Am 27. Januar vor 120 Jahren starb Giuseppe Verdi im hohen Alter von 87 Jahren. Dazu passt es, dass ich mich gerade mit der letzten Oper des in Mailand verstorbenen bedeutendsten italienischen Komponisten beschäftige, also dem Falstaff.
von Kirsten Liese
Ich muss vorab bekennen, dass ich heute einmal nicht als Expertin schreibe, sondern als jemand, der gerade dabei ist, sein Verdi-Bild zu revidieren und den Komponisten überhaupt in seinem ganzen Reichtum an Werken zu entdecken, von denen ich längst nicht alle kenne.
Mit Falstaff tat ich mich bislang schwer, weil ich mit völlig falschen Hörerwartungen an kulinarische Melodien hineinging. Und vermutlich wäre ich weiter eine solche Ignorantin geblieben, wenn ich nicht 2018 nach Ravenna gereist, an Riccardo Mutis Opernakademie teilgenommen – und erkannt hätte, dass schon Macbeth ein ebenso packendes Musikdrama ist wie Don Carlos oder Otello. Da ging mir ein Knopf auf und ich merkte, dass ich bis dato mit meinem Verdi-Verständnis völlig falsch lag. Ich begriff, dass man diesen Komponisten nicht verstanden hat, wenn man die Faszination auf Ohrwürmer wie „La donna è mobile“ oder herrliche Arien wie „O don fatale“ oder „Sempre libera degg’io“ reduziert. Ich staunte darüber, dass sich im Macbeth Stellen finden, die oftmals völlig falsch als „Humtatas“ gespielt werden, obwohl sie – richtig musiziert – eigentlich klingen müssten wie ein lyrisches Klavierstück von Schubert. Und vor allen Dingen vermittelte Maestro Muti uns die ungeheure Bedeutsamkeit des Librettotextes, dem seinen Einschätzungen nach sogar der Vorrang vor der Musik gebührt: „Serve the poet“- Werdet dem Dichter gerecht!
Nun ist Muti sowieso der Verdi-Experte schlechthin und ein begnadeter Lehrmeister obendrein. Was gäbe ich doch dafür, wenn ich in weiteren Folgen aufschlussreiche Vorträge und Ausführungen zu diversen anderen Verdi-Opern in seiner Opernakademie mitbekommen könnte.
Sie sehen schon, meine heutige Kolumne läuft auf eine doppelte Liebeserklärung an Giuseppe Verdi und Riccardo Muti hinaus.
Solange die Theater geschlossen sind, muss ich mich jedoch wohl mit Tondokumenten und Videos begnügen und mit einem Buch, das Muti über seinen Lieblingskomponisten anlässlich dessen 200. Geburtstages schrieb. Darin bekannte er sich zum Falstaff als der aus seiner Sicht bedeutendsten Oper Verdis. Und begründete dies mit dem „theatralischen Raffinement“ dieses Stücks, das sich vor allem auch in der fortwährenden Deklamation artikuliere, die dazu diene, dass „jede einzelne Figur plastisch dargestellt wird.“
Aber noch eine andere Beobachtung von Muti erscheint mir zum Verständnis dieses Werkes unabdinglich: Dass Verdi im fortgeschrittenen Alter von 80 Jahren als „Spiegelbild seines Lebens selbst zum Protagonisten“ wird. Vor allem im stark autobiographisch gefärbten zweiten Teil reflektiere Verdi sein eigenes Leben als Mensch und Komponist, analysiert Muti. Der grantelnde Ritter, der die unmöglichsten Dinge anstellt, um sich finanziell mit Hilfe zweier Frauen zu sanieren, in einem Wäschekorb in der Themse landet und darauf die Schlechtigkeit der Welt beklagt, gleiche „haargenau seinem Schöpfer, der am Lebensende verlangte, dass nach seinem Tod alle Papiere verbrannt werden sollten.“ So gesehen hinterlässt die Handlung mit ihren zynischen Kommentaren freilich auch einen bitteren Beigeschmack.
