Photo: The Philadelphia Orchestra, Yannick Nézet-Séguin, Music Director, 2022 European Festivals Tour Rehearsal © ToddRosenbergPhotography 2022
Noch sind wir am Beginn des Berliner Musikfests, und schon gastiert dort das erste zweier Spitzenorchester aus den USA, mit selten gespieltem Repertoire.
Philharmonie Berlin, 1. September 2022
Antonín Dvořák (1841-1904) – Karneval (Konzertouvertüre für Orchester op. 92)
Karol Szymanowski (1882-1937) – Violinkonzert Nr. 1 op. 35
Florence Price (1887-1953) – Sinfonie Nr. 1 e-Moll
The Philadelphia Orchestra
Lisa Batiashvili, Violine
Yannick Nézet-Séguin, Dirigent
von Brian Cooper, Bonn
Der Begriff Big Five für „die“ fünf amerikanischen Spitzenorchester, darunter das Philadelphia Orchestra, ist inzwischen nach einhelliger Meinung obsolet geworden, denn auch in Kalifornien und im mittleren Westen gibt es hervorragende Orchester; allein in Pennsylvania gibt es ja noch das Pittsburgh Symphony Orchestra, und wer mag, kann derzeit auch diesen Klangkörper in Europa hören, denn der Bundesstaat ist gerade mit beiden seiner sinfonischen Aushängeschilder in Europa zu Gast.
Das Philadelphia Orchestra gastierte am 1. September mit seinem Music Director Yannick Nézet-Séguin in der Berliner Philharmonie, und das Bemerkenswerte an dem Abend waren nicht etwa der stupende Klang und die beachtliche Virtuosität dieses Sinfonieorchesters, die man ja gewohnt ist – verwöhnt, wie man ist –, sondern vielmehr das außergewöhnliche Programm. Auch deshalb wählte ich dieses Konzert für meine seit 2005 alljährliche Reise zum Musikfest.
Die Sinfonien von Florence Price sind für mich die Entdeckung des Konzertjahres 2022, denn ich kannte sie bislang schlichtweg nicht. Frisch auf dem Markt ist eine CD der Sinfonien 1 und 3 mit dem Philadelphia Orchestra, und die Erste wurde in Berlin gespielt und mit einhelligem Jubel sowie Zwischenapplaus nach allen Sätzen bedacht, was den Eindruck erweckte, man habe es weniger mit einer viersätzigen Sinfonie zu tun, als vielmehr mit, zum Beispiel, Four Places in Arkansas – in Anlehnung an Ives’ Three Places in New England. Florence Price wurde 1887 übrigens in derselben Stadt geboren wie der frühere US-Präsident William Jefferson Clinton, in Little Rock.
Das Werk ist geistesverwandt mit Dvořáks Neunter, ebenfalls in e-Moll, und so hörenswert diese oft gespielte Sinfonie des Tschechen auch ist, so lohnenswert ist es, auch mal eine Sinfonie der Afroamerikanerin Florence Price zu programmieren. Vor den beiden Zugaben des Orchesters, darunter Adoration von Florence Price, gab Yannick Nézet-Séguin eine amüsante kurze Ansprache mit dem subtilen Hinweis, auch die Berliner Philharmoniker könnten sich ja mal dieser Musik annehmen. Kirill Petrenko kann man indes nicht vorwerfen, er spiele in seinen Konzerten nur die einschlägigen Schlachtrösser, denkt man etwa an Rudi Stephan und Josef Suk. Letzterer wurde auch in jüngster Vergangenheit beim Musikfest gespielt, und außergewöhnliches Repertoire, verbunden mit viel Moderne, ist ja ein Charakteristikum des Musikfests, wenn nicht gar ein Alleinstellungsmerkmal.
Den Dirigenten und die Solistin des Abends, Lisa Batiashvili, verbindet eine langjährige musikalische Partnerschaft. Man sei seelenverwandt, heißt es bisweilen in Interviews, und dass man leidenschaftlich gern gemeinsam musiziert, steht außer Frage.
In Berlin gab man nun Karol Szymanowskis Erstes Violinkonzert. Selten genug zu hören. Einigen mag er zu sperrig klingen, aber der nach Chopin vielleicht bekannteste polnische Komponist hat eine ganz eigene Klangsprache, in die man vorurteilsfrei eintauchen sollte. Die Geige ist ins Geschehen eingebettet, Harfe und Celesta schaffen sphärische Klänge, und wenn es laut wird, ist man schon ein wenig bei Scriabin.
Paweł Kochańskis Kadenz erzeugte unter der atemberaubenden Bogenführung der Solistin eine absolute Stille im Saal, wie ich sie schon einmal mit ihr in Köln erlebt hatte (dasselbe Orchester mit demselben Dirigenten, damals mit dem a-Moll-Violinkonzert von Schostakowitsch).
Doppelgriffe, spiccato, hohe Lage: alles traumwandlerisch sicher, wie man es von Lisa Batiashvili gewohnt ist. Zum Applaus war wieder ein Yannickscher Kniefall vor der Solistin fällig – eine Geste, die er zum Amüsement des Publikums immer gern mal macht.
Sehr schön gelang auch die e-Moll-Zugabe, mit dem Dirigenten am Klavier und der Geigerin durchweg con sordino: Ich tippe auf Debussys Beau Soir.
Normalerweise halte ich es für überflüssig, das Outfit von Künstlern und schon gar von Künstlerinnen zu kommentieren – in fast jeder Yuja-Wang-Kritik steht zum Beispiel, was sie anhatte, und es ist so ermüdend. Interessant war jedoch das subtile Solidaritätsstatement der Georgierin Lisa Batiashvili mit den Menschen in der Ukraine. Der blaue Rock und das gelbe Top waren bestimmt nicht zufällig aufeinander abgestimmt.
Zu Beginn des Abends gab es Dvořáks Ouvertüre Karneval, ein gern gewählter, schwungvoller Renner im Konzertsaal, mit etwas zu viel Tschingderassabum für meinen Geschmack, aber wenn sie so mitreißend gespielt wird wie vom Philadelphia Orchestra, wünschte man sich in der jecken Jahreszeit in den Straßen Kölns und Düsseldorfs ähnliche rhythmische Präzision und Musikalität…
Interessant auch die Vielzahl von Maskenträgern innerhalb des Orchesters. Bedenkt man die – offiziell Covid-bedingte – Absage der Tournee des Boston Symphony Orchestra im vergangenen Mai, hat vielleicht auch eine solche Vorsichtsmaßnahme einen kleinen Beitrag geleistet, dass wir auch in Pandemiezeiten ein amerikanisches Spitzenorchester hören dürfen, das in vielen europäischen Musikmetropolen gastiert.
Man verließ beschwingt die Philharmonie!
Dr. Brian Cooper, 4. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
The Cleveland Orchestra Franz Welser-Möst Dirigent Philharmonie Berlin, 3. September 2022
Ludwig van Beethoven, Missa Solemnis Philharmonie Berlin, 31. August 2022