Foto: wikipedia.de (c) Musikfest Berlin
Philharmonie Berlin, 7. September 2018
Münchner Philharmoniker
Valery Gergiev
von Kirsten Liese
Es stimmt nachdenklich, wenn bei einem Auftritt der Münchner Philharmoniker in der Berliner Philharmonie viele Plätze leer bleiben. Immerhin hat sich dieses Orchester vor allem mit seinen Bruckner-Interpretationen seit der Ära Sergiu Celibidaches einen hervorragenden Ruf erworben.
Noch vor wenigen Jahren war die Nachfrage nach Bruckner beim Berliner Publikum so groß, dass Spitzenorchester mit einem vollen Haus rechnen konnten. Mag sein, dass angesichts des großen Angebots an Sinfoniekonzerten beim Berliner Musikfest der Bedarf etwas gesättigt ist, aber die Sorge, dass der Publikumsschwund mit einem Generationswechsel zu tun hat, lässt sich auch nicht ganz entkräften. Neben mir in Block B haben ein paar Oberschüler Platz genommen. Die Chance, ihnen diese geniale Musik näher zu bringen, wurde aber offenbar vertan. So wie einige von ihnen jedenfalls gelangweilt in ihren Programmheften blätterten, sieht es so aus, als habe niemand die jungen Menschen an Bruckners Neunte herangeführt. So hilft man der Jugend in punkto Klassik nicht auf die Sprünge, und ein bisschen störend wirkt die Unruhe auch für die Sitznachbarn, die sich der Musik hingeben und auf sie konzentrieren wollen.
Aber kommen wir zum Konzert selbst.
Als Bruckner-Interpreten genießen die Münchner einen hervorragenden Ruf. Vor allem zwei Dirigenten setzten mit ihren Einstudierungen Maßstäbe: Der geniale Rumäne Celibidache, der das Orchester von 1979 bis zu seinem Tod 1996 leitete, mit ihm seine klanglichen Ideale vervollkommnete und zu Bruckner hinführte, und Christian Thielemann in den Jahren 2004 bis 2011.
An diese beiden Granden reicht Valery Gergiev, der den Münchnern seit 2015 als Chefdirigent vorsteht, nicht heran. Er empfahl sich in Berlin als ein achtbarer, aber nicht herausragender Brucknerinterpret
Ungewöhnlich erscheint sein Auftreten ohne Taktstock und ebenerdig ohne Podest. Dass er die Neunte nicht auswendig dirigiert, stört nicht, da er glücklicherweise nicht an den Noten klebt, aber er taucht nicht tief genug in die Musik ein.
Bei langen Crescendi erreicht Gergiev zu schnell die Höhepunkte, zieht zudem in den Fortissimo-Passagen das Tempo zu stark an. Das Scherzo mit seinen dissonanten hammerharten Tonrepetitionen nimmt er fast doppelt so schnell wie einst Celibidache, an dessen Konzert- und Probenmitschnitte sich manch einer wehmütig erinnern mag. Damit betont Gergiev zwar den starken Drive der Musik, erweist ihr gleichwohl keinen Dienst, da unsere Ohren – wie der kompromisslose Celi treffend bemerkte- die massiven Klangmassen in der rasanten Geschwindigkeit schwer erfassen können.
Immerhin, im Lyrischen, besonders im finalen Adagio, pflegen Streicher und Holzbläser einen schönen runden, satten Klang und legen in die markante None den gebotenen Schmerz. Aber das Göttliche in dieser „dem lieben Gott“ gewidmeten Sinfonie will sich an diesem Abend nicht so recht offenbaren, nicht in den Übergängen von dramatischen Gipfelgängen in entlegene Tonarten, nicht in jenen Momenten, in denen die Musik in jenseitige oder sakrale Gefilde entrückt. Und auch die Generalpausen nach den dramatischen Abbrüchen wirkten bei einem Christian Thielemann weitaus spannungsgeladener. Um nicht missverstanden zu werden: An dieser Bruckner-Wiedergabe war viel Gutes und Schönes: makellose, herrliche Blech-Hymnen, aufwühlende Dramatik und streckenweise auch Momente von Beseeltheit. Magische Momente stellten sich jedoch nicht ein.
Wer soviel unterwegs ist wie der vielbeschäftigte Jetsetter Gergiev, dem fehlt es vielleicht auch an der inneren Ruhe und Gelassenheit, die eine solche Wiedergabe erfordern würde. Wie sagte doch der altersweise Celi so treffend: „Man macht nichts, man lässt geschehen.“
Der Neunten voran ging Bernd Alois Zimmermanns Kantate „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“, eine „Ekklesiastische Aktion“ für zwei Sprecher, Bass-Solo und Orchester. Ein düsteres Werk, das der Komponist 1970 als sein letztes Vermächtnis vor seinem Suizid schrieb. Zimmermann verbindet darin Auszüge aus der Erzählung „Der Großinquisitor“ aus Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“ mit dem vierten Kapitel des Predigers Salomon aus dem Alten Testament.
Wie alle späteren Werke des von der Kriegszeit traumatisierten und schwer an Depressionen leidenden Komponisten, bestimmt es eine bedrohliche Endzeitstimmung. Unrecht, Leiden und Einsamkeit sind die Themen des Stücks, bei dem die Musik weitgehend zur Untermalung der gesprochenen Texte dient.
Dem umfangreichsten Part gibt der bayerische Schauspieler Josef Bierbichler Gewicht, vor allem aus dem Kino bekannt und als Regisseur seines Films „Zwei Herren im Anzug“ ebenfalls ein packender Geschichtenerzähler. Mit mächtiger Stimme und herrischem Ton gibt er furchteinflößend den spanischen Großinquisitor, der den schweigenden Jesus verhört und anklagt, nicht zur Verbesserung der Welt beigetragen zu haben.
Michael Rotschopf verkündet seine kürzeren Bibeltexte treffend salbungsvoll wie ein Prediger von der Kanzel, allerdings könnte einem angesichts der unheilvollen Texte auch jener suspekte Pastor aus Kafkas Roman „Der Prozess“ in den Sinn kommen. Wenn sich zu den Sprechern bisweilen der Bariton Georg Nigls gesellt, sind die einzelnen Worte kaum noch zu verstehen, aber die unheilvolle Stimmung, in die sich alle Mitwirkenden zusehends auch dynamisch hineinsteigern, vermittelt sich auch so. Zum Ende hin, wenn von Menschenfresserei die Rede ist und sich alle gegenseitig immer lauter anschreien, baut sich eine aufgeheizte, aggressive Stimmung auf, die an polarisierende Demonstranten erinnert. Da wirkt das aufwühlende Stück aus dem Jahr 1970 plötzlich ganz aktuell. Das haben offenbar auch die jungen Zuhörer neben mir begriffen, die schienen immerhin da ganz wach und aufgewühlt.
Kirsten Liese, 8. September 2018 für
klassik-begeistert.de