Fotos: H. Voigt / D. Dittus ©
Martha Argerich Festival Konzert „Der Pavillon der Pfingstrosen“
Veranstalter: Symphoniker Hamburg, Intendant: Daniel Kühnel
Laeiszhalle, Hamburg, 27. Juni 2019
von Dr. Holger Voigt
Im Rückblick auf das diesjährige – enthusiastisch gefeierte – Martha Argerich Festival in Hamburg sollte nicht übersehen werden, wie weit gefächert die zahlreichen Programmbeiträge der einzelnen Konzerte waren. Eben dieses macht ganz wesentlich den besonderen Reiz dieser Veranstaltungsreihe aus: Musik in grenzenauflösender Vielfalt.
Wohl eines der interessantesten Konzerte im Rahmen des Festivals, das am 30. Juni zu Ende ging, war das Konzert „Der Pavillon der Pfingstrosen“ („The Peony Pavilion“)am 27. Juni 2019. Leider war es nicht so gut besucht wie die anderen Konzerte während der zehn begeisternden Festivaltage, was eigentlich nur an einer unsichtbaren Berührungsscheu mit der fernöstlichen Kultur der chinesischen Oper liegen kann.
Gerade deshalb war es aber genauso wichtig wie herausfordernd, ein solches Konzert in das Festival einzubinden, um im Rahmen einer verbindenden, grenzüberschreitenden Musikalität Brücken zu schlagen und den Blick für die Schönheit einer fremdartigen musikalischen Traditionskultur zu öffnen. Erwartungsgemäß wurde das Konzert von zahlreichen chinesischen bzw. asiatischen Musikliebhabern der in Hamburg ansässigen fernöstlichen Gemeinde besucht.
Für mich war dieses Konzert einer der stillen Höhepunkte des diesjährigen Festivals, und ich bedauere sehr, dass nicht mehr Zuhörer den Weg in die Laeiszhalle gefunden hatten. Der sehr schöne, nachdenklich stimmende Abend zeigte, wie sehr doch die westliche Kulturwelt auf sich selbst zentriert ist, was man umgekehrt eher nicht behaupten könnte.
Dieses gilt umso mehr, als mit Zhang Jun, darstellender Künstler (Schauspiel, Gesang) und Meister der Kunqu-Oper sowie Gründer des Shanghai Zhang Jun Kunqu Art Centers, ein Künstler auftrat, der nahezu alles dafür tut, die beiden kulturellen Universen einander näher zu bringen. Für seine Verdienste wurde er 2011 mit dem UNESCO Artist for Peace Award ausgezeichnet. Im Rahmen der Städtepartnerschaft Hamburg – Shanghai war er bereits 2010 in der Hansestadt sowie 2018 auch in Berlin aufgetreten, stets in derselben Mission: Öffnung der Kulturen. Er und sein hier auftretendes Ensemble – Lee Hsiao-Pin, Hsu Po-Yun, Mao Yulong, Lu Xiaozi, Cai Zhihao– waren Überbringer dieser musikalischen Botschaft aus dem Reich der Mitte („Zhong Guo“).
Westliche und fernöstliche Welt bedienen sich in der darstellenden Kunst, – ob Schauspiel, Oper oder Musik – ganz ähnlicher literarischer Sujets, deren künstlerische Expression durch Geschichte und Tradition zu eigenen Ausgestaltungsformen gefunden hat.
Gleichwohl befassen sich beide Welten mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz und kommen dabei durchaus zu ähnlichen Einsichten. Letztlich geht es um die Kernthemen Leben, Liebe und Tod in ihrer realen und transzendierenden Wahrnehmung. Davon leben – auch und besonders in der westlichen Welt – Oper, Symphonik, Schauspiel, Literatur, Malerei, kurz: alle Kunstformen in universeller und damit globaler Weise. Es handelt sich schließlich um das, was unser aller Dasein ausmacht. Künstlerische Expression ist somit Merkmal und Bedürfnis menschlicher Existenz in allen Kulturen.
Um hierfür das „reinste“ Format einer Sichtbarmachung auf die Bühne zu bringen, gingen die Programmgestalter bis in das 16. Jahrhundert zurück. Die Wahl fiel auf Shakespeares „Romeo und Julia“und Tang Xianzus Dichtung „Pavillon der Pfingstrosen“. Für beide Anteile wurden musikalische Kompositionen als Grundlage herangezogen: Für den westlichen Teil war dieses Prokofjews „Romeo und Julia-Suite, op. 64“, deren Teile in einzelnen musikalischen Motivszenen mit Auszügen aus der mächtigen Kunqu-Oper „Der Pavillon der Pfingstrosen“ gespiegelt wurden (fernöstlicher Teil).
Die ausgewählten Szenen wurden geradezu „responsiv“ miteinander verknüpft und ergaben dabei eine umfassende Einsicht auf das zugrundeliegende Sujet – das Thema „Liebe“, nunmehr Hand in Hand aus beiden Kulturen („Die Suche“, „Die Begegnung“, „Liebeskummer“, „Keine Reue“). Dabei findet das Grundthema „Liebe“ in beiden Kulturen gleichsinnigen Ausdruck: Die Sprache der Liebe klingt – wo immer sie gesprochen wird – musikalisch. Sie ist anmutig lyrisch in all ihrem Ausdruck, was an diesem Abend hinreißend schön von Martha Argerichs Spiel unter Beweis gestellt wurde. Sie im Zusammenklang mit Sergei Babayan brauchten nur einige leise Melodien, um alles zu sagen.
Dabei bleibt die Musik selbst davon unbeeindruckt, ob die Liebe ein fatales Ende findet (Romeo und Julia) oder Ausdruck eines metaphysischen Happy Ends ist (Pavillon der Pfingstosen). In beiden Kulturen lautet die Erkenntnis schlussendlich, dass selbst der Tod die Liebenden nicht zu trennen vermag: „Selbst der Tod wird uns nicht entzweien“.
