Foto: Michael Pöhn, Wiener Staatsoper
Wiener Staatsoper, 11. Juni 2022, Premiere
L’ORFEO
Favola in musica in fünf Akten und einem Prolog
von Lothar und Sylvia Schweitzer
Wird die Oper glücklich oder tragisch ausgehen? Wir werden uns von der Art eines Gluck’schen Happy End lösen müssen. Lesen wir in der ersten Auflage von Pfisters „Götter – und Heldensagen der Griechen“ nach, wird Orpheus, vielleicht durch sein traumatisches Erlebnis zum Frauenfeind geworden, von thrakischen Frauen in Stücke zerrissen. Aus den Opernführern ist bei Monteverdis Werk nichts Eindeutiges zu entnehmen. Apollo bestätigt die endgültige Trennung seines Sohns von Eurydike, nimmt ihn dafür in den Götterhimmel auf, „wo er in der Sonne und in den Sternen eine ihr gleichende Schönheit erblicken wird“. Soll damit ein Bezug zum christlichen „im Himmel wird nicht mehr geheiratet“ (Matthäus 22,30) hergestellt werden? Nach einer anderen Version werden Orpheus und Eurydike gemeinsam zu Sternenbildern erhoben. Also doch auch bei Monteverdi kein tragisches Ende!
Auf dem Weg zur Oper bekommen wir das bunte Treiben der Pride Parade mit. Wir beobachten eine ausgelassene und fröhliche Stimmung. Die Stufen zur Galerie der Staatsoper erklommen begrüßt uns dort ein musizierendes Bläserensemble mit Trommler. In Zirkusmanier wird über Lautsprecher der baldige Beginn der Vorstellung angekündigt. Der Vorhang ist offen. Im Hintergrund der Bühne spiegelt sich der Publikumssaal mit den ihre Plätze aufsuchenden Gästen. Eine eher schon konventionelle Idee. Die Bühne selbst lässt ein fröhliches Fest in der Natur erwarten. Mehr oder weniger gut deutbar und bunt verkleidete „Hirten“ sind auch im Parkett wahrzunehmen. (Inszenierung Tom Morris, Bühne und Kostüme Anna Fleischle).
Das Gastorchester Concentus Musicus Wien unter der Leitung von Pablo Heras-Casado beginnt nach Abdunkelung des Saals zu spielen. Die Musik in Person (Kate Lindsey) tritt auf. Sie erzählt uns von der Macht der Musik und was sie alles bewirken kann. Monteverdis Musik und ihre Stimme bringen uns das sehr nahe.
Das Fest beginnt. Orpheus (Georg Nigl) erscheint mit Eurydike (Slávka Zámečníková). Als elegischer Sänger, der Steine zu erweichen vermochte, wird er nun von den Nymphen und Hirten aufgefordert, ein Jubellied anzustimmen. Bei einem Orpheus sind unsere Erwartungen natürlich hoch. Wir kennen Georg Nigl bis jetzt nur als Orest in Manfred Trojahns gleichnamiger Oper. Wir rezensierten damals im „neuen Merker“: „Wir haben einen ausdrucksvoll Leidenden vor uns. Seine Gewissensbisse werden fast zum physischen Schmerz, so dass wir uns wundern, dass der Sänger überhaupt Worte hervorbringen kann.“ Vielleicht sind wir die geschmeidigen, samtenen Altstimmen aus Glucks „Orpheus und Eurydike“ so sehr gewöhnt, es mag auch sein, dass wir für einen Orpheus zu ideale Vorstellungen hatten, aber in uns erweckt sein Jubellied keine Empathie. Wieder werden es die tragischen Töne sein, wenn sein kurzes Glück zu Ende gegangen ist, die aufhorchen lassen. Die Romantik ist in unsrer Musikgeschichte nicht spurlos vorbeigegangen. Vom sechszehnten bis zum achtzehnten Jahrhundert haben wohl Verzierungen Begeisterungsstürme entfacht und sich das Publikum auf diese Weise einen orphischen Gesang vorgestellt.
Eurydike antwortet. Ein Edelsopran mit Leuchtkraft. Leider eine Nebenrolle, die während ihrer Abwesenheit von der Bühne nicht wirklich präsent bleibt. Salopp ausgedrückt ist sie wie in TV-Krimis großteils die Leiche vom Dienst.
