Foto: Liudmila Konovalova, Jakob Feyferlik
© Wiener Staatsoper / Ashley Taylor
Wiener Staatsoper, 21. Juni 2019
MacMillan | McGregor | Ashton
Ballett zur Musik von Dmitri Schostakowitsch, Steve Reich & Franz Liszt
Wiener Staatsballett
Valery Ovsyanikov, Dirigent
Igor Zapravdin und Shino Takizawa, Klavier
von Jürgen Pathy
Wäre nur jedes erste Mal derart erfüllend, es gäbe weniger gebrochene Herzen und mehr Liebe auf dieser Welt. Mit einem abwechslungsreichen Ballettabend, der nebenbei auch ein wenig von der Entwicklungsgeschichte des britischen Royal Ballet erzählt, wurde Freitagabend in der Wiener Staatsoper der Funke in mir entzündet, der zu einer großen Flamme werden könnte.
„Concerto“ von Sir Kenneth MacMillan, „Eden | Eden“ von Wayne McGregor und „Marguerite and Armand“ von Sir Frederick Ashton repräsentieren drei Generationen beeindruckender choreographischer Tradition und meinen ersten Besuch eines Balletts. Von Manuel Legris im Jahre 2017 in dieser Programmfolge aus dem Boden gestampft, erfüllt dieses Potpourri der sinnlichen Tanzkunst alle Anforderungen an ein berauschendes Erlebnis: „British Ballet at its best“, wie es auf der Homepage der Wiener Staatsoper heißt.
Unterschiedliche Tanzstile, vom abstrakten Ballett im neoklassischen Stil in „Concerto“ bis hin zu verspielter Romantik in „Marguerite and Armand“, werden hier zu einem ausfüllenden Abendprogramm verwoben.
Dazwischen eingebettet pocht das Spannungsverhältnis zwischen Mensch und Maschine, das Wayne McGregor, einer der zurzeit gefragtesten Choreographen, in „Eden | Eden“ thematisiert. Tänzerisch ein aktiver Vulkan, voller Eruptionen und rasanter Bewegungen. Beängstigend untermalt wird dieses moderne Kunstwerk, dessen Choreographie auf dem dritten Akt der Video-Oper „Three-Tales“ basiert, von der regelmäßig pulsierenden und vorwärtstreibenden Musik, die lautstark aus den Lautsprechern dröhnt.
Urheber Steve Reich, der als Pionier der Minimal Music gilt und 2009 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde, unterlegt seine Musik mit einem Gespräch der zwanzig weltweit führenden Wissenschaftler. Unter anderem ausgelöst durch die Debatte rund um Klonschaf Dolly diskutieren sie über die historischen, ethischen und religiösen Aspekte des Umgangs mit dem menschlichen Körper. Für Wayne McGregor fehlt in dieser Debatte jedoch eine wichtige Stimme: Die des Körpers selbst, die seine Komplexität, Anpassungsfähigkeit, Feinheit und Einzigartigkeit, vor allem aber sein Potenzial beschreibt.
Und dieser Stimme verschafft McGregor ein Gehör, das Authentischer kaum sein könnte. In Wien sind es die grazilen Körper des Wiener Staatsballetts, dessen Eleganz, Koordination und Ästhetik der puren Perfektion gleichen. Atemberaubende Geschöpfe, die im Laufe des Abends wie Gazellen durch die Luft gleiten, im Gleichschritt an eine perfekt abgestimmte Gardekompanie erinnern, oder sich verspielt romantisch aneinanderschmiegen.
Bei so viel Anmut gleicht es auch keiner Staatsaffäre, dass die tragisch, romantische Geschichte der Kameliendame in „Marguerite und Armand“ nicht allen im Publikum so nahe ans Herz zu gehen scheint, wie es der junge erste Solotänzer Jakob Feyferlik, 22, und seine Tanzpartnerin, die Primaballerina Liudmila Konovalova gerne hätten. Unruhe, aufkeimendes Husten und störende Gespräche bahnen sich ihren Weg durch die heiligen Hallen. Zu fordernd, zu langatmig scheint einigen Zuschauern gegen Ende hin dieses Werk, das Frederick Ashton 1963 dem großen Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn an den Leib schneiderte, und von Franz Liszts h-Moll Klaviersonate begleitet wird.
Zwar ist die Ruhe, diese knisternde Atmosphäre verschwunden, die sich zuvor noch eingestellt hat als alle im Saal zu einem großen Ganzen verschmolzen und gemeinsam atmeten. Außerdem hat sich dieser betörende Duft, den ein exquisit aufspielendes Wiener Staatsopernorchester unter der Leitung des Russen Valery Ovsyanikov verbreitete, wieder verflüchtigt. Ebenso die unsichtbaren Gurte, von denen das Publikum während der narkotischen Klänge des Andante des 2. Klavierkonzerts von Dmitri Schostakowitsch regelrecht in ihren Sitzen gefesselt wurde. Übrig geblieben ist nur noch das verführerische Damenparfum, das in regelmäßigen Abständen meine Nase sanft umgarnt und weiterhin in voller Pracht meine Sinne benebelt.
Dennoch wird in Summe klar ersichtlich, weshalb Staatsoperndirektor Dominique Meyer, 63, der das Haus mit Ende der Saison 2019/20 höchstwahrscheinlich in Richtung Mailänder Scala verlassen wird, seinem Ballettdirektor Manuel Legris, 54, regelmäßig Rosen streut. Eine Compagnie, die künstlerisch auf höchstem Niveau agiert, ein zum Bersten volles Haus garantiert und stets die Schatzkammern füllt, ist selbst an der traditionsreichen Wiener Staatsoper kein Selbstläufer.
Bleibt abzuwarten, ob man unter der neuen Patronanz ebenso – zumindest überwiegend – auf Wolke sieben durch das „Erste Haus am Ring“ schweben wird, und sich fühlen darf wie Gott in Frankreich.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 22. Juni 2019, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at