Lieses Klassikwelt 36: Eberhard und Lenchen

Lieses Klassikwelt 36: Eberhard und Lenchen,,  klassik-begeistert.de

von Kirsten Liese

Nichts mehr ist wie es einmal war, wenig von dem übrig, was mir einmal etwas bedeutete. Deshalb haben schöne Erinnerungen an Vergangenes für mich großes Gewicht.

Die langjährige Freundschaft meiner Familie mit Eberhard Finke  – von 1950 bis 1985 Erster Solocellist der Berliner Philharmoniker –  ist ein Teil dieser kostbaren Erinnerungen. Meine heutige Klassikwelt ist ihm gewidmet, er wäre am 19. Mai 100 Jahre alt geworden. Ich bin froh, dass er die aktuelle große Krise nicht mehr miterleben muss,  zugleich vermisse ich ihn und seine liebe Frau Rosemarie sehr. Er war ein ausgesprochen feiner, nobler Mensch,

Die Bekanntschaft begann, als ich ungefähr zehn Jahre alt war. Damals hatte sich meine Mutter mit Anfang 40 verspätet ihren Traum erfüllt,  das Cellospiel zu erlernen. Ihr erster Lehrer war ein Schüler von Eberhard und stellte den Kontakt her, als es darum ging, ein gutes Instrument zu kaufen. Man war sich sympathisch, und so blieb es nicht bei einer einmaligen Begegnung.

Unvergessen ist mir geblieben, wie Eberhard einmal bei uns zu Besuch war und plötzlich wie von einer Tarantel gestochen aufsprang, nachdem sein Blick auf seine Uhr gefallen war. Er musste zu einer Probe mit Karajan in die Philharmonie und war offenbar schon spät dran. Flugs ließ er alles stehen und liegen, raffte sein Cello,  rannte die Treppen hinunter so schnell ihn seine Füße trugen und eilte davon.  Zuspätkommen, und seien es nur fünf Minuten, war wohl bei Karajan ein Sakrileg. Aber das ist meine Interpretation. Eberhard selbst kam nie ein schlechtes Wort über seinen Chef über die Lippen, im Gegenteil: In späteren Jahren, in denen ich ihn mehrfach interviewte, er mir das Du anbot und wir Freunde wurden, sprach er immer nur in höchsten Tönen von ihm. Für ihn war es das denkbar größte Glück, die Ära Karajan in den glanzvollsten Jahren am vordersten Pult mitzuerleben. Musikalisch fühlte er sich wie im Olymp, Solisten und Sänger ließen sich keine besseren denken. Wenn wir uns gemeinsam erinnerten, was kamen wir da ins Schwärmen, sei es nun über Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Nicolai Ghiaurov oder Hildegard Behrens.

Von seinem schönen Celloton, der seinem edlen Charakter in nichts nachstand, gibt vor allem Karajans Gesamtaufnahme von Verdis Don Carlos  Zeugnis: Eberhard spielt darin das berührende Solo zur Philipp-Arie „Ella giammai mamò“ („Sie hat mich nie geliebt“) wunderbar berührend und seidig.

Überhaupt wurden dem gebürtigen Bremer Eberhard, dessen Werdegang in jungen Jahren zeitweise nach Rio de Janeiro führte, die goldensten Jahrzehnte in der Geschichte der Berliner Philharmoniker zuteil. Er erlebte für kurze Zeit noch Wilhelm Furtwängler und Sergiu Celibidache als dessen Statthalter, und dann die lange Zeit mit Karajan.

Ich habe Eberhard nie anders erlebt als diplomatisch und höflich, aber hörte man sehr genau hin, vermittelte sich zwischen den Zeilen schon mal subtil, dass ihn beispielsweise Sir Simon Rattle als Dirigent nicht so überzeugen konnte. Insbesondere über das künstlerische Niveau seines Orchesters bei den Osterfestspielen vor ihrem Wechsel nach Baden-Baden fand er kritische Töne. Zusammen mit Rosemarie besuchte Eberhard noch lange nach seiner Pensionierung Jahr für Jahr die Osterfestspiele in Salzburg als Zuschauer. Zum Schluss waren beide nur noch entsetzt, vor allem über eine Produktion der  Salome, die wohl seitens der Regie regelrecht abscheulich gewesen sein muss.

Aber gehen wir noch einmal etwas weiter zurück ins Jahr 1972. Eberhard zählte zu den Gründungsvätern der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker, die sich damals formierten. Manchmal erstaunt es mich, was für  nebensächliche Details sich in meinem Gedächtnis festgesetzt haben: In einer Fernsehdokumentation über die Zwölf, die in Salzburg wenig später gedreht worden war, saß das Ensemble im Café Niemetz neben der Pferdeschwemme ganz dicht gedrängt beieinander, wie es derzeit wohl unmöglich wäre. An diesem Ort wurde jeder von ihnen interviewt. In einem Moment hört man Eberhard, wie er aus dem Hintergrund ein „neues Glas Sekt“ bestellt. Und seltsamerweise fällt mir das jedes Mal wieder ein, wenn ich nach Salzburg komme und im Niemetz einkehre.