Die Botin, ein dramatischer Mezzosopran (Christina Bock), verkündet die unglückselige Nachricht.
Der dritte Aufzug beginnt mit einer sehr eindrucksvollen Szene. Orpheus will mit der Hoffnung, Eurydike aus dem Schattenreich zu holen, selbst in die Unterwelt hinabsteigen. Wir sehen eine weißgekleidete, hoch aufgerichtete Frau (Kate Lindsey) vor unsrem Witwer schreiten. Ohne Worte, nur in Begleitung mit dem Concentus Musicus wird rein durch dieses Bild vermittelt, was Hoffnung für den Menschen bedeutet. Am Ufer des Gewässers, das ins Totenreich führt, steht das Gesetz in harten Stein gemeißelt: „Lasst alle Hoffnung zurück, die ihr hier eintretet.“ Die Göttin muss ihn also verlassen und verabschiedet sich mit den Worten: „Doch wenn du in deinem Herzen noch fest entschlossen bist, den Fuß in die Stadt der Schmerzen zu setzen, wende ich mich jetzt von dir.“
Orpheus hat keine Furcht vor der Hölle, „denn überall wo so große Schönheit weilt, ist das Paradies“. Er schmeichelt dem Fährmann Charon (Wolfgang Bankl, der mit der tiefen Tessitur hörbar Mühe hat) und tituliert ihn als Gott. Mitleid kann er durch seinen Gesang nicht erreichen, aber der Fährmann schläft ein und Orpheus setzt als erster Überlebender allein über.
Proserpina (von Kloibers „Handbuch der Oper“ als dramatischer Sopran geführt, wiederum Christina Bock) bittet ihren Gemahl Pluto für Eurydike. Der Gott der Unterwelt (Andrea Mastroni) zeigt sich mit Bassgewalt als wirklicher Gott. Aus Liebe zu seiner Frau lässt er unter den bekannten Bedingungen Gnade walten, aber seine Gemahlin muss auf ihre jährlichen Besuche in der Welt der Lebenden verzichten.
Orpheus quälen Zweifel, ob Eurydike wirklich nicht gehindert wird, ihm zu folgen. Er wendet sich ihr zu. Noch einmal dürfen wir kurz von ihrem Stimmenglanz bezaubert werden. Im fünften und letzten Akt hören wir Orpheus’ Verzweiflung, doch das Echo (Kate Lindsey) gibt zu seiner Enttäuschung von seinen langen Klagen bloß Wortfetzen zurück. Keine Frau wird ihm Eurydike jemals ersetzen können.
Sein Vater Apollo (Hiroshi Amako, Mitglied des Opernstudios) erscheint ihm zu Hilfe. Sein himmlischer Vater hält für seinen Sohn den Himmel offen. „So werde ich niemals mehr die geliebten Augen meiner Eurydike wieder sehen?“, fragt Orpheus und Apollo antwortet kryptisch: „In der Sonne und in den Sternen wirst du ihr schönes Ebenbild entdecken.“ Diese Szene hätten wir gern musikalisch packender erlebt und man sollte die Schlüsselpartie des Apollos einem schon erfahrenen Sänger anvertrauen. Die „schlafende“ Eurydike und Orpheus schweben in einer Art Holzgeflecht mit einem sternförmigen Umriss empor.
Nicht in der Vorbereitung auf den Abend, sondern erst „vor Ort“ fiel uns spontan ein, dass diese Apotheose eine Begünstigung gegenüber den Seelen im Schattenreich bedeutet. Die Logik der Handlung außeracht lassend merken wir in dieser Monteverdi-Oper im finalen Chor der Nymphen und Hirten (Chorakademie der Wiener Staatsoper) eine Verchristlichung des antiken Themas: „So erlangt der die Gnade des Himmels, der hier unten die Hölle erlebt hat.“
Lothar und Sylvia Schweitzer, 12. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Claudio Monteverdi, L’Orfeo Wiener Staatsoper, 11. Juni 2022 PREMIERE
Bluthaus, Friedrich Georg Haas, Claudio Monteverdi Cuvilliés-Theater, München, 21. Mai 2022