Marko Letonja, Generalmusikdirektior Bremer Philharmoniker © Caspar Sessler
3. Philharmonisches Konzert „Geburtstagskinder on Stage“
Programm:
Charles Ives Two Contemplations: The Unanswered Question, Central Park in the Dark
Béla Bartók Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta
Johannes Brahms Klavierquartett g-Moll op.25 für großes Orchester gesetzt von Arnold Schönberg
Marko Letonja Dirigent
Die Bremer Philharmoniker
Bremer Konzerthaus Die Glocke, Großer Saal, 18. November 2024
von Dr. Gerd Klingeberg
Ives’sche „Contemplation“
Die Bögen der Streichinstrumente bewegen sich in Zeitlupentempo, formen seidenzarte Harmonien, die wie schwerelos schwebende Schleier den Raum füllen. Die Trompete stört die Idylle mit einem kurzen fragenden Motiv, anfangs noch zurückhaltend, dann eindringlicher. Die Antwort der Holzbläser erfolgt prompt, dissonant, zunehmend aufwühlend krass. Und bleibt dennoch unbefriedigend – bis sie bei der siebten „Frage“ sogar gänzlich ausbleibt.
Die feinfühlige Darbietung durch die Bremer Philharmoniker lässt bereits vom ersten, angenehm unaufdringlich erstellten Akkord an aufhorchen. Das regt zum Sinnieren an, lässt Bilder entstehen, auch wenn in Charles Ives’ Komposition weder die Frage konkretisiert noch eine klare Antwort gegeben wird. Wie gut; denn würde Letzteres geschehen, hätte die musikalische Episode wohl ihren Titel samt Daseinsberechtigung verwirkt…
Nicht minder gefühlvoll gestaltet das Orchester unter dem Dirigat von Marko Letonja auch die zweite „Contemplation“. Auch hier wieder ein Einstieg mit sanft melangierenden, mitunter kaum genauer zu definierenden, dennoch harmonisch anmutenden Akkorden: Der große Central Park in nächtlicher Ruhe. Dann, von irgendwo aus der Ferne her, Autogeräusche, kurze Melodiefetzen, Jazzmusik, kakofonischer Trubel. Unwillkürlich schließt man die Augen, beobachtet spannungsintensive plastische Alltags-, besser: Allnachtsszenerien, wie sie in nahezu jedem urbanen Umfeld erlebbar wären. Aber das, was man gemeinhin als störend und lärmend ausblendet, nimmt man jetzt, in musikalischer Form, mit geschärften Sinnen wahr.
Völlig unbeeindruckt von allem Großstadtgewusel bewegen sich die Bögen der Streicher weiterhin mit äußerster Langsamkeit, vermitteln Balsam für gestresste Großstädter-Ohren mit ungewohnten, und doch unmittelbar eingängigen Klängen. Ein Hörerlebnis der ganz besonderen Art!
Ausgeprägte Kontraste bei Bartók
Der Kopfsatz von Bartóks „Musik für Saiteninstrumente“ startet ebenfalls verhalten ruhevoll. Doch die fugenartigen Motive der in zwei Klangkörper aufgeteilten Streicher bauen sich nach und nach auf zu komplexen, substanzdichten Strukturen. Orchestrale Sorgfalt vermittelt dabei größtmögliche Transparenz, wenngleich das analytisch hörende Ohr mitunter an seine Grenzen zu kommen scheint. Hart kontrastiert dazu der energisch angegangene 2. Satz Allegro, imponiert ganz besonders mit einem mitreißenden Schlusspart.
Dass der Folgesatz bereits als Filmmusik verwendet wurde („Shining“ von Stanley Kubrick), verwundert nicht; auch ohne dessen Inhalt zu kennen, lässt das nuancierte Spiel der Philharmoniker bei dieser Bartók’schen „Nachtmusik“ eine hochgradig spannungsgeladene, geradezu unheimliche Atmosphäre entstehen. Getoppt wird das Ganze durch den ungestüm drängenden, von tänzerischer Ausgelassenheit und ungezügelter Wildheit durchdrungenen Finalsatz, der lediglich im Mittelteil eine kurze Atempause zulässt.
Dann drückt Letonja, der bei aller Turbulenz niemals die Übersicht verliert, noch einmal gehörig aufs Tempo. Und die Musiker gehen samt und sonders engagiert, energiestrotzend und mit unbeirrter Vehemenz mit bei dieser Parforcejagd durch ruppiges Gelände. Entsprechend frenetisch applaudiert das enthusiasmierte Publikum.
Brahms’ Quartett in opulenter Orchesterfassung
Nachdem der große Dirigent Otto Klemperer anno 1938 die Uraufführung des Klavierquartetts op. 25 von Johannes Brahms in Arnold Schönbergs Orchesterbearbeitung dirigiert hatte, äußerte er sich: „Man mag das Originalquartett gar nicht mehr hören, so schön klingt die Bearbeitung.“
Diese Meinung muss man nicht zwingend teilen, schon gar nicht, wenn man das kammermusikalische Original erst kürzlich mit einer exzellenten Besetzung erleben konnte und sie quasi noch im Ohr hat. Da wirkt die Fassung mit großem Orchester streckenweise arg bombastisch und überdimensioniert, wie ein Blick durch eine stark vergrößernde Lupe. Oder wie die Übertragung einer fein ziselierten Miniatur in ein opulentfarbenes Ölgemälde. Von daher gesehen erscheint ein direkter Vergleich beider Versionen per se eher fragwürdig.
Ungeachtet dessen überzeugt die von den Bremer Philharmonikern dargebotene Orchesterversion durchgängig mit höchster Klangfarbenvielfalt, hoher dynamischer Bandbreite und prägnanter, auf unbedingte Detailtreue bedachter Herausarbeitung auch kleinstformatiger Strukturen. Der 3. Satz Adagio mag eher extrovertiert als besinnlich anmuten, aber der wunderschöne Schlusspart wirkt beinahe so innig, als würde er von einem Quartett gespielt.
Zum Clou mit Ohrwurmpotenzial wird erwartungsgemäß der „alla-zingarese“-Finalsatz. Da dürfen die spiellaunigen Orchestranten noch einmal in die Vollen gehen. Und das tun sie. Steigern unter Letonjas animierenden Dirigat das Presto zum mitreißenden Prestissimo und liefern einen rasanten Kehraus der Extraklasse, ohne dass dabei jemals die Gefahr bestünde, aus der Kurve zu fliegen.
Da muss man ehrlicherweise zugeben, dass ein derart effektvolles Ende bei der Quartett-Originalfassung auch bei intensivstem Einsatz nicht zu erzielen ist.
Ein packender, ein grandioser Abschluss, der vom begeisterten Publikum mit tosendem Beifall und Fußgetrampel gefeiert wird.
Dr. Gerd Klingeberg, 19. November 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Daniel Hope & AIR Ensemble Bremer Konzerthaus Die Glocke, 5. November 2024