„Mondo ladro“ („Schlechte Welt“) heißt es in Falstaffs bewegendem Monolog im dritten Akt, der mir nach mehrmaligem Hören nicht mehr aus dem Kopf will. Und wie es scheint, dreht Verdi, der sein ganzes Leben lang moralisierende Vorträge hinsichtlich der Ehre über sich ergehen lassen musste, den Spieß um, indem er nun seinen Helden bittere Worte darüber aussprechen – und zu dem Fazit kommen lässt, dass die Ehre nur eine leere Hülse und zu nichts nütze sei. Damit korrespondiert dann freilich auch die berühmte Schlussfuge „Tutto nel mondo è burla“ („Alles in der Welt ist eine Posse), aus der Muti eine Abrechnung des Komponisten mit sich selbst herausliest, als wolle er sagen, alles, was er geschaffen habe, sei eigentlich wertlos und „nichts als ein Scherz.“
Das alles vermittelt sich bestens über eine grandiose Aufführung, die unter Mutis Leitung 2001 in dem kleinen Teatro Verdi in Busseto anlässlich des 100. Todestages des Komponisten über die Bühne ging und glücklicherweise aufgezeichnet wurde.
Sie ist nicht nur ästhetisch ein Genuss dank einer prächtigen Ausstattung mit historisch nachgebildeten Dekorationen und Kostümen aus einer Vorstellung von 1913, wie man sie wohl heute nirgendwo mehr geboten bekäme, sondern auch äußerst lebendig seitens der Personenführung und mit dem gebotenen vitalen Witz inszeniert von Ruggero Cappuccio.
Angesichts des schmalen Grabens in dem kleinen Theater mit nur 328 Plätzen musste Muti damals das Orchester der Mailänder Scala, mit dem er dort musizierte, stark verschlanken. Das gereicht dieser Einstudierung jedoch keineswegs zum Nachteil, im Gegenteil: Es waltet eine wunderbare Transparenz in der Musik, die mit vielen filigranen Momenten und Ensembles streckenweise regelrecht mozartisch anmutet.
Neben der Oper selbst, die mir über diese Einstudierung wieder ein Stück näher gebracht wurde, habe ich aber auch noch wunderbare Sängerdarsteller entdeckt: allen voran Ambrogio Maestri in der Titelpartie, dem der stolzierende, liebestolle Gockel trefflich auf den Leib geschrieben wirkt, sowie die mir bis dato völlig unbekannte Sopranistin Inva Mula als Nannetta in der Nebenhandlung um eine jugendfrische Liebe. Ihren Liebsten gibt übrigens der damals erst 28 Jahre alte Tenor Juan Diego Flórez.
Schon interessant: Mit diesen jungen Leuten, deren wahre gegenseitige Gefühle er nicht infrage stellte und denen er sogar einen glücklichen Ausgang gönnt, hat der alte Verdi unter das Thema Liebe seinen Schlussstrich gezogen. In letztlich keiner seiner 27 übrigen Opern hat sie sonst jemals Erfüllung gefunden, nicht im Otello, wo der Protagonist aus unbegründeter Eifersucht zum Mörder wird, nicht im Don Carlos, wo es für Carlos und Elisabetta keine Zukunft gibt, aber auch König Philipp und Prinzessin Eboli darunter leiden, nicht die ersehnte Liebe zu erfahren, nicht in Aida, wo die Liebenden am Ende eingemauert werden, und am allerwenigsten im Rigoletto, wo der besorgte Hofnarr am Ende im Leichensack seine ermordete Tochter Gilda entdeckt, für mich von allen Opern überhaupt die schaurigste.
