Foto: © Alte Oper Frankfurt, Tibor Florestan Pluto
Sir Simon Rattle und das LSO brillieren in der Alten Oper
Jean Sibelius (1865-1957) – Die Okeaniden. Tondichtung für großes Orchester, op. 73
Jean Sibelius (1865-1957) – Tapiola. Tondichtung für großes Orchester, op. 112
Sergej Rachmaninow (1873-1943) – Sinfonie Nr. 3 a-Moll, op. 44
London Symphony Orchestra
Sir Simon Rattle, Dirigent
Alte Oper, Frankfurt, 5. Dezember 2022
von Brian Cooper, Bonn
Okeaniden sind Töchter eines offenbar ziemlich potenten Wassergottes, denn es gibt von ihnen gleich 3000. Schöne Schwestern allesamt, Töchter der Wellen werden sie auch genannt, Aallottaret auf Finnisch.
Ohne zu wissen, was Okeaniden sind, war ich schon in jungen Jahren beim Hören der Tondichtung op. 73 von Jean Sibelius in der frühen Aufnahme von 1985 mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) unter Sir Simon Rattle sehr fasziniert von diesem Spiel mit Licht und Wasser, mit zarten Holzblasinstrumenten – insbesondere den Flöten – auf der einen und grummelnden Bässen auf der anderen Seite. Mal stürmisch, mal ruhig – wie das Meer halt so ist.
Rattles CBSO-Gesamteinspielung der Sinfonien, in der auch das op. 73 enthalten ist, wurde seinerzeit völlig zu Recht begeistert aufgenommen, und auch seine spätere Einspielung mit den Berliner Philharmonikern untermauert den Eindruck, dass er zusammen mit dem leider bereits verstorbenen Sir Colin Davis an der Spitze einer beeindruckenden Riege von (nicht nur englischen) Sibelius-Dirigenten steht. Und sie wachsen nach: Stellvertretend seien hier die Namen Rouvali und Mäkelä genannt, beides Landsleute von Sibelius.
Sir Simon, seit vielen Jahrzenten also ein wichtiger Sibelius-Dirigent, setzt gern auch die seltener gespielten Stücke des Finnen aufs Konzertprogramm. In Frankfurt wurde vom London Symphony Orchestra (LSO) neben den umwerfend dargebotenen Okeaniden auch Tapiola gespielt – eine weitere düstere Tondichtung, etwa doppelt so lang, die nach dem Gott des Waldes benannt ist und in herrlichem H-Dur endet.
Und man hört förmlich den Wald und die nordischen Landschaften. Ohne Kontext klänge ein solcher Satz womöglich reichlich debil, doch wenn man zu beschreiben versucht, wie gut das LSO den von Sibelius komponierten und von Rattle ergründeten orchestralen Farbenreichtum umsetzt, versteht man ihn vielleicht etwas besser. Nur ein gutes Orchester kann unter einem guten Dirigenten solche Farben erzeugen. Das ist Orchestrierungskunst, das erzeugt bei der Hörerschaft Bilder und erzählt Geschichten, und es wurde fabelhaft dargeboten.
Die pulsierenden Bässe beispielsweise, immer wieder im etwa zwanzigminütigen Werk präsent und an das Ende von Tschaikowskys Pathétique gemahnend, hatten eine dunkle Färbung, die ähnlich berückend war wie die wunderbar gespielte con-sordino-Passage der Cellogruppe. Flirrend, geradezu aus der Tiefe. Wundervoll, diese beiden finnischen Tondichtungen hintereinander zu hören.
Zu unser aller Glück ist das LSO ein extrem reisefreudiges Orchester. Es ist ohne weiteres möglich, es mehrmals pro Saison auf dem europäischen Kontinent zu erleben, und das sogar ohne große Reisestrapazen. Insbesondere das deutsche Publikum kann es nun innerhalb von vier Tagen in Frankfurt, Hamburg, Köln und Dortmund hören.
Nach der Pause folgte Rachmaninows Dritte Sinfonie. Ich war ein wenig überrascht, wie schlecht ich das Werk in Erinnerung habe. Offenbar wird die Zweite öfter gespielt, von der es übrigens eine frühe, sehr hörenswerte Rattle-Einspielung mit dem Los Angeles Philharmonic (!) von 1984 gibt, dem Orwell-Jahr sozusagen, und die Sinfonischen Tänze op. 45 sowieso.
Das op. 44, Rachmaninows vorletztes Werk, wurde in Frankfurt zum fulminanten Tanz, zum furiosen Ritt durch eine weite Steppe. (Bisweilen dachte ich auch an gute Filmmusik.) Oder zum Ritt auf der Rasierklinge. Messerscharf, eine Wonne. Das Orchester brillierte. Blech, Holz, Streicher: Alles wurde zu einer perfekt dargebotenen Symbiose. Das Hornsolo im zweiten Satz war zum Niederknien. Was für ein Spitzenorchester!
Die Sinfonischen Tänze werden gleich im ersten Satz vorweggenommen; man erkennt nicht nur im a-c-e-c-a-Motiv sogleich Rachmaninow. Im letzten Satz dann eine ungeheuerliche Präzision, die einen beglückt zurückließ und das Publikum geradezu vom Sitz gerissen hat. Mein Begleiter sprach von „einem Konzert für die einsame Insel“!
Als Zugabe wurde der Slawische Tanz op. 46/3 gespielt, von Sir Simon angekündigt mit den Worten: „Wenn Sie noch vier Minuten haben… Dvořák macht alles besser!“ Ein tschechischer Bi-Ba-Butzemann gewissermaßen – der ist etwas flotter unterwegs als der hiesige…
Dr. Brian Cooper, 6. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent Musikverein Wien, 4. Dezember 2022
London Symphony Orchestra, Sir Simon Rattle, Dirigent Wolkenturm, Grafenegg, 26. August 2022
Sir Simon Rattle, London Symphony Orchestra, Kölner Philharmonie, 27.9.2021