Zum Sterben schön: Anna Netrebko berührt als Manon mit innigen Gefühlen und großer Leidenschaft

Giacomo Puccini, Manon Lescaut  Wiener Staatsoper, 9. November 2023 

© Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Geld oder Liebe? In Puccinis melodramatischem Meisterwerk Manon Lescaut wird Anna Netrebko in der gleichnamigen Rolle genau vor diese Entscheidung gestellt. Entweder sie entscheidet sich für das Geld oder aber für die Liebe! Beides kann sie nicht haben.

Manon Lescaut
Musik von Giacomo Puccini

Inszenierung: Robert Carsen

Anna Netrebko, Davide Luciano, Joshua Guerrero, Evgeny Solodovnikov

Wiener Staatsoper, 9. November 2023 

von Nicole Hacke

In einer zeitgemäßen Inszenierung an der Wiener Staatsoper greift der Regisseur Robert Carsen dieses hochaktuelle Dilemma auf und katapultiert es in die konsumgeschwängerte Ellbogengesellschaft der Gegenwart.

In einer Shoppingmall, in der sich teure Boutiquen wie glänzende Perlen zu einer Kette aneinanderreihen, flaniert Manon von Schaufenster zu Schaufenster und bewundert die teure Couture-Ware in den Auslagen. Genau dort, an diesem höchst unromantischen Ort, trifft sie auf den mittellosen Studenten René Des Grieux.

Beide verlieben sich auf der Stelle ineinander. Doch die Liebe währt nicht lange, denn Manon giert nach Reichtum und einem unbekümmerten, sorgenfreien Leben in schwelgerischem Luxus. Magisch angezogen von den materiellen Reizen, lässt sich die junge Manon auf einen ungeliebten, aber wohlhabenden Mann ein. Doch so anziehend das Leben in Saus und Braus auf den ersten Blick erscheint, so langweilig plätschert es irgendwann im alltäglichen Rausch des Luxus zunehmend sinnentleerter vor sich hin. Manon vermisst die Liebe, die sie so leidenschaftlich mit Des Grieux vereint hat.

© Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Carsen versteht es, ein Gesellschaftsbild zu skizzieren, dessen Ideale auf Konsum, Status und sozialer Macht basieren. Dabei durchleuchtet er anschaulich die zwischenmenschlichen Verfehlungen, die Resultat fehlgeleiteter Wertevorstellungen sind und der Liebe somit eine untergeordnete Bedeutung beimessen. Sozialgesellschaftliche Ambitionen, immaterielles Glück, Tugenden und Werte verlieren ihre Daseinsberechtigung und rücken wie selbstverständlich ins Abseits.

Und Manon, die sich dem Strudel ihres permanenten Konflikts zwischen ihrer Lasterhaftigkeit und ihrer Tugend ausgesetzt weiß, verliert am Ende nicht nur ihren gesellschaftlichen Status. Sie verliert ihr Leben und damit die Liebe, ohne jemals Sinn und Glück erfahren zu haben.

Mit großen Gefühlen und einem ebenso gewaltigen Stimmpotenzial erlebt man Anna Netrebko in der Rolle der Manon.

Ambitus-reich, ausgewogen, dunkelsamtig timbriert und von betörend kristallklarer Höhe singt sich Anna Netrebko in einen nahezu opiatischen Rausch, so unangestrengt und mit einer strahlkräftigen Leichtigkeit in der Stimme, dass einem ganz anders wird. Ihrer Stimme zu lauschen, kommt einem Sog gleich, in den man willenlos reingezogen wird und aus dem man sich kaum wieder befreien kann. Ist es hypnotisch oder fängt man an, mit Anna Netrebko in andere Sphären zu transzendieren?
Diese Stimme kennt scheinbar keine Grenzen, ist biegsam, weich, warmgolden und braucht auch keinerlei Ansatz, um unangestrengt in die exponierten Höhen zu gelangen.

