Foto: Alexey Dedov (Totzki), Valery Gilmanov (General Jepantschin), Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin), Petr Sokolov (Lebedjew) und Arnold Schoenberg Chor
Da hätten die Intendanten aufmerksam lauschen können und vor allem müssen; schon lange waren nicht mehr so viele beeindruckende Sänger zusammen auf einer Bühne zu erleben!
Musiktheater an der Wien, 3. Mai 2023
Museumsquartier Halle E
Mieczysław Weinberg, „Der Idiot“
nach dem Roman von Fjodor Dostojewski
Libretto von Alexander Medwedew
u.a. mit Dmitry Golovnin, Ekaterina Sannikova, Dmitry Cheblykov, Valery Gilmanov, Ksenia Vyaznikova.
Regie: Vasily Barkhatov
Arnold Schoenberg Chor
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Dirigent: Thomas Sanderling
von Herbert Hiess
„Die Zeit ist ein sonderbar’ Ding“ – das wusste nicht nur Hugo von Hofmannsthal bei seinem „Rosenkavalier“; das merkt man schon selbst, wenn man einen Rückblick in die Vergangenheit macht.
2016, als die Wiener Festwochen noch tatsächlich „Festwochen“ waren, konnte man eine recht interessante Produktion des polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg erleben, der in der Oper „Die Passagierin“ gekonnt die KZ-Gräuel von Auschwitz erzählte (hier zum Nachlesen: https://www.evolver.at/musik/Festwochen_Grafenegg_20160629/).
Jetzt konnte man im Museumsquartier, dem Ausweichquartier des Theaters an der Wien, die 2013 in Mannheim uraufgeführte Oper „Der Idiot“ sehen und hören. Der polnisch-jüdische Komponist hat eine sehr bewegte Vergangenheit hinter sich; er erlebte in voller Härte sowohl die Nazi- als auch die Stalin-Diktatur. Und irgendwie findet sich alles in seinen Werken wieder.
Die Oper „Der Idiot“, nach Fjodor Dostojewskis Roman verfasst, zeigt schon nach kurzer Zeit, wie irreführend dieser Titel doch eigentlich ist. Hier ist kein „Idiot“ im medizinischen System gemeint; hier ist ein grundgütiger und völlig naiver Mensch gemeint, der jedem aus seiner Umwelt nur helfen will. Heute würde man da vielleicht eher abfällig „Gutmensch“ sagen.
Die Handlung des Werkes ist recht komplex und hat viele Beziehungsstränge, wobei sich alles um Fürst Myschkin, der Zentralfigur der Oper, dreht. Banal gesprochen geht es hier um die unglücklichen Liebschaften des Fürsten; vor allem um das „leichte Mädchen“ Nastassja Iwanowna und um Aglaja, der Tochter eines reichen Generals.
Im Laufe der Handlung kristallisiert sich die Tatsache heraus, dass der Fürst eben kein „Idiot, sondern viel mehr wie nach der „Parzival“-Sage ein „Reiner Tor“ ist. Und das wurde in der Regie von Barkhatov wunderbar dargestellt und erzählt. In dieser Aufführung befindet sich der Fürst offenbar ständig im Zug auf der Reise. Er hat dabei seine Konversationen mit echten und falschen Freunden und vor allem bei den beiden Damen, die sich im Finale offenbar aus Eifersucht selbst bekämpfen.
Das zentrale Element auf der Bühne ist ein Eisenbahnwaggon, der dank der Drehbühne von beiden Seiten her zu sehen ist. Der Inhalt des Waggons ändert sich fast ständig und bietet fast nach jeder Drehung eine neue Perspektive, eine neue Szenerie.
Weinberg ist unter anderem als Komponist von Filmmusik bekannt geworden; das macht sich fast durchwegs bemerkbar. Das durchkomponierte Stück liefert fast ständig nur rezitativartige Einzelklänge, die meistens gar keinen Konnex zur Handlung hat. Natürlich hochprofessionell komponiert und instrumentiert. Längere Kantilenen sucht man fast vergeblich. Fast herausragend war da die Romanze der Aglaja aus dem dritten Akt.
Leider offenbarte diese Oper viele Längen; im Finale des vierten Aktes war kaum mehr eine Spannung zu spüren, wobei das sicher auch an der Komposition gelegen ist. Da merkte man, dass Weinberg vor allem in der Filmmusik zu Hause war. Alles professionell und eindrucksvoll komponiert; leider hat die Musik oft nicht zur Handlung gepasst. Und das erzeugte trotz der phantastischen Instrumentierung dann öfters Langeweile.
Aber herausragend der Chor und natürlich das ORF-Orchester; natürlich denkt man da an diese wahnsinnigen Gedanken bzgl. einer möglichen Auflösung des Orchesters. Selbst wenn man den ORF (berechtigterweise!) auflösen möchte; dieses großartige Orchester hat niemand anzurühren. Und auch hier bewiesen die Musiker sehr wohl, dass sie in einer Spitzenliga mitspielen können und vor allem müssen.
Abgesehen von dem Werk; die vorwiegend russischen Sänger waren allein den Abend wert. Stimmlich hat man da Weltklasseniveau gehört; hier könnten die Intendanten viele, viele Neuentdeckungen machen. Phantastisch der strahlende Tenor des Fürsten und die durchschlagsfähigen und -kräftigen Damen; beeindruckend war der schwarze Bass des Generals, gesungen von Valery Gilmanov. Er hat an den jungen Paata Burchuladze erinnert.
Da hätten die Intendanten aufmerksam lauschen können und vor allem müssen; schon lange waren nicht mehr so viele beeindruckende Sänger zusammen auf einer Bühne zu erleben!
Herbert Hiess, 10. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
CD-Besprechung – Mieczyslaw Weinberg: Wir gratulieren! klassik-begeistert.de
Buchbesprechung „Mieczysław Weinberg. Auf der Suche nach Freiheit“ klassik-begeistert.de