habe, brauchte ich an den folgenden drei Tagen Ruhe“. Unter diesen Voraussetzungen konnte sie die Partie immerhin zehn Jahre lang singen, zuletzt 1971 in New York unter Karl Böhm.

Aber Christa Ludwig wäre nicht eine der größten Sängerinnen des vergangenen Jahrhunderts, wenn sie nicht diese Partie  fulminant gemeistert hätte, wovon Aufnahmen unter Otto Klemperer  und Arthur Rother Zeugnis geben. Die unter Arthur Rother aus dem Jahr 1963 zeigt  vom 4. bis 6. April die Deutsche Oper Berlin innerhalb des aktuellen Streamingangebots, unbedingt anschauen!

Unter den Leonoren, die ich live auf der Bühne erleben konnte, ist mir Gundula Janowitz am stärksten in Erinnerung geblieben. Es muss irgendwann in den 1970er-Jahren gewesen sein, noch in der bewegenden, gut gemachten Inszenierung von Gustav Rudolf Sellner. An den Florestan dieser Produktion erinnere ich mich nebenbei gesagt auch noch, es war der unverwüstliche, schon etwas in die Jahre gekommene Hans Beirer, der zuverlässig noch alle großen Partien bewältigte, vom Tannhäuser über Parsifal und Tristan bis hin eben zum Florestan. Mit der Höhe in seiner großen Szene hatte er schon etwas Mühe, aber das kaschierte er so, dass es irgendwie zur Rollengestaltung des Gequälten und Gemarterten dazu gehörte.

Wie Ludwig wurde auch Janowitz mit einer viel verkauften Video-Produktion als Leonore verewigt, und zwar in einer Einstudierung der Wiener Staatsoper unter Leonard Bernstein. Ich ahnte nicht, dass ich just mit der Auswahl ihrer großen Arie „Abscheulicher, wo eilst du hin“ aus dieser Aufnahme für eine längere Radio-Sendung anlässlich ihres 70. Geburtstags ins Fettnäpfchen treten sollte.

Jedenfalls wollte Janowitz daran in unserem Interview am liebsten gar nicht erinnert werden. Warum, das erzählte sie mir dann auf Nachfrage aber doch noch. Demnach soll Bernstein, verärgert darüber, dass nicht seine Wunsch-Leonore Gwyneth Jones die Partie übernahm, ein extrem langsames Tempo gewählt haben, um sie in Schwierigkeiten zu bringen. Die langen Phrasen verlangten ihr soviel ab, dass es für sie an die Grenzen ging.

Hildegard Behrens mit John Vickers als Florestan. Eine Autogrammkarte von Kirsten Liese.

Auf die Idee wäre ich nie gekommen, finde ich doch die Aufnahme insbesondere seitens der Gestaltung sehr berührend, ihr flehentliches Bangen und Hoffen kommt ebenso tief vom Herzen wie bei Flagstad, Mödl, Nilsson und Ludwig. Mit ihrer unverkennbaren hellen Höhe gelingen hier Spitzentöne von einer Strahlkraft, wie ich sie bei keiner anderen vernommen habe. Den Florestan in dieser Produktion gab übrigens nicht minder exquisit René Kollo, der sein „Gott, welch Dunkel hier“ mindestens ebenso ergreifend gestaltet wie Kaufmann.

Darüber hinaus schließe ich nicht aus, dass Bernstein für die Leonoren-Arie aus künstlerischen Gründen ein so langsames Tempo gewählt hat. Immerhin hat der geniale Wilhelm Furtwängler in seiner Einspielung mit Martha Mödl die Arie vergleichbar langsam dirigiert.

Gwyneth Jones war, unabhängig von Bernsteins Vorlieben, eine weitere herausragende Leonore, dies übrigens auch schon seitens ihrer Erscheinung. Lillian Fayer, damalige Hausfotografin der Wiener Staatsoper, hat von ihr ein besonders treffendes Rollenfoto gemacht.

Helga Dernesch, die ich an der Deutschen Oper Berlin noch erleben konnte, Leonie Rysanek und Edda Moser seien als weitere sehr respektable Interpretinnen der Titelpartie der 70er-Jahre zumindest noch kurz erwähnt. Zu den herrlichsten Momenten in der Oper zählt für mich übrigens neben der Leonoren-Arie in seiner melodiösen Schönheit und Schlichtheit das Quartett „Mir ist so wunderbar“.

Eine der letzten bedeutenden Leonoren erlebte die Opernwelt vielleicht mit Hildegard Behrens, aber das ist nun auch schon wieder sehr lange her. Auch ihre Gestaltung gab ähnlich wie die von Janowitz Zeugnis, wie eine Sängerin mit einer weniger schwergewichtigen Stimme mittels leisen Tönen anrühren kann. Übrigens singt auch sie ihre entscheidende Arie unter Sir Georg Solti ziemlich langsam. Vielleicht ist das auch der Trick für eine hellere, leichtere Sopranstimme: die lyrischen, leisen Momente wie bei einem inniglichen Gebet besonders stark herauszukehren.