Und damit sind wir wieder in der westlichen Welt: Nahezu die ganze Opernliteratur befasst sich letztlich mit dieser Kernbotschaft; als Beispiel sei genannt: Erich Wolfgang Korngolds „Die Tote Stadt“: „…Sterben trennt uns nicht“… (Mariettas Lied). Am Ende vereinen sich in dieser Schlüsselbotschaft West und Ost und scheinen gar nicht so sehr auseinander zu liegen.
Im „Pavillon der Pfingstrosen“ geht es um Du Liniang, eine bildschöne junge Frau, die nur im Traum mit ihrem unsterblichen Geliebten Liu Mengmei vereint ist, den sie im wahren Leben nie treffen wird. In unerfüllter Liebe stirbt sie, doch wegen ihrer Schönheit und der Kraft ihrer Liebe wird ihr die Möglichkeit gegeben, weiter nach ihrem Geliebten zu suchen. Sie finden sich tatsächlich und werden durch die Kraft der Liebe vereint, und Du Liniang wird sogar den Lebenden zurückgegeben. Wer denkt da nicht an die wohl eher westliche Geschichte von „Orphée et Eurydice“? Der Tod zeigt sich nicht als Ende, sondern als transzendierter Lebensraum. Diesseits und Jenseits sind im Tod vereint. Seine Allmacht ist aber gebrochen.
Für den Teil der westlichen Welt wurde für Sergej Prokofjews Komposition auf ein Arrangement von Sergei Babayan zurückgegriffen, einem in Armenien geborenen und später in die USA immigrierten Pianisten und Begründer der Sergei Babayan International Piano Academy in Cleveland, Ohio. Seine Bearbeitung trug er hier gemeinsam mit Martha Argerich an zwei Klavierflügeln vor.
Auf der anderen Seite – der fernöstlichen – beruhte die künstlerische Präsentation ganz wesentlich auf der (beeindruckenden) stimmlichen und darstellerischen Ausdruckskraft von Zhang Jun selbst, der von nur wenigen traditionellen chinesischen Instrumenten begleitet wurde: Chinesische Flöten/Langflöte Xiao, Chi bzw. Dongdi sowie ein Chinese Guqin, ein Zupfinstrument, das Ähnlichkeit mit einer Zither aufweist.
Ausdruck, Phrasierung und Stimmführung der Stimme Zhang Juns sind sehr schwer zu kategorisieren, da sie dem traditionellen Bildduktus chinesischer Schriftzeichen entnommen sind: Bilder (Schriftzeichen) erzählen die Gesichte; der Sänger trägt diese vor und erläutert oder kommentiert sie. In diesem Sinne gibt es kein Primat einer Melodie oder eines Gesangthemas. Stattdessen entsteht der Eindruck eines gedichthaften monologisierten Sprechtheaters mit dynamischen Zuspitzungen.
Dort, wo tatsächlich motivhafte melodische Fragmente erkennbar waren, überzeugte, ja beeindruckte Zhang Jun mit präsenter Durchdringungskraft, wobei seine Stimmregisterlage an die eines Counter-Tenors erinnerte.
Nicht zuletzt darf man aber auch die darstellerische Komponente nicht vergessen, die strengen, choreografischen Bewegungsmustern folgt, gleichwohl dabei aber frei und spontan aussieht. Bewegungsdisziplin als darstellerisches Mittel und Prinzip (wir kennen Ähnliches z.B. von Tai Chi).
Szenisch war die Bühne auf ein Minimum reduziert: Sie umfasste zwei mittig platzierte Klavierflügel sowie zwei thronähnliche Stuhlsessel zur linken und rechten vorderen Bühnenseite, wobei (die hier einmal nicht vortragende) Martha Argerich auf dem am Bühnenrand links stehenden Platz nahm, während der fernöstliche Protagonist (Zhang Jun) seinen gesanglichen und darstellerischen Part rechtsseitig im Stehen vortrug.
Im Zusammenwirken aller entstand eine vereinende Grundspannung, die mehr war als die Summe ihrer Einzelteile. Das Publikum war gefesselt durch die Eindringlichkeit der Vorträge aller Beteiligten, allen voran von Zhang Jun, dessen Leistung mit riesigem Beifall und sogar stehenden Ovationen bedacht wurde. Ganz hervorragend aber auch die Begleitmusiker.
Der Schluss ist in West und Ost versöhnlich: Liebe klingt in allen Sprachen gleich, denn sie ist die Musik des Herzens. Wieder einmal zeigte sich, dass Musik entwicklungsgeschichtlich der Wortsprache voranging. So ist dieser Konzertabend ein eindrucksvolles Beispiel genau dafür, nämlich ein Beleg für die Universalität von Musik und Ausdruck. Und dabei sind sich West und Ost offenbar gar nicht so fremd.
Großer Beifall und stehende Ovationen für alle, insbesondere für Zhang Jun, Begeisterung und Ergriffenheit unter vielen Besuchern. Eine wunderbare Erfahrung – eine Aufführung, die ich gerne noch einmal sehen würde.
Dr. Holger Voigt, 4. Juli 2019, für
klassik-begeistert.de
Zhang Jun & Company, Tanzensemble
Lee Hsiao-Pin, Hsu Po-Yun, Mao Yulong, Lu Xiaozi, Cai Zhihao
Martha Argerich, Klavier
Sergei Babayan, Klavier
Tang Xianzu: „Der Pavillon der Pfingstrosen“
Sergej Prokofjew: Suite aus “Romeo und Julia“ op. 64 (Arrangement von Sergei Babayan)