Bild: Tizian, Himmlische und irdische Liebe (1514, Öl auf Leinwand,
118 x 279 cm, das Original befindet sich in der Galleria Borghese in Rom)
von Ralf Wegner
Wagners Oper fußt auf vier Säulen, den historischen Persönlichkeiten Tannhäuser und der Heiligen Elisabeth sowie zwei Legenden, der Hörselbergsage und dem Sängerkrieg auf der Wartburg. Von Tannhäuser (1230 bis nach 1265), einem mittelalterlichen Minnesänger, ist abenteuerliches, erotisches und bußfertiges Liedgut überliefert. Elisabeth (1207-1231), eine nach Thüringen verheiratete ungarische Königstochter, wurde wegen ihres Armutsgelübdes und ihrer Armenfürsorge 1235 heiliggesprochen.
Die Hörselbergsage hat ihren konkreten Ort, den nahe dem thüringischen Eisenach gelegenen Hörselberg und seine Muschelkalkhöhle. Der Legende nach ging die germanische Göttin Hulda mit ihrem Kriegerheer in stürmischen Nächten von hier aus auf Jagd. Nach der Christianisierung wurde Hulda zur Venus umgedichtet, die ehrbare Ritter zur irdischen Liebe verführt haben soll (Quelle: Hörselberggemeinde e.V.). Einen Sängerkrieg oder Sängerwettstreit, wie Wagner ihn in seiner Oper schildert, gab es nicht. Vielmehr handelt es sich bei dem sogenannten Sängerkrieg um eine Sammlung von mittelhochdeutschen Gedichten, die später historischen Personen wie Wolfram von Eschenbach oder Walther von der Vogelweide zugeordnet wurden. Bereits Mitte des 15. Jahrhunderts verwob sich das Leben des Minnesängers Tannhäuser mit der Venusbergsage und einer Bußfahrt nach Rom. Aber erst Richard Wagner ergänzte diese Legende um den Sängerkrieg und den Stoff der Heiligen Elisabeth.
Im Mittelpunkt von Wagners Oper steht der Dualismus zwischen himmlischer und irdischer Liebe, wie er in der Kunst häufiger thematisiert wurde, zum Beispiel in einem Gemälde Tizians aus dem Jahre 1514. Der Stoff ist aber eigentlich noch viel älter. Erwähnt sei Odysseus, der Circe auf seiner Rückfahrt von Troja erliegt. Wagner beschränkte sich bei seinem Tannhäuserstoff allerdings nicht auf die Beschreibung des Dualismus, er brach ihn vielmehr auf. Tannhäuser macht den Konflikt öffentlich, nicht als Faktum, sondern als erstrebenswertes Ziel und gefährdet damit die gesellschaftliche Ordnung. Ähnlich erging es 1863 noch dem Maler Edouard Manet, dessen Gemälde Le Déjeuner sur l’herbe beim Publikum Empörung hervorrief. Nicht wegen der Nacktheit an sich, denn männliche und weibliche Akte wurden durchaus goutiert, sofern sie einen mythologischen Hintergrund aufwiesen. Skandalisiert wurde vielmehr die konkrete Darstellung des Geschlechtlichen im bürgerlichen Gewande.
Auch heute sind wir davor nicht gefeit. In der Hamburger Kunsthalle wurde vor kurzem Makarts Monumentalgemälde Der Einzug Karls V. in Antwerpen wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Wegen der den Kaiser begleitenden nackten Ehrenjungfrauen nicht ohne vorauseilende Entschuldigung ob des sexistischen Inhalts dieses Gemäldes. Erinnert das nicht an die Empörung auf der Wartburg nach Tannhäusers öffentlichem Bekenntnis zur sexuellen Freizügigkeit? Feuerbachs im selben Saal der Hamburger Kunsthalle ausgestelltes Breitwandgemälde Urteil des Paris hat diese öffentliche Erregung übrigens nicht ausgelöst, denn die Darstellung bleibt rein mythologisch.