Eberhard betätigte sich überhaupt vielfältig auf dem Gebiet der Kammermusik. Mit seinem Freund und Kollegen Wolfgang Boettcher studierte er zahlreiche Duos ein, brachte in erweiterten  ungewöhnlichen Besetzungen auch Stücke zur Uraufführung wie zum Beispiel die Kantate Being Beauteous  von Hans-Werner Henze für vier Violoncelli, Harfe und Koloratursopran, ein sehr feingliedriges, ätherisches Stück, von Ingeborg Hallstein mit schwerelosen Spitzentönen hinreißend gesungen und für mich eines der tollsten Stücke von Henze überhaupt.

Philharmonie Berlin,
© Schirmer

Eberhard und Rosemarie waren wie ich große Tierfreunde und hatten immer Hunde. Mit einem gibt es eine schöne Anekdote. In einem Konzert, das Eberhard und Wolfgang Boettcher zusammen gestalteten, saß der Hund im Auditorium und schlummerte völlig unauffällig vor sich hin. Aber als dann plötzlich ein moderneres Stück mit Dissonanzen anstand, schreckte das ruhige Tier auf und drückte mit einem Jaulen sein Missfallen aus.

Über Eberhard lernten wir auch Lenchen kennen, Furtwänglers langjährige Haushälterin. Sie war eine rüstige alte Dame, die noch im hohen Alter auf eine hohe Leiter stieg, um ihre Fenster zu putzen. Falls es mal bums machen sollte, könnten sie ja mal nach ihr schauen, sagte sie mit unverkennbar trockenem Humor zu ihren Nachbarn.

Von Lenchen gibt es auch zahlreiche liebenswerte Erinnerungen an Furtwängler, den sie nur den „Doktor“ nannte, in dessen Diensten sie stand, als er noch ohne seine Frau Elisabeth in Berlin wohnte. Zwei der schönsten seien an dieser Stelle erzählt:

Der Doktor kam einmal nach einer  Tristan-Aufführung besonders bewegt nach Hause. Lenchen kam es über die Lippen, dass sie mit dieser langen, monoton empfundenen Oper nicht viel anfangen könnte. Das soll Furtwängler entsetzt haben, das konnte er nicht hinnehmen. Also setzte er sich an den Flügel und erklärte, indem er auszugsweise Passagen aus der Oper spielte,  Lenchen die ganze Oper und ihr Faszinosum auseinander. Und tatsächlich konnte er ihr Herz für diese Musik öffnen.

Die zweite Anekdote beginnt damit, dass Lenchen den alten, schon leicht zerschlissenen Filzhut des „Doktors“ nicht mehr für würdig befand. Ihm selbst erschien das wohl völlig unwesentlich. Lenchen entschied sich, still und heimlich einen neu erworbenen Hut gegen den alten auszutauschen. Gewohnheitsmäßig würde der Doktor nach dem Hut greifen und das gar nicht bemerken. Und so geschah es. Allerdings bemerkten auf der Probe alle anderen sofort die Veränderung und brachten ihn mit ihrer Bewunderung in Verlegenheit. Etwas beschämt und zugleich gerührt über Lenchens Umsicht kehrte er heim.

Als ich in den 1980er Jahren an der Hochschule für Künste studierte, lebte Lenchen leider schon nicht mehr.  Aber Eberhard sollte mich noch lange begleiten, als ich Jahrzehnte später journalistisch tätig wurde. Er  war wie Lenchen noch bis ins hohe Alter in sehr guter geistiger und körperlicher Verfassung. Mit 85, also in einem Alter, wo andere Cellisten ihre Karriere meist schon wegen nachlassender physischer Kräfte beendet haben, nahm er noch sämtliche Beethoven-Sonaten für Violoncello und Klavier auf. Eine unserer letzten persönlichen Treffen hatten wir im Kontext mit diesen CDs. Ich nahm sie zum Anlass für eine Porträtsendung über Eberhard im Deutschlandradio.

Eberhard kam im Auto eigens zu mir, um mir die CDs zu bringen. Er war zu diesem Zeitpunkt sogar schon 87. Da zu meiner Wohnung im obersten Stockwerk mangels Aufzug nur sehr steile Treppen hinaufführen, bot ich ihm an, zu ihm hinunter zu kommen, um ihm den mühsamen Aufstieg zu ersparen. Aber er entgegnete nur: „Ach, bisher habe ich das immer noch geschafft“. Und dann bewältigte er die Strecke stracks ohne eine Verschnaufpause, die nahezu alle jüngeren einlegen, die mich besuchen.

Mit seiner ganzen Lebensart voller Zufriedenheit und Dankbarkeit über ein erfülltes Künstlerleben und guter Kondition bis ins hohe Alter war mir Eberhard stets ein Vorbild. Im Juli 2016 starb er im Alter von 96 Jahren. Rosemarie starb knapp ein Jahr später.

Kirsten Liese, 22. Mai 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

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Kirsten Liese

Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz,  Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .

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