„Das wirst Du so nie wieder hören!!!“ – Anna Vinnitskaya spielt Rachmaninow, dass es einem den Atem verschlägt

NDR Elbphilharmonie Orchester, Anna Vinnitskaya, Juraj Valčuha  Elbphilharmonie, 14./15. September 2023

Anna Vinnitskaya © Marco Borggreve

Elbphilharmonie, 14. September 2023

Sergej Rachmaninow (1873 – 1943)
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 4 g-Moll op. 40
Entstehung: 1926; revidiert 1927/1941 / Uraufführung: Philadelphia, 18. März 1927

Sergej Prokofjew
Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100
Entstehung: 1944 | Uraufführung: Moskau, 13. Januar 1945

Elbphilharmonie, 15. September 2023

Sergej Rachmaninow  (1873 – 1943)
Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 c-Moll op. 18

Sergej Prokofjew
Sinfonie Nr. 5 B-Dur op. 100

BESETZUNG

NDR Elbphilharmonie Orchester

Anna Vinnitskaya Klavier
Dirigent Juraj Valčuha

von Harald Nicolas Stazol

„Das wirst Du so nie wieder hören!!!“, flüstere ich meinem Mündel, Maurice, 16, zu – er darf mich heute in die Elphi begleiten, vielmehr ich ihn – da hat die Vinnitskaya eben so dermaßen in die Tasten gehauen, Rach 2, DAS Konzert für mich, dass einem Angst und Bange wird, obwohl meiner Sitznachbarin nun das 4. Klavierkonzert für das noch Schönere gilt, „aber ich finde es heute Abend nicht, obwohl es im Programmheft eingedruckt ist?“ – „Das war gestern“ ächze ich, es treibt mir die Tränen in die Augen, ich war am Donnerstag nicht da, obwohl ich heißumkämpfte Karten hatte!

Ich wusste es nur nicht! Es dürfte einer der schlimmsten Fehler meines Lebens gewesen sein, gleich neben das plötzlich freie Hotelzimmer am Grand Canyon nicht zu nehmen – oder dem Ruf der Vogue als Chefreporter nach München nicht nachgekommen zu sein…

Ich blieb in Hamburg. Um eben – Gott sei Ehr und Preis! – einen segensreichen Freitagabend wie diesen erleben zu können und zu dürfen, ich wage zu sagen, einen der Schönsten meines Lebens.

Anna Vinnitskaya. Sie hat etwas von der Königin der Dunkelheit, wie sie da in weit sich fächernder Robe, in Silber und Schwarz einschwebt, ehrfurchtgebietend, und eben einer Schleppe, einem Umhang fast, dass man denkt, die schöne Mrs. Dracula betritt den Raum – Martin Scorsese selbst müsste jetzt nur noch „Cut!“ rufen, so filmreif ist die Szene.

Und das ist schon der Anfang! Man kennt die leis-zarten Anfangsakkorde, das vielleicht berühmteste Thema der russischen Klaviergeschichte, dieses einmalige „Dam — Dom“ pianissimo, „Dam ———- Dom“ piano, bis das Orchester übernimmt, und zu der Melodie übergeht, die so tief volkstümlich klingt und authentisch, tatsächlich aber Sergej Rachmaninoff ersonnen hat, will sagen, er hatte eine göttliche Eingebung.

Denn durch Gottes gnädige Fügung wurden meine Gebete erhört und die Direktion hat uns Plätze verschafft, die meinem Binocular freie Sicht auf ihre begnadeten Hände lassen, diese Wunderhände, die in den schnellsten Passagen wirbeln wie Hurricane Katrina und bei den hingehauchtesten die Tasten fast gar nicht berühren.

Diese Frau ist ein Phänomen, nein, eine Naturgewalt, diese allerzierlichste unter den Pianistinnen, man erinnert sich, die jüngere Anna Fedorova und ihren Rachmaninoff habe ich andernorts analysiert:

https://www.spiegel.de/kultur/musik/anna-fedorova-interpretiert-rachmaninow-das-mysterium-der-fliegenden-finger-a-b1d44644-636f-4a08-a514-2e52f3f912c5

Kein Vergleich! Aber warum auch vergleichen? Vinnitskaya lässt mich Emil Gilels vergessen und sogar Ashkenazy – nun gut, Svjatoslav Richter steht natürlich über allen, aber die wahre Zarin ist und bleibt Tatjana Nicolajewna, und da hören wir sie, die gestrenge Russische Schule, in aller ihrer Virtuosität – aber ich denke, alle dieser Tastengenies wären gerade sehr angetan, Richter natürlich wie immer schlecht gelaunt.