Meinen ersten Tannhäuser hörte ich 1969 an der Deutschen Oper in Berlin. Hans Beirer stemmte sich mit großer, raumfüllender, aber bereits tremolierender Stimme durch die Partie des Tannhäuser. Eine gute Erinnerung habe ich daran nicht, nur Martti Talvela blieb als Landgraf haften, ebenso Hildegard Hillebrecht als Elisabeth. Ganz im Vordergrund standen natürlich das Orchester unter der Leitung von Eugen Jochum und die großartigen Chöre der Deutschen Oper (Walter Hagen-Groll).
1971 war der von vielen hochgelobte Ernst Kozub in Hamburg als Tannhäuser besetzt, ich erinnere mich eigentlich eher an seine stets etwas steife Darstellung, im Gegensatz zu Franz Crass als Landgraf, Tom Krause als Wolfram oder der großartigen, mir noch aus München bekannten Claire Watson als Elisabeth. Venus war Mignon Dunn.
1990 premierte die noch jetzt gespielte, zumindest noch nicht abgesetzte Inszenierung von Harry Kupfer mit dem Bühnenbild von Hans Schavernoch. Diese sah ich seitdem häufiger, zumeist unter dem Dirigat von Gerd Albrecht, später auch von Peter Schneider oder Simone Young. Schavernoch schuf ein hohes schwarzes, wie die Deckel eines hochkant stehenden, aufgeklappten Buches wirkendes Bühnenbild, welches zunächst die orgiastische Venushöhle zeigte. Bei der Verwandlung zur grünen Aue wurden die Flügel zusammengeklappt, der Venusberg verschwand. Im zweiten Aufzug zeigte der weggeklappte Seitenflügel eine Spiegelwand, welche die Anzahl der Gäste beim Einzug in die tribünenartig gestaffelte Halle optisch verdoppelte. Im dritten Aufzug öffnet sich der Flügel mit dem Venusberg erneut und gab Wolfram die Gelegenheit, sich gegen die hohe Wand und damit gegen seine eigene Begierde zu stemmen.
Besonderes Merkmal der Kupferschen Inszenierung war der Einsatz eines Tannhäuser-Doubles, der langsam die Kante des Venusbergflügels erklomm und sich dann aus ca. 6 m Höhe in die Tiefe stürzte. Über zwei Jahrzehnte oblag diese Aufgabe dem Stuntman Fred Braeutigam, zuletzt wurde sein Sohn Tim Braeutigam mit diesem Part betraut. Auch beeindruckte der Schluss der Oper Tannhäuser, als Papst und Kardinäle in vollem Ornat auf der Bühne erschienen, um Tannhäuser den ergrünten Stab zu präsentieren.
1994-1996 sang Günter Neumann den Tannhäuser. Er überzeugte mit einer überragenden, intensiven sängerischen Darstellung der gequälten Seele des Minnesängers. Auf John Treleaven (2002, 2007) war ebenfalls Verlass, Stephen Gould gab 2007 eine ausgezeichnete Vorstellung. Mir gefiel auch der eher italienisch geschulte Tannhäuser von Franco Farina (2012), während Lance Ryan (2014) mit enger nasaler, erst sich mit der Romerzählung steigernder Stimme weitgehend unterging. Hinzu kam ein peinliches Spiel, welches mir bei vorherigen Aufführungen nicht aufgefallen war: Der Sänger kauerte sich im Singepodest ob der erwarteten Angriffe seiner Sangesbrüder wie ein begossener Pudel auf den Boden und hob schützend die Hände über den Kopf. Der Tannhäuser, den ich kannte, beachtete solche Angriffe nicht, vielmehr knickte er vor Elisabeth ein, die ihn derweil wie eine Löwin verteidigte. 2019 hörte ich zuletzt Peter Seiffert (in Berlin) als stimmmächtigen Tannhäuser.