Und was für Pianissimi, die so zart, zerbrechlich und zugleich irisierend schöne Klangfarben produzieren, dass der Gänsehautmoment einfach nicht ausbleiben kann. Anna Netrebko berührt zutiefst und transportiert über die Stimme ein Bouquet intensiver Gefühle, in denen Leidenschaft, Verzweiflung, Zerrissenheit, Resignation und auch Liebe überzeugend mitschwingen.
Diese Stimme ist einfach wie ein Brillant ohne Einschlüsse – „flawless“!

© Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Schade nur, dass die schauspielerischen Qualitäten dabei etwas zu kurz kommen. Nicht wirklich überzeugen kann die Liebesszene im 2. Akt. Was da hätte alles auf dem Sofa passieren können, vor allem, wenn man mit so inbrünstiger Leidenschaft singt, aber dabei vergisst, die Rolle auch damit auszukleiden. Ein wenig steif, ungelenk und holprig wirkt dieses eher verklemmte “Tête-à-Tête“ zwischen Manon und Des Grieux, das keine emotionalen Aggregatzustände zulässt, ganz zu schweigen von einer hochexplosiven Leidenschaft. Das ist leider keine „Amour fou“ wie sie im Bilderbuche steht.

Aber wer weiß, vielleicht liegt es auch an der Chemie zwischen Anna Netrebko und Joshua Guerrero, der den Part des René Des Grieux bekleidet.
Ein tenoraler Rohdiamant, so könnte man die Stimme des Amerikaners bezeichnen, die relativ ungeschliffen anmutet. Zu undifferenziert, in allen dynamischen Belangen gleich laut und mit einem strapaziösen Vibrato gesegnet, dass man alle Mühe hat, dem Gesang, insbesondere im 1. Akt, zu folgen. Emotionale Temperaturen schwingen in dieser Stimme leider nicht mit.

Während Anna Netrebko noch im finalen Akt gesanglich alles aus sich herausholt, die Grenzen der kontrollierten Ekstase fast schon überschreitet, hält sich Joshua Guerrero vorsichtig hinter genau dieser Grenzlinie in sicherer Entfernung auf. Dahinter hervorlocken scheint man ihn an diesem Abend jedenfalls nicht zu können. Ein bisschen mehr Dynamik, eine mittelgroße Prise Leidenschaft und ein sich Versenken in die Rolle hätten dem Charakter des René Des Grieux bereits deutlich mehr Farbe und Kontur verliehen.

© Michael Pöhn, Wiener Staatsoper

Umso mehr Kontur schält sich aus der Stimme des Baritons Davide Luciano heraus. Mit dunkelsamtener Stimme überzeugt der Bruder Manons auch auf schauspielerischem Terrain. Nicht wirklich fies, tendenziell schauspielerisch lauwarm erlebt man die Interpretation der Figur Geronte di Ravoir, obgleich Evgeny Solodovnikov einen profunden Bass mit düster und schön bedrohlich klingendem Timbre hat.

Orchestral schafft es der Dirigent Jader Bignamini in die opulente Klangwelt des „Romantik-Thrillers“ einzutauchen. Süffige Harmonien, wogende Klangwellen: Puccinis Meisterwerk ist tonale Dichtkunst und durchkomponierter Orgasmus zugleich. Diese Musik schwappt über alle Grenzen emotionaler Temperaturen. Sie ist ein wunderbar explosives Klangerlebnis, in dem man sich hemmungslos auflösen will.

Nicole Hacke (operaversum.de), 9. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

ANNA NETREBKO & YUSIF EYVAZOV von Verdi bis Puccini Elbphilharmonie, 7. September 2022

Manon Lescaut – Oper von Giacomo Puccini, Sonya Yoncheva (Sopran) Staatsoper Hamburg, 12. September 2021

Giacomo Puccini, Manon Lescaut, Staatsoper Hamburg

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