Mussorgsky, BORIS GODUNOW 2023 © Brinkhoff-Moegenburg
„Boris Godunow? Lassen Sie mich ausholen!“ (heimfahrende Operngängerin im 4er-Bus, Dienstag, 8. Oktober 2024, 22.13 Uhr)
Frei nach Heinrich Heine also:
Denk ich an Russland in der Nacht…
Modest P. Mussorgsky
Boris Godunow
Inszenierung: Frank Castorf
Bühne: Aleksandar Denić
Kostüme: Adriana Braga Peretzki
Licht: Rainer Casper
Video: Andreas Deinert, Severin Renke, Jens Crull, Maryvonne Riedelsheimer
Dramaturgie: Patric Seibert
Staatsoper Hamburg, 8. Oktober 2024
von Harald Nicolas Stazol
„Haben Sie die Handlung verstanden?“ frage ich die schicke Dame am Bus Stopp vor der Hamburger Staatsoper, da sind gerade die letzten Takte des Boris Godunow verklungen, in der die Augen so übergehend lassenden Inszenierung von Frank Castorf.
„Aber natürlich, wenn Sie mit in den Bus kommen, erkläre ich es Ihnen!“ – und wenn man sogar in einen falschen Bus einsteigt, um einer Mussorgsky-Expertin zu folgen, und sie anzuhören, dann ist wirklich Not am Mann – also ab mit ihr in den 4er-Bus, der zum Glück bis zum Bezirksamt Eimsbüttel parallel zu meinem 5er fährt, da ist die Dame dankbarerweise nicht mehr zu stoppen – nur soviel, es geht um den Zarenthron, Kronprätendenten, Usurpatoren, Kindsmord, es geht um Verschwörung und Intrige, um Glauben und Vertrauen, und um Volkes Stimme.
Gewalt allerorten: Politische Gewalt, emotionale, und nicht zuletzt eine nun wirklich außergewöhnliche Bildgewalt:
Da ist das gewaltig-grüne Atom-U-Boot 917, von dem Boris, ganz oben, frischgekrönt herabblickt, da ist die knallrote Mönchszelle, da ist die Art Deco Bar, dann die 5m hohe Statue – ich lüge nicht – „Der Triumph des Kommunismus“, ich mag mich irren, ich wähne die Bonzen, den Mann und die Frau mit hocherhobenen Armen und Fackel und Hammer und Sichel in St. Petersburg, denken Sie an Arno Breeker, die dann auf der wundersamen Brecht’schen Drehbühne in eine gigantische Coca-Cola-Flasche auf Eis gewandelt wird, und dies auf dem größten Louis Vuitton Koffer, den sich eine Oligarchin auf Opiaten nur ausdenken kann, 3x4x5 Meter, ich schwöre es.
„Über zwei Stunden ohne Pause“ kommen der Herr und ich draußen am Aschenbecher überein, “durchhalten“ – übrigens: Gustav von Aschenbach kommt eben daher, schwyzerisch „Aschebach“ – DURCHHALTEN????
Aber überhaupt keine Rede davon:
Es fegt einen schier weg.
Es ist traurig, und für mich jedoch füglichst luxuriös, in einem nur zu einem leichtbesetzten Saal in völliger Stille Atemberaubendes nach Atemberaubenderem zu hören und zu sehen, intim, wie selten, ein einziges Mal wage ich in die beeindruckbare hanseatische Stille ein tapfer-leises „bravo“ zu flüstern, und bilde mir ein, dass unser gewaltige Boris, Alexander Tsymbalyuk – aber Jungbrunnen immer, so nötig unseren Häusern, eine schwedische Schulklasse ist hier, voller Vorfreude, „Did you understand the plot?“ – „No, do you?“, vier lachende Greta Garbos Girls, schön, wie der Morgen, für mich wie das Urteil des Paris samt drei Göttinnen – und nun sind wir geographisch ja schon einmal am Rande des Geschehens.
Russland ist in Aufruhr, Iwan der Schreckliche (übrigens ein Übersetzungsfehler) ist seit 14 Jahren tot, und nun fleht das Volk nach einem neuen Herrscher. Ich habe in der Anfangsszene mehr russische Kokochniks gesehen, als im „Jewellery Room“ des Victoria&Albert Museum.
Kokoschniks, fragen Sie jetzt? Es sind Diademe, ja auch die russische Zarenkrone, nun im Kreml, haben die Kostümbildner hingezaubert (Adriana Brago Peretzki) – stupende, stupende. Das ganze Tableau erinnert an den letzten großen Ball vor der Revolution, 1913 im Winterpalast 300 Jahre die Dynastie der Romanow zu dem sich der gesamte Adel Juwel um Juwel in mittelalterliche Kostüme einarbeiten lässt – so jedenfalls denke ich mir diese große, letzte, dekadente Party. Ausstattungsfilm würde man es nennen können, wäre da nicht dessen Hammerscore von Mussorgsky!