Neben der bereits erwähnten, klaren, tragfähigen, silbern schimmernden Stimme von Claire Watson sangen Linda Plech (1993-1995) und Barbara Havemann (2007) die Elisabeth herausragend, ebenso wie Angela Denoke (2012) die Doppelrolle Venus/Elisabeth. Bei der letzten Aufführung in Berlin (2019) stand Emma Bells sängerische Interpretation ganz im Zentrum der Aufführung. Ihr goldgelb glänzender, strahlkräftiger und in der exponierten Höhe aufleuchtender Sopran passte sowohl zur stimmlich tiefer liegenden Venus als auch zu den mehr lyrischen Partien der Elisabeth. Zwischen 1993 und 1996 wurde die Venus in Hamburg von Livia Budai zu einem konstanten Ereignis, auch Yvonne Naef (2002) reichte mit ihrer Leistung an sie heran.
Den schönsten und auch differenziertesten Part schuf Wagner für Wolfram von Eschenbach, den engen Freund Tannhäusers, der wohl auch Elisabeth still verehrt, sich im Laufe der Oper aber seiner himmlischen Liebe nicht mehr ganz sicher ist. Jedenfalls nähert er sich gefährlich dem Venusberg. Wagner hat ihm mit dem Lied an den Abendstern eine der schönsten Baritonarien überhaupt auf die Stimmbänder geschrieben. 1993 bis 1996 sang Andreas Schmidt einen begeisterungswürdigen Wolfram, 2007 taten es ihm Michael Volle und der 2019 im Alter von 45 Jahren viel zu früh verstorbene Jan Buchwald gleich. Mich beeindruckte auch Lauri Vasar als Wolfram (2012, 2014), während Simon Keenlyside 2019 mit aufgeraut wirkender Stimme keinen guten Tag hatte.
Die kurze Partie des jungen Hirten war überwiegend sehr gut besetzt, ich nenne nur stellvertretend für andere die jetzt viel gelobten Sopranistinnen Olga Peretyatko und Christiane Karg, die 2007 als Mitglieder des Hamburger Opernstudios mit dieser Rolle betraut worden waren.
Der 1956 geborene Tenor Clemens Bieber klang 2019 in Berlin schönstimmig und sang mit hoher Legatokultur das Preislied des Walter von der Vogelweide. Nach meinen Unterlagen hatte er diese Partie bereits 1994 in Hamburg gesungen. Auch Christoph Genz (2002) und vor allem Markus Petsch (2007) stachen stimmlich aus der Riege der Preissänger hervor. In Erinnerung blieb auch Peter Galliard (1993-2007) mit einer extrovertiert-narzisstischen Interpretation dieses berühmten hochmittelalterlichen Lyrikers.
Als Biterolf verdient der Bass Alexander Tsymbalyuk Erwähnung, gut sangen auch Andreas Hörl und Seth Carico. Bleibt noch die wichtige Partie des Landgrafen. Neben den bereits angeführten Bässen Martti Talvela und Franz Crass hörte ich Herausragendes von Jan-Hendrik Rootering (1995), Hans-Peter König (2007) und Georg Zeppenfeld (2012). Albert Pesendorfer hatte bei der zuletzt von mir gehört und gesehen Tannhäuser-Aufführung keinen guten Abend, seinem Bass fehlte es nach meinem Gehör an sonorer Tiefe, an samtenem Wohlklang und auch an genügendem Binden der Töne.
Was bleibt vom Tannhäuser musikalisch haften? Neben Wolframs Lied an den Abendstern Elisabeths Hallenarie, ihr Gebet „Allmächt’ge Jungfrau“ und Tannhäusers Romerzählung, vor allem aber die großartigen Chorszenen beim Einzug in Halle im zweiten und die Pilgerchöre im dritten Aufzug. Schon das Vorspiel zum Tannhäuser mit der Überleitung in den Venusberg führt grandios in Wagners Oper ein. Leider wird der Tannhäuser eher selten gespielt. Der Bedarf an guten Sängerinnen und Sängern ist in diesem Stück schon enorm. Vor allem aber scheint die Zahl der guten Tenöre für den Part des Tannhäuser auch international begrenzt zu sein.
Dr. Ralf Wegner, 2. März 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at