Die Stunde der Patrioten – oder: „Seid umschlungen, Millionen!“

Ludwig van Beethoven, Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125  Laeiszhalle, Hamburg, 1. Januar 2025

Laeiszhalle Hamburg © Thies Rätzke

Ludwig van Beethoven
Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125

Symphoniker Hamburg

Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg
Mitglieder der Europa Chor Akademie

Jacquelyn Wagner Sopran
Sophie Harmsen Mezzosopran
AJ Glueckert Tenor
Markus Eiche Bass

Dirigent Pablo González

Laeiszhalle, Hamburg, 1. Januar 2025


von Harald Nicolas Stazol 

…war schon immer meine Lieblingsstelle, bei Beethoven 9, und das geht auf das Konto von Schiller, Herr Intendant, in ihrer wundervollen Rede, „Beethoven schrieb es in einer Krise, Goethe schrieb es in einer Krise…“, jetzt krieg ich die Krise: Immer Ihrer wohltönenden Stimme andächtig lauschend – wir erinnern uns an den Argerich-Sommer – Ihrer ja unbestrittenen Expertise, allein das Grußwort wieder im Heftchen, nun, ich zweifle gerade an meiner Bildung. Das geschieht selten. Goethe, Goethe, Goethe, denke ich, aber sei’s  drum: „Freude schöner Götterfunken“,
Hamburg, Laeiszhalle, man feiert Neujahr, Glockenschlag 19 Uhr MEZ. Und es ist Schiller!

Und jetzt werde ich patriotisch. Dieser Neujahrsabend in der alten Dame unter alten Damen, feinen Herren, aber auch jungen Familien, oben im Brahms-Foyer Lächeln schon allerorten, hier Pailletten, dort ein wirklich schweres Goldarmband, Anzüge, Turnschuhe, und nun, vorne rechts im Parkett ein Mann, dem ich fast die Nummer meines Kieferorthopäden zustecken will – kurz: Es ist ein Traditions-Stelldichein, was ich spätestens bemerke, als man meinen Namen ruft, ach was, mein Bürgerschafts-Anwalt plus Mann ist auch da, heißa, jetzt geht’s los, denn schon schnürt der Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Chor Hamburg rechts und links der Bühne auf in Reih und Glied, sie werden noch essentiell und WIRKLICH PERFEKT sein, und natürlich folgen die Symphoniker Hamburg, und man kann unter dem Vorschussapplaus schon auch ein wenig Stolz sehen, und dann kommt der nun tatsächlich alle überragende Dirigent, Pablo González.

Ich wollte, ich hätte jetzt meine Patensöhne dabei, denn González ist gerade der Prototyp eines Dirigenten, will sagen, so stellt man sich einen Dirigenten vor, und dies würden auch meine Kinder begreifen. Ach, die Verve! Wie der lange Strackl im Frack sich vor und nieder, rechts und links, den Stab ebenso, mal im Ausfallschritt, mal sich am Geländer festhaltend, zunickend, anfeuernd, die Zügel anziehend, dann wieder allen Lauf lassend, vorstellt, mit beeindruckender Körpersprache, und einem Dauerlächeln dem Ganzen vorstehend – da sieht man, wie sehr es geht, und mit großer Freude sehe ich von den 1. Geigen bis zu den Cellisten und auch dem Schlagwerk soviel Lächeln und schiere Freude des Orchesters, nur Freude, „Oh, Freuhehehede“, Neujahrsfreude, und ein Lächeln auf den Gesichtern allenthalben, und allüberall.

pablogonzalez.eu (c) May Zircus

 „Ach, ich könnte es mitsingen!“ sagt eine Frau hinter mir, und ich drehe mich um, und sage, „jetzt bin ich aber gespannt!“ Nun lachen wir alle, aber schon im zweiten Satz, nochmal umgedreht, sehe ich sie nur hingerissen mit geschlossenen Augen.

Dem Beispiel leiste ich sogleich Folge, denn viel wallt da auf von mir, das gesamte letzte Jahr, habe ich mich doch in einer Neujahrsdepression hierhingeschleppt, und die ist ab dem ersten Takt hinweggefegt!

Patriotismus? Da entkomme ich seit 30 Jahren Wahlheimat den katholischen Grenzwerten Bayerns, und nun bin ich im befreienden Exil dem Diktat eines Söder entronnen, alles einerlei: „Wieviel Punkte von eins bis zehn geben Sie heute?“, fragt mich die Nicht-Sängerin – immer suche ich, das Rascheln meines Notizblockes zu vermeiden, und ich sage, „8,5“. Denn manchmal wackelt es doch ein wenig, kaum spürbar, und ich hoffe, mich der Geneigtheit der Direktion ob dieses Urteils dennoch noch versichern zu können.

 „Der 2. Satz flirrt“, notiere ich, „Faustschläge“, González, den es gleich aus dem Frack hebt, und: „agil und fragil“ lese ich, da meine ich wohl die Streicher.

Schlussendlich steht der ganze Saal, fünfmal werden Dirigent und Solisten wieder hervorgefleht – nun feiern wir, und in einer Hamburger Hermeneutik, uns selbst.

Eine aber strahlt über allen: Die Sopranistin Jacquelyn Wagner. Auf sie wird noch gesondert zu achten sein, das schwöre ich!

„Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein!“ – noch eine Lieblingsstelle.

Und nur nebenbei: Es war wirklich Schiller!

Harald Nicolas Stazol, 2. Januar 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

 

 

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