Gwyneth Jones als Fidelio. Foto: Fayer

Unter den jüngeren szenischen Fidelio-Produktionen ist eigentlich nur noch eine unter Claudio Abbado 2008 in Baden-Baden bei mir hängen geblieben, dies vor allem allerdings dank des genialen Dirigats, der superben Leistung des Arnold Schoenberg Chors und einer ansehnlichen Bühne. Das ist in heutigen Zeiten schon viel. Chris Kraus inszenierte das Stück um den politischen Gefangenen und seine treue, mutige Gattin durchaus schlüssig vor dem Hintergrund der französischen Revolution. Bei der Besetzung galt es allerdings Abstriche zu machen: Anja Kampe erschien damals mit der Leonore überfordert, forcierte stark in der Höhe und tönte in den Spitzen etwas metallisch. Nina Stemme, die die Titelpartie 2010 in der konzertanten Aufführung in Luzern unter Abbado übernahm, war da mit großem Volumen und deutlich schlankerer Stimmführung schon besser. An Clifton Forbis als Baden-Badener Florestan erinnere ich mich kaum noch, dafür aber an eine damals hinreißende Julia Kleiter als Marzelline.

Nur eines gefiel mir seitens der Inszenierung weniger, dass Kraus dem Schluss des Stückes misstraute und – kaum hatte Leonore ihrem Florestan die Fesseln abgenommen – Soldaten das Volk zusammentrieben, zurück in die Kerker führte und Guillotinen errichteten. Damit wollte Kraus wohl dem utopisch anmutenden Schluss der Befreiung trotzen. Aber mal im Ernst: Sind nicht Utopien mitunter in Zeiten wie die, die wir gerade auch erleben, hilfreich, und sei es nur, weil positive Energien unser Immunsystem stärken?

Angesichts von Corona sind wir derzeit mehr oder weniger alle Gefangene unserer Wohnungen und stehen vor einer ungewissen Zukunft. Manchmal geschehen ja doch Zeichen und Wunder, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Und so halten wir es heute mit der wunderbaren Musik der Leonore „Komm Hoffnung, lass den letzten Stern“…

Kirsten Liese, 27. März 2020, für
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5 Gedanken zu „Lieses Klassikwelt 28: Fidelio
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  1. Hört euch das auf der CD aus Luzern an. Das so berühmte Crescendo, das viele „noch nie so gehört haben“, hat zwei Registerbrüche. Wo ich es wirklich perfekt gehört habe, war 1978 zweimal in der Oper und drei mal hintereinander bei den Aufnahmen bei René Kollo unter Bernstein. Klar, dass JK versucht hat, ihn zu kopieren. Es blieb leider nur bei einer Kopie

    Herbert Hiess

    1. Und auch hier:
      Wow! Ein Meister seines Faches – auf einem (1) Ton zwei (2) Registerbrüche zu schaffen ist wirklich eine sensationelle Leistung!

      Werner Arts

  2. Sehr geehrter Herr Hiess,
    danke für Ihren Einwand, ich habe vielleicht nicht genau genug formuliert: Ich habe die Arie NACH der Luzerner Aufführung mit Jonas Kaufmann in den vergangenen zehn Jahren nie wieder so gehört. Vor ihm gab es zweifellos einige andere, die die Arie fulminant meisterten, Kollo gewiss an vorderster Stelle, aber auch Windgassen oder Vickers.
    Beste Grüße, Kirsten Liese

  3. Sehr schöne, informative, kompetente – gut recherchierte – Ausführungen.

    Kompliment und herzlichen Dank!

    Tim Theo Tinn

  4. Liebe Frau Liese,
    ich möchte ihren interessanten Artikel noch um einen Namen ergänzen: Inge Borkh, die ich 1968 in München als Leonore gehört hatte. Nie wieder beeindruckte mich eine Leonore mit ihrer gesanglich-dramatischen Gestaltung so wie diese auf der Bühne überzeugende Sopranistin. Ihre gesangliche Gestaltungskraft ist auch auf einer Elektra-Gesamtaufnahme unter Karl Böhm zu erspüren. Eigentlich mag ich konservierte Aufnahmen nicht, aber ihre Aufnahme als Elektra (sowie die von Gundula Janowitz als Sieglinde, Karajan) habe ich mir mehrere Male angehört, manche anderen Plattenaufnahmen dagegen nie.

    Ergänzen möchte ich auch noch die Bühnen-Leonore von Sabine Hass sowie die von James King und Heinz Kruse als Florestan. Letztere hatte sich plötzlich vom leichten zum Heldentenor entwickelt, ohne das Lyrische zu verlieren. Leider blieben ihm bis zum frühen Tod nur wenige Jahre, in denen er das Hamburger Publikum als Siegfried zu Begeisterunsgstürmen hinreißen konnte.
    Herzliche Grüße aus Hamburg, Ihr Ralf Wegner

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