Mein Liebling ist aber der blauhaarige Gottesnarr, authentisch, sie pilgerten nackt und in Fetzen durch das Reich – Russland ist groß, und der Zar ist weit – verehrt, wie Heilige, eine Glanzrolle für Florian Panzieri, und auch die Schankwirtin Aebh Kelly soll Erwähnung finden, nie wurden böse Gerüchte anmutiger gesungen – dass das ganze bildnerisch von Stalinismus über Perestroika zum Turbokapitalismus wird, versteht sich ja von selbst, bzw. so verstehe ich es.
„Meine handelnden Personen sollen auf der Bühne so sprechen, wie lebendige Menschen reden, aber dabei so, dass Charakter und Kraft der Intonation der handelnden Personen, gestützt vom Orchester, welches das musikalische Gewebe ihres Sprechens bildet, ihr Ziel erreichen, d.h., meine Musik soll die künstlerische Nachbildung der menschlichen Rede in allen ihren feinsten Biegungen sein, d.h., die Töne der menschlichen Rede, als äußere Erscheinungsform des Denkens und Fühlens, sollen, ohne Übertreibung und Zwang, zu einer wahrheitsgetreuen, genauen, aber künstlerischen, hochkünstlerischen Musik werden.“, schreibt der wohlhabende Gutsbesitzersohn, und, ich kann nur sagen, es gelingt ihm. Die Sprachdichte soll revolutionär sein, nun wünschte ich mir meine Freunde, den Russen Artem, und den Ukrainer Ruslan (sic!) zur Seite, kurzum:
Grausam ist sie, die Geschichte Russlands, und grausamer, als Boris Godunow vorgeworfen wird, den jungen Thronprätendenten Dimitri ermordet zu haben. „Litauen war ein Großreich, ein ernstzunehmender Gegner“ sprudelt die Dame im Bus weiter, ich nenne sie nur noch Mussorgskaya.
Man sieht das RIESENREICH eben auch auf zwei riesigen, digitalen Screens, da ist die Handlung auf links einrotierter Bühne in ein wunderbar purpurnes Billardzimmer verlegt, dass dem des letzten Zaren, Nicolas II, in Zarskoye Zélo sehr nahekommt, was aber auch den Uniformen zu schulden ist in ihrem grünen Zwirn und den Patronentaschen an der Brust, die schlussendlich spätzaristisch sind. Denn Schwupps, hat man den Zaren vor sich, als Frontispiz eines Bildbandes – „Boris Godunow von Puschkin, ja“ spricht Maman – man verzeihe mir, aber dieses Castorf-Karussell sollte man eigentlich, RECHT eigentlich, unter Quarantäne stellen: Vorsicht, Brainwashgefahr!
Ornat, Gold, ich weiß nicht, wie man die Ikonenbanner nennt, die Prozessionen reichbestickt vorangetragen werden, ich zähle in Hamburg mehr, als ein Dutzend – orthodox ja auch die Popen, und dann…
Jede Minute Faszinosum, (ich habe das Rauchen vergessen sogar) wie der Moskauer Staatszirkus läuft da ein phantastisches Programm ab, von der Ouvertüre an – meine französische Freundin Sophie „J’ai écouté! Sur le vélo! C’était magnifique!“ Man kann Naganos Orchester und ihn selbst gar nicht genug hochloben.
Wie gut der abtrünnige Mönch gesungen ward, heißt es Haltestelle Dammtor schon, und Universität/Staatsbibliothek, Doviet Nurgeldiev (sic! Und stimmlich wahrlich nicht mit Gold aufzuwiegen), am Grindelhof heißt es, „und eben die politische Situation, das Land in Chaos und Hungersnot. Auf der Bühne hat nur noch Putin gefehlt. aber das war wohl zu gefährlich.“
Und dann steige ich aus, nicht ohne einen formvollendeten Handkuss, was in einem wackelnden Bus nicht leicht ist.
Interessantes Aperçu: Das Werk, heute Abend ja in der Urfassung von 1868/69, wurde zunächst von der kaiserlichen Kulturakademie abgelehnt, weil zu wenige Frauen besetzt waren… zum Glück unser aller arbeitet man es heute um, und wir dürfen die höchsten Höhen der Marie Maidowski hören.
Frei nach Heinrich Heine also:
Denk ich an Russland in der Nacht, Modest mich um den Schlaf gebracht!
Harald Nicolas Stazol, 11. Oktober 2024, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Modest P. Mussorgsky, Boris Godunow Staatsoper Hamburg, 8. Oktober 2024
Modest P. Mussorgsky, „Boris Godunow“ Staatsoper Hamburg, 16. September 2023 PREMIERE
Boris Godunow, Oper von Modest P. Mussorgski Staatsoper Hamburg, 16. September 2023 PREMIERE