Letztlich hatte damit Arrigo Boito, der Verdi als Librettist das auf Shakespeares Lustigen Weibern von Windsor basierende Stück vorschlug, Recht, als er ihm im Vorfeld schrieb: „Nachdem Sie alle Schmerzensrufe und Klagen des menschlichen Herzens haben ertönen lassen, mit einem mächtigen Ausbruch der Heiterkeit enden! Das wird in höchstes Erstaunen versetzen!“
Kirsten Liese, 29. Januar 2021, für
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Die gebürtige Berlinerin Kirsten Liese (Jahrgang 1964) entdeckte ihre Liebe zur Oper im Alter von acht Jahren. In der damals noch geteilten Stadt war sie drei bis vier Mal pro Woche in der Deutschen Oper Berlin — die Da Ponte Opern Mozarts sowie die Musikdramen von Richard Strauss und Richard Wagner hatten es ihr besonders angetan. Weitere Lieblingskomponisten sind Bruckner, Beethoven, Brahms, Schubert und Verdi. Ihre Lieblingsopern wurden „Der Rosenkavalier“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, „Tristan und Isolde“ und „Le nozze di Figaro“. Unvergessen ist zudem eine „Don Carlos“-Aufführung 1976 in Salzburg unter Herbert von Karajan mit Freni, Ghiaurov, Cossotto und Carreras. Später studierte sie Schulmusik und Germanistik und hospitierte in zahlreichen Radioredaktionen. Seit 1994 arbeitet sie freiberuflich als Opern-, Konzert- und Filmkritikerin für zahlreiche Hörfunk-Programme der ARD sowie Zeitungen und Zeitschriften wie „Das Orchester“, „Orpheus“, das „Ray Filmmagazin“ oder den Kölner Stadtanzeiger. Zahlreiche Berichte und auch Jurytätigkeiten führen Kirsten zunehmend ins Ausland (Osterfestspiele Salzburg, Salzburger Festspiele, Bayreuther Festspiele, Ravenna Festival, Luzern Festival, Riccardo Mutis Opernakademie in Ravenna, Mailänder Scala, Wiener Staatsoper). Als Journalistin konnte sie mit zahlreichen Sängergrößen und berühmten Dirigenten in teils sehr persönlichen, freundschaftlichen Gesprächen begegnen, darunter Dietrich Fischer-Dieskau, Elisabeth Schwarzkopf, Mirella Freni, Christa Ludwig, Catarina Ligendza, Sena Jurinac, Gundula Janowitz, Edda Moser, Dame Gwyneth Jones, Christian Thielemann, Riccardo Muti, Piotr Beczala, Diana Damrau und Sonya Yoncheva. Kirstens Leuchttürme sind Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache, Riccardo Muti und Christian Thielemann. Kirsten ist seit 2018 Autorin für klassik-begeistert.de .
Falstaff ist eine Oper, die ich (noch) nicht verstanden habe. Dieses Schicksal teilen aber viele – Laien als auch Vollprofis!
Mich überkommt das Gefühl, Falstaff muss man eher von der intellektuellen Seite beginnen zu durchforsten. Dann offenbart sich einem, hoffentlich, auch Mal der Rest. Denn rein musikalisch betrachtet, fehlt mir völlig der Durchblick. Habe bislang keine Oper gesehen, bei der es mir diesbezüglich derart schlimm ergangen ist. Vor allem zum Ende hin, dieses auf den ersten Blick schwachsinnige Gehopse und auch der Rest. Rein zum Schwelgen und Dahinschmelzen scheint diese Oper nicht viel herzugeben.
Jürgen Pathy
La descrizione dettagliata del Maestro Riccardo Muti delle opere verdiane, trascina senza noia ad ascoltarle pensando alla spiegazione. Premetto: sia la spiegazione dell’opera, l’orchestra ione, è la direzione.
Maestro Riccardo Mutis detaillierte Beschreibung von Verdis Werken verleitet Sie dazu, sie anzuhören, ohne sich über die Erklärung Gedanken zu machen. Ich sage: Sowohl die Erklärung des Werkes als auch das Orchester sind die Richtung.
Paola Guagliumi
Dem Vorredner kann ich nur zustimmen, mir kam bei Verdis Falstaff immer der Gedanke an einen angedickten Rossini. Die von vielen geteilte Begeisterung für dieses Werk habe ich nie nachempfinden können. Man sollte die Hoffnung aber auch nicht aufgeben. Ralf Wegner