Ich lasse mein rotes Notizbuch, auf dem in silberner Prägung passenderweise „Therapy Notes“ steht, nun einfach sinken. Blättern, Notieren und auch der leiseste Kuli verbieten sich jetzt, und irgendwann habe ich vergessen, schon in der Hälfte des so wundervollen 1. Satzes, dass ich es überhaupt in Händen halte… Maurice hat in stiller Versenkung seine Hände bewegungslos artig auf beide Knie gelegt und rührt sich nicht mehr die nächsten 30 Minuten.

Juraj Valčuha © Luciano Romano

Nun zum Dirigenten: Juraj Valčuha. Ich korrigiere mich – Juraj Valčuha!!!

Dieser Mann im Gehrock vermag es, er erinnert wirklich an einen schlank-ranken Schulmeister, seine feinen Hände über das Orchester mal schweben zu lassen, oder tatsächlich die Andeutung eines Flüsterns am Munde auszuführen, in einer Weise und Handschrift, die mir in ihrer mühelosen, sparsam ausgeführten Disziplin eine wirklich beachtlich-erinnernswerte Leistung darstellt.

Denn nun sind wir mittendrin, in Sergej Prokofiews 5. Symphonie, dem Opus 100, uraufgeführt an dem Tage, als es der Roten Armee im „Großen Vaterländischen Krieg“ (endlich) gelingt, in Ostpreußen durchzubrechen. Hitlers Todessstoß. Zur Beschreibung dieses Opus Imperium, dem Zenit des Erfolges des Komponisten, verweise ich auf die hochgeschätzte Kollegin, Dr. Juliane Weigel-Krämer, die in einem brillanten Essay im schön gestalteten Programmheft Grundlagen und Wesen der Sinfonie beleuchtet, die mit dem „Triumph des menschlichen Geistes“ überschrieben und durchwoben ist. Solches Expertentum, dass man füglichst sich verneigend in zweite Reihe zurücktreten muss…

Nun misst man das NDR Elbphilharmonie Orchester am Staatsorchester der UDSSR, von dem der Goldstandard aller Aufnahmen ausgehen muss – der Tonqualität nach zu urteilen aus den 50ern – die man auf YouTube finden wird:

https://music.youtube.com/watch?v=oeas4kauHLo&si=LmNXVlHXIWuw6Pt6

Ich glaube, nachdem ich mir die Fünfte schon Tage zuvor zehnmal erschlossen habe – nun erst, da ich fürchten muss, unser riesiger Zapfen von Lautsprecher der Philharmonie fällt gleich runter und erschlägt das halbe Parkett – nun erst verstehe ich sie.

Und ich werde sie nocheinmal verstehen. Den „Triumph des menschlichen Geistes“.

Auf dem Heimwege habe ich sie nocheinmal auf Headset, erst beim Spazieren zu den Landungsbrücken, und dann in der S-Bahn: Da liegt er über den Menschen, die ich hier sehe, vom adretten, händchenhaltenden Pärchen am Altonaer Bahnhof, zum runtergekommenen, bemitleidenswerten Mann, der im Waggon um Essen bettelt – und der jungstrahlend-lachenden Hockeymannschaft dann, und den beiden Partygirls, deren Haare gestylt sind, als seien sie die Carmen(s) meiner Heimat, dem „Zylinderviertels“, und dem indischen, dösenden, erschöpften Rosenverkäufer.

Une Soirée Russe éxtraordinaire, je voudrais dire, ein russischer Abend, köstlich wie Beluga aus dem Kaspischen Meer, auf Eis – meine geliebten Russen eben!

Harald Nicolas Stazol, 17. September 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Rachmaninoff, mon Amour – Teil 7 klassik-begeistert.de

Rachmaninoff, mon Amour – Teil 6 klassik-begeistert.de

Rachmaninoff, mon Amour – Teil 5

Rachmaninoff, mon Amour – Teil 4 klassik-begeistert.de

Rachmaninoff, mon Amour – Teil 3 klassik-begeistert.de

Serie: Rachmaninoff, mon Amour (Teil 2) klassik-begeistert.de

Serie: Rachmaninoff, mon Amour (Teil 1) klassik-begeistert.